Rilke und das Emmental

Rätus Luck, Rilkeforschung

"Ein kleines Dörfchen zuhinterst im Emmental"

Im Februar 1926 traf im Turm von Muzot (Château de Muzot oberhalb Siders im Wallis, Wohnsitz von Rilke ab Sommer 1921) eine Sendung aus dem Biembach ein. Die damalige Biembacher Lehrerin, Li Imer, eine Rilke-Verehrerin, hatte ihren Schülern eine von Rilkes Geschichten vom lieben Gott vorgelesen und dann die älteren Mädchen und Buben an den Dichter schreiben lassen - über diese Lektüre und um ihm zum 50. Geburtstag zu gratulieren. Ein Paket mit 19 Schüler-Briefen und Begleitbrief von Frau Imer gelangten also aus einem Dörfchen zuhinterst im Emmental, wie eine der Schülerinnen schrieb, nach Siders im Rhonetal.

Was nach so vielen Jahrzehnten kaum möglich oder doch sehr unwahrscheinlich schien, ist dank der Bemühungen von Herrn Christian Siegenthaler, Schulleiter der Schule Biembach, gelungen, nämlich bei zwei der damaligen Biembacher Schülerinnen die Antworten aufzufinden, die Rilke ihnen geschickt hat. Man darf durchaus von einer kleinen Sensation innerhalb der Rilke-Forschung sprechen: Solche Funde sind, auch wenn Rilke ein grosser Briefschreiber war, selten geworden.

Nach Auskunft der einen Adressatin sind von den 19 damaligen Mitschülern und Mitschülerinnen 12 verstorben; die andern haben die Karte nicht mehr und konnten sich auch nur ganz dunkel daran erinnern. Die beiden Empfängerinnen haben die Rilke-Geschichte noch klar im Gedächtnis; für beide war der Anwortbrief von Rainer Maria Rilke sehr wichtig und ist es geblieben.

Nachfolgend die Briefe der beiden Schülerinnen und die Antworten Rilkes:

Hof Iseli im Löchli von 1809, Foto Alfred G.Roth, September 1956

Berta Iseli an Rainer Maria Rilke

Biembach, den 9. Februar 1926

Sehr geehrter Herr Rilke,

Unsere Lehrerin las uns eine schöne Geschichte vor aus dem schwarzen Büchlein, auf dem goldene Buchstaben stehen. Die Geschichte war von einem Fingerhütchen, das der liebe Gott sein sollte. Die Lehrerin sagte uns, Du wohnst im Wallis auf einem Hügel. Ich wünsche Dir viel Glück zum 50. Geburtstag. Wenn ich gross bin, komme ich vielleicht einmal dazu, zu Dir zu kommen. Ich bin nicht gross, und gehe in die 6. Klasse. Ich wohne im Biembachlöchli, nicht weit vom Schulhaus entfernt.

Viele Grüsse von Berta Iseli

Briefkarte mit Foto des Château de Muzot, Westeite, mit Schweizer Fahne

R.M.Rilke an Berta Iseli

Muzot, 18.6.1926

Das ist nun gerade mein aller- allerletztes Bildchen von meinem Hause, das ich für Dich, liebe kleine Berta Iseli, auf diese Karte geklebt habe. Ich hoffe, es gefällt Dir gut. Die schöne rote Schweizer Flagge weht so fröhlich auf dem Dach! Die bleibt freilich nicht immer aufgezogen und wird nur gehisst, wenn einmal ein lieber Besuch kommt. Zum Beispiel, wenn Du mich einmal besuchst oder sonst eines von euch Kindern, so weht sie sicher, nur müsst ihrs vorher ansagen!

Sei mir dankbar gegrüsst

Rainer M. Rilke

Hof Grat, Haus von 1789, Speicher um 1750, Foto Alfred G. Roth

Elisabeth Locher an Rainer Maria Rilke

Biembach, den 9. Feb. 1926

Lieber Herr Rilke!

Ich kenne Dich schon, aber ich denke Du kennst mich nocht nicht. Die Lehrerin hat uns schöne Gschichten erzählt aus dem schwarzen Büchlein, das auf dem Deckel mit goldenen Buchstaben gedruckt ist. Die Geschichte vom lieben Gott im Fingerhut hat sie uns erzählt, sie ist sehr schön. Es freute mich gewaltig. Ich danke Dir für die Geschichten alle. Ich wünsche Dir Glück zum 50. Geburtstag. Wenn ich gross bin, so will ich viel von Deinen Büchern lesen.

Ich bin im Biembach und Biembach ist ein kleines Dörfchen zuhinterst im Emmental. Ich habe blondes Haar und bin in der vierten Klasse. Ich bin fast das grösste von meiner Klasse.

Es grüsst Dich freundlich Elisabeth Locher, Grat, Biembach

Rainer Maria Rilke an Elisabeth Locher

Du hast mir einen sehr schönen Brief geschrieben kleine (schon so grosse!) blonde Elisabeth Locher Grat: Du kannst Dir denken, wie es einen freut, wenn man einmal so eine Geschichte aufgeschrieben hat, und es begiebt sich, dass sie auch wirklich, durch das Erzählen einer lieben Lehrerin, viele Jahre später vor gute Kinder kommt und ihnen sogar gefällt! Da bleibt gar nichts zu wünschen übrig.

Lass Dir also einen herzlichen Gruss sagen von

Rainer Maria Rilke

Rilke hat auch Li Imer geantwortet; sein Brief ist aber verloren oder zur Zeit nicht lokalisierbar. Li (Lina) Imer, 1900 geboren und im Lehrerinnenseminar Marzili ausgebildet, versah 1926 im Biembach eine Stellvertretung. Sie heiratete 1930 den Lehrer, Schriftsteller und Astrologen Alfred Fankhauser (1890-1973), der sich in den frühen 20er Jahren ebenfalls mit Rilke beschäftigte; sein Aufsatz Rainer Maria Rilke beginnt mit dem denkwürdigen Satz: Wer den Mann sieht, ist enttäuscht. Li Imer ist im Dezember 1953 gestorben.

Dank von Rätus Luck: Herzlich danken möchte ich sozusagen in chronologischer Folge: Herrn Christian Siegenthaler, Schulleiter der Primarschule Biembach, für seine Spurensuche, Frau Elisabeth Locher, Hasle, Frau Berta Gerber-Iseli und ihrer Tochter, Frau Elsbeth Werren, Hermiswil/Seeberg, für freundliche Auskunft und für die Kopien ihrer Rilke-Briefe und Frau Eva Imer, Lehrerin in Alchenstorf (wo ich vor Jahrzehnten selbst einmal eine Stellvertretung an der Primarschule hatte), für die Hinweise betreffend ihre Tante Li Imer.

Schlussbemerkung: Das ganze Dossier mit den 19 Briefen in gelbem Umsschlag mit der Aufschrift Herrn Rainer Maria Rilke/von einem kleinen Schulmeisterlein, das den Malte sehr lieb hat befindet sich im Rilke-Archiv des Schweizerischen Literaturarchivs in der Schweizerischen Landesbibliothek in Bern.

(Aufgeschrieben nach dem Burgdorfer Jahrbuch von 1996 von Christian Siegenthaler am 30.4.2003)

Zurück zur Auswahl

Zurück zum Inhaltsverzeichnis