Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
Anfangs des 20. Jahrhundert galt der Entwicklungsroman in der deutschen Literatur als die Endform des Romans, nichts war vollkommener. Mit "Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull" wollte Thomas Mann diese Romanart parodieren, in dem eine Person nur scheinbar von anderen beeinflusst wird.
Er begann schon 1905 die ersten Gedanken dafür zu sammeln. Sechs Jahre später erschien das erste Buch. Während den nächsten 50 Jahren schrieb Mann immer wieder am Roman. Dieser Roman sollte eigentlich ein Monumentalwerk werden, da Thomas Mann aber starb, bevor er den Roman fertig schreiben konnte, bleibt dieser ein Fragment. Der Roman hat fast 400 Seiten, wenn er seine Ideen, wie später beschrieben, so genau geschrieben, wie er die ersten drei Teile behandelt hat, hätte dieser Roman mind. 2000 Seiten, wenn nicht noch mehr gehabt.
Auch wenn der Roman nur ein Fragment ist, hat er trotzdem ein paar sehr
interessante Ideen.
Thomas Mann wurde 1875 in Lübeck geboren. 1891 starb sein Vater.
Thomas Mann wurde 1898 Redakteur des Simplicissimus. 1905 heiratet er seine
Frau Katia. Im Jahr darauf schrieb er die ersten Notizen zum Krull. 1911
erschien das erste Buch des Krull. 1912 schrieb er daran weiter. Zwei Jahre
später verkrachte er sich mit seinem Bruder Heinrich. Nach seinem
Bekenntnis zur Weimarer Republik 1922 versöhnte er sich mit seinem
Bruder. 1929 erhielt er den Nobelpreis. 1936 wurde ihm seine Doktorwürde
aberkannt, darauf gab er seine deutsche Staatsangehörigkeit auf und
nahm dafür die tschechische an. 1938 floh er in den USA und blieb
dort bis 1952. 1944 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft.
Ab 1952 wohnte er in der Schweiz in Küsnacht bei Zürich. 1953
schrieb er weiter am Krull, dieser erschien 1954 in seiner jetzigen Fassung.
1955 starb er. Es ist zu bemerken, dass alle seine Geschwister durch Suizid
dahingeschieden sind.
Andere Werke: Buddenbrooks (1901), Tod in Venedig (1912), Der Zauberberg
(1924), Der vierteilige Joseph-Roman
In diesem Buch erzählt Krull seine Kindheit. Man erfährt,
dass er im Rheingau wohnt, und dass sein Vater ein Sektproduzent ist. Er
ist nicht gerade ein aufgewecktes Kind, aber er hat alles, was er braucht,
da seine Familie sehr reich ist. Krull spielt besonders gut Geige und wird
deshalb bestaunt. Auch wichtig für ihn ist sein erster Theaterbesuch,
nach dem Stück geht er mit seinem Vater einen der Schauspieler besuchen,
was ihn sehr beeindruckt. Anschliessend erfahren wir, dass Felix schnell
die Unterschrift seines Vaters zu fälschen lernt. Er mag die Schule
nicht so und lernt dabei zu simulieren, um sie nicht besuchen zu müssen.
Er ist so gut dabei, dass die Ärzte glauben, er sei tatsächlich
krank, da sie nicht genau wissen, was ihm wirklich fehle. Danach berichtet
Krull über seinen ersten Diebstahl. Er stiehlt Süssigkeiten,
er wiederholt es danach ziemlich oft, aber nimmt immer nur so viel, dass
niemand es merkt. Einige Zeit später heiratet seine Schwester Olympia
einen Leutnant Übel. Allmählich geht es der Sektfabrik immer
schlechter, die Familie wird immer ärmer. Eines Tages, fünf Monate
nach Konkursbeginn, erscheint der Vater nicht zum Essen. Olympia findet
ihn tot. Er hat Selbstmord begangen.
Am Anfang des zweiten Buches wird Felix‘ Vater beerdigt. Da Selbstmord eine Sünde ist, wird der Öffentlichkeit gesagt, dass er durch falsche Handhabung der Pistole gestorben sei. Einige Tage nach der Beerdigung wird eine Familienkonferenz mit Pate Schimmelpreester über die Zukunft abgehalten. Dabei wird entschieden, dass Olympia ins Singgeschäft einsteigt. Für Felix wird entschieden, dass er eine Hotellaufbahn anfangen sollte, doch zuerst müsse abgeklärt werden, ob er ins Militär gehe oder nicht. Einige Wochen später zieht er mit seiner Mutter nach Frankfurt, um dort eine Pension aufzumachen. Mehrere Monate später ist endlich der Tag der Aushebung da. Er muss dort den halben Tag warten, bis er an die Reihe kommt. Mit einigen Tricks und klugen Sprüchen wird er ausgemustert.
Nach diesem Sieg konnte er sich endlich seiner Karriere widmen. Eines
Tages tritt er die Reise nach Paris an, wo er zukünftig arbeiten soll.
Am Zoll stiehlt er den Schmuckkoffer einer Frau. In Paris angekommen geht
er ins Hotel. Dort wird er in den schlechtesten Schlafraum zugewiesen.
Am nächsten Tag muss er sich beim Generaldirektor Stürzli, Schimmelpreesters
Freund, vorstellen. Krull erhält ein Liftboyjob. Gleichzeitig erhält
er einen neuen Vornamen, da Felix dem Direktor nicht passt, von jetzt an
heisst er Armand. Später trifft er im Lift die Dame Madame Houpflé,
welche er das Schmuckkästchen gestohlen hat. Am Nachmittag verkauft
er den Schmuck. Einige Tage später trifft er sie wieder, sie möchte,
dass er nach seinem Dienst zu ihr ins Zimmer kommt. Das macht er auch.
Anschliessend wird es ziemlich heiss im Zimmer, und zum Schluss total pervers.
Mögliche Fortsetzung
Da Thomas Mann starb, bevor er den Roman fertig schreiben konnte, bleibt er ein Fragment. Es gibt allerdings Notizen und Aufzeichnungen, wie er fortgesetzt hätte werden sollen:
Krull wäre nach Argentinien gereist, wie vorausgeplant. Anschliessend
nach Rio de Janeiro, danach in den USA, über den Pazifik in den Osten,
nach Ägypten, Konstantinopel und anschliessend nach Rom, wo er den
Papst getroffen hätte. Anschliessend wäre er nach Paris zurückgekehrt.
Dort wäre er ein Hoteldieb geworden. Er wird verhaftet, seine Frau
stirbt, er darf an sein Sterbebett, irgendwie entkommt er und geht nach
England. Dort lebt er vom Erbe seines Paten, mit 40 schreibt er seine Bekenntnisse
nieder.
Der Roman wird von der Ich-Perspektive erzählt, d.h. Krull erzählt sein Leben, und kommentiert es andauernd. Am Anfang hat es eine Einleitung, er schreibt, wie er seine Memoiren aufschreiben wird. Er sagt auch, dass er sehr müde ist, und deshalb viele Pause einlegen wird.
Seine Kommentare sind allerdings nicht kritisch, sondern Krull preist sich meist dauernd an, was auf seinen Narzissmus zurückzuführen ist. Es gibt ein erzählendes Ich und ein erlebendes Ich. Beide stehen im Konflikt, es führt oft zu Paradoxen und schliesslich zur Selbstauflösung. Mit der Zeit gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Moral und Wahrheit, das ist für Krull auch nicht wichtig, da er keinen Konkurrenten hat, der auf die Wahrheit beansprucht.
Krulls Erzählung hat die Lüge zur Weltordnung gehoben.
Die Erzählzeit spielt 20-40 Jahre nach der Erzählten Zeit.
Auch hat diese keinen Einfluss auf die vorherige, da sich Krull während
des Erzählens nicht weiter entwickelt. Der alte Krull erscheint nur
am Anfang des ersten und zweiten Buches.
Felix Krull: Er ist die Hauptfigur des Buches. Er ist auch der Erzähler der Geschichte.
Zuerst denkt er nur für sich, dann an die anderen. Er ist also ein Egoist. Wenn jemand etwas anrichten könnte, was negativ wäre, dann schmeichelt er sich bei ihnen, indem er dieser mit viel zu hohen Titeln anspricht. Er ist ein grosser Charmeur, viele Frauen und Männer möchten ihn haben.
Das ganze Buch dreht sich um ihn, es soll ja ein "Entwicklungsroman" sein, es ist seine Person, die sich entwickelt. Aber da es eine Parodie ist, entscheidet diese Figur selbst, was sie macht und wird kaum durch die anderen beeinflusst, wie sie sich entwickelt, aber schon was er machen soll. Er wird in die Welt gesetzt, ohne dass eine Erziehung ihn darauf vorbereitet hätte. Wie gesagt, werden alle Entscheidung durch ein Ich gemacht und werden weder durch Erfahrung, Erziehung noch der Gesellschaft geprägt. Er wird von der Gesellschaft ignoriert, es bewirkt aber keine Einsamkeit, sondern er entwickelt zu einem Narzissmus.
In gewisser Weise ist Krull auch ein Schelm, der die meisten Situationen mit Witz löst.
Krull soll auch eine Parodie und Allegorie des Künstler darstellen, dieser Aspekt ist heute weniger verständlich, als zur Zeit als der Roman angefangen wurde. Künstler und Bürger bildeten einen Antagonismus. Da zu dieser Zeit viele Spannungen herrschten und gewisse Ideen, wie Sozialdarwinismus, sich entwickelten, zogen sich viele Künstler zurück, da sie geschockt waren. Der moderne Künstler ist einer, der so tut als wäre er jemand Geniales.
In seinen ersten als Auftritt als Künstler, er spielt Geige, verblüfft Krull alle Zuschauer, besonders mit Hilfe seiner Mimik.
Krull ist auch ein Narzist, d.h. er ist in sich selbst verliebt. Bei Krull ist der Narzissmus nicht pathologisch, auch nicht die Bedienung seines Scheiterns, sondern der Grund seines Gelingens. Diese Selbstliebe stösst nicht auf Kritik, weil er vorlebt, wovon die anderen nur träumen. Als Geliebter und nicht als Liebender geniesst er die Gefühlsfreiheit der Selbstgenügsamkeit. Wie Mücken taumeln sich Männer und Frauen ins Licht seiner Schönheit. Keine erotische Beziehung von Krull ist eigentlich normal, Krull ist vielfältig pervers. In seinen Beziehungen bricht er einige gesellschaftlichen Tabus, wie vorehelicher Geschlechtsverkehr, Hurerei, Inzest, Androgynie und Sadomasochismus. Diese werden zu Zeichen der Ausserordentlichkeit und Erwähltkeit umgewertet.
Zuletzt hat Krulls Narzissmus die bürgerlichen Werte umgewertet.
Das ganze Buch basiert auf diesen Narzissmus. "Liebe zu sich selbst" ist
der Anfang aller Kulturleistung. Krulls Werk ist sein Sieg, der Sieg des
narzisstischen Zaubers über den Leser.
Alle Figuren auf die Krull trifft, sind eigentlich nur Randfiguren,
sie treten aus dem Nichts und verschwinden, sobald sie nicht mehr gebraucht
werden. Die meisten, die Ausnahme von Schimmelpreester, werden sogar nie
mehr erwähnt. Krull bestimmt selbst, was er macht, die Figuren beeinflussen
ihn kaum.
Pate Schimmelpreester: Er ist der Pate von Felix Krull.
Er wird zwar von den Leuten Professor genannt, aber ist keiner. Sein Titel
als Künstler ist auch angemasst. Er ist der Designer der Etikette
für den "Lorley extra cuvée". Er stammt aus Köln und ordnet
dort den Karneval. Als der Vater stirbt, gibt er jedem Mitglied der Familie
Ratschläge, was er/sie machen sollte. Dank ihm erhält Felix die
Stelle ihm Saint James and Albany. Er ist mit dem Generaldirektor
Stürzli befreundet, den er von seiner Pariser Zeit kennt.
Madame Diane Houpflé: Sie ist Schriftstellerin und schreibt aber immer noch unter ihrem Mädchennamen, Diane Philibert. Sie will von Krull nur eines: widerlichen Sex. Je schändiger die Situation ist, desto mehr erregt ist sie. Kurz gesagt, sie will Sadomasochismus. Zuerst soll Krull sie süsse Hure nennen, dann sie mit seinen Hosenträger auf das Blut schlagen. Am erregtesten wird sie, als sie erfährt, dass Felix sie bestohlen hat.
Ihr Mann ist Elsässer und Kloschüsselnfabrikant. Die ganze Szene mit ihr basiert auf Verkehrtheit, das erkennt man an ihrem Doppelnamen, sie führt mehr als ein Leben, sie degradiert Krulls Geschlecht zu etwas unbeschreiblichen. Er verliert so seine Männlichkeit. Für sie ist Krull ein Sohn, zum Inzest zu begehen.
Zusammengefasst, eine totale perverse Person.
Eleanor Twentyman: Sie ist die achtzehn-jährige Tochter reicher Engländer. Sie waren für mehrere Wochen im Hotel. Eleanor verliebt sich ziemlich schnell über und über in Krull. Da sie sich schlecht beherrschte, wird sie mehrmals von ihren Eltern ermahnt. Schon bald erfindet sie Tricks, um sich doch mit ihm zu treffen. Später fängt sie an, ihre Liebe Felix klar zu machen, doch er versucht es ihr auszureden, da ein Kellner nicht mit einer reichen Frau zusammen sein kann. Irgendwann packt sie ihn und versucht ihn zu küssen, und will gleich ein Kind von ihm. Doch Felix bleibt ruhig und lässt sich nicht beeinflussen.
Ihre Liebe ist so gross, dass sie nicht mehr schlafen kann. Es macht
sie total krank.
Nectan Lord Kilmarnock: Er ist ein schottischer Lord,
der in der Nähe von Aberdeen lebt. Er ist homosexuell und verliebt
sich auch in Felix. Um ihn sicher zu bekommen, fragt er, ob Krull als Diener
auf sein Schloss kommen will. Er gibt eine höhere Position vor im
Vergleich zur jetzigen im Hotel. Doch in Wirklichkeit ist er nur an der
Person interessiert, er hat vermutlich schon genug Dienern. Da aber Felix
ablehnt, schenkt ihm der Lord ein Smaragdring. Seine Liebe bringt ihm um
seinen Appetit, später zur Nahrungsverweigerung und schliesslich zur
Selbstverneinung.
Diese zwei Personen versuchen sich in Felix‘ Weg zustellen, um ihre
Ziele zu erreichen. Aber alle die dies versuchen, haben sofort Pech. Thomas
Mann hat Felix Krull wie Achilles gestaltet. Diese zwei sehen ihr Unglück
als naturgegeben und verzichten kampflos auf ihr Glück. Sie werden
Opfer von Krulls Narzissmus.
Marquis Louis de Venosta: Dieser Marquis wohnt für einige Zeit im Hotel. Er isst oft alleine, aber ab und zu mit seiner Freundin Zaza. Eines Abends, Krull will sich eine Oper anschauen, trifft er den Marquis. Es entsteht eine interessante Diskussion, bei der wir viel über den Marquis lernen. Seine Eltern haben ihn auf einer Weltreise geschickt. Dies gefällt ihm leider nicht mehr, da er sich in eine Pariserin, Zaza, verliebt hat, und sie heiraten möchte. Aber seine Eltern sind dagegen. Er weiss wirklich nicht weiter. Krull schlägt vor, dass eine Person für ihn reisen müsste. Nur der Name müsste reisen. Darauf fällt dem Marquis nichts besseres ein, als Krull für diese Rolle zu wählen. Dieser stimmt nach einigem Zögern. Anschliessend werden noch einige Förmlichkeiten abgeschlossen, wie Geld und die Nachahmung der Unterschrift.
Krull und der Marquis sind eins, die Vertauschungsszene wird sorgfältig
vorbereitet. Er nennt seine Eltern "mes pauvres parents". Er versucht den
selben Weg wie Krull, weg vom Weg der Aristokratie und des Studenten, und
auf dem der Kunst und Liebe. Die Vertauschbarkeit ist nur möglich,
da beide sich mit dem Gedanken abfinden können, sich zu verdoppeln,
und sich lediglich durch die Form der gesellschaftlichen Normen.
Professor Antonio José Kuckuck: Krull lernt dieser im Zug nach Lissabon kennen und bleibt danach noch eine Woche mit ihm, während er auf die Abfahrt des Schiffs wartet. Kuckuck ist ein Deutscher, der in Portugal wohnt. Im Gegenteil zu Schimmelpreester ist er tatsächlich Professor, der aber nicht nur in der Forschung tätig, sondern auch in seinen Ansichten zu erkennen ist. Er ist sehr ausgeglichen, nicht mal das Flirteten von Krull mit Frau und Tochter bringt ihn aus dem Gleichgewicht. Für Krull ist er wie ein Mentor: Er wird in die Anfangsgründe der Naturwissenschaften und Philosophie eingeführt. Seine Philosophie bringt einen Tiefsinn in der Heiterkeit. Ab und zu führt diese auf Paradoxe, doch gerade diese zeigen die Grenzen der menschlichen Vernunft. Es scheint als schaue er auf die Welt von einem höheren Aussichtspunkt. Seine spezielle Sicht wird durch eine Brille verdeutlicht.
Krull führt mit ihm ein sehr langes Gespräch, dass sehr viele
Aspekt behandelt.
Andromache: Sie ist eine Zirkuskünstlerin, die Krull sehr beeindruckt. Sie führt eine Hochtrapez-Nummer, im Programm wird sie als "La fille de l’air" bezeichnet. Sie wird von Krull sehr genau beschrieben: die Brust geringfügig, das Becken schmal, starke Arme. Einige Zeit zweifelt Krull, ob sie tatsächlich eine Frau ist. Sie ist nicht wirklich ein Mensch, denn der Hermaphrodit nimmt die Selbstverkommenheit des Menschen weg. Sie wird auch als Amazone des Zirkus beschrieben, es macht sie nicht weniger, sondern wertvoller.
Als Künstler stellt sie eine Allegorie dar, nämlich die des späteren Krull, die des früheren wird von Müller-Rosé verkörpert.
Eine ähnliche Rolle spielt auch Ribeiro, der Stierkämpfer,
der am Schluss des Buches auftaucht.
Andere Personen, die auch wichtig sind:
Mutter, Vater, Olympia, Stürzli, Stanko, Hector, Machatschek, Zouzou, Ribeiro, Müller-Rosé, Rozna, Genofva, Zaza
Die Personkonstellation ist auf der Grafik auf dem letzten Blatt dargestellt.
Schlaf
Krull beginnt mit seiner Geburt zu erzählen; er sagt, dass er nicht den mindesten Eifer zeigt, um auf die Welt zu kommen. Daraus sollte man meinen, dass er sich zum Weltkritiker entwickeln wird. Das widerspricht allerdings der Selbstanalyse, der immer wieder von Weltliebe spricht. Der erste Exkurs von Krull ist über die Weltlosigkeit, den Schlaf. Die psychologischen Modelle über dieses Verhalten helfen eigentlich nicht weiter, es geht eher um einen metaphysischen Zustand. Für Thomas Mann kehrt der Mensch im Schlaf zurück ins Meer des Unbewussten und der Unendlichkeit, in vorgeburtlichen Zustand. Im Schlaf regeneriert man sich und bildet beim Erwachen eine neue Form. Man sollte nicht zu lang im Nichts des Unterbewussten verweilen, sondern die neuen Kräfte an die Forderungen des Tages zu wenden. Dies ist auch die Aufgabe des Künstlers: die Welt der Form gegen die Welt des Nichts zu stellen. Nur, wo der Wille zum Leben ist, ist auch der Wille zur Form. So begründet auch Krull seinen Schlaf: Anspannung und Kampf des Lebens verlangen Neuschöpfung im Schlaf.
Der Formwechsel des Schlafs erklärt auch, warum die Identitätswechsel für Krull so einfach sind. Das philosophische Programm der Schlafliebe ist: Dasein, wie es nun einmal ist, zu bejahen.
Künstler und Theaterwelt
Der Künstler richtet seine Aufmerksamkeit auf die wesentliche Welt, die eigentlich eine Vorstellung ist. Die Institutionen der Willhelmischen Staates verschwinden hinter dem Nebel von Krulls Verhältnis zur Gesellschaft, der gleichzeitigen Bejahung und Kritik des gesellschaftlichen Seins. Am genausten wird das Kaiserreich gezeigt, wenn Thomas Mann bei seinem Grundthema von der Illusion verweilt. Wegen mehreren gewonnen Kriege und Entschärfung der inneren Konflikte hatte das Reich einen wirtschaftlichen Boom. In dieser Zeit hatten Schwindler und Spekulanten es sehr leicht.
Thomas Mann versucht eine Analogie zwischen dem hierarchisch-aristokratischen Prinzip und seiner eigenen Künstlerexistenz zu finden.
Reise und Abenteuer
Für Krull sind Reisen, auch kleine, immer ein Abenteuer. Für ihn kann die Reise nicht schnell genug vorankommen. Auch lässt er sich nicht auf ein Dösen während der Reise ein, er ist hell wach und bereit. Dies ist typisch für Thomas Manns Helden. Obwohl die Eisenbahn ist zu Krulls Zeiten schon ziemlich sicher war, bleibt es dennoch ein Abenteuer damit zu reisen. Krull ist ein Wanderer, die moderne Version vom Mensch am Scheideweg. Die Abenteuer sind mehr als eine Welterkundung, es ist das Überschreiten der Grenzen von Wissen, Erfahrung, Konventionen und Moral. Der Reisende lässt die Ordnung und die Orientierung des Gewohnten zurück, vergisst sein Heim und seine Herkunft und findet sich wieder in der Welt des Ungewohnten, in der er entweder Halt, Orientierung und Form verliert oder sein Glück und eine neue Form gewinnt.
Während der Reise nach Lissabon führt Kuckuck Krull durch die Räume und Zeiträume zu einem neuen Sichtpunkt. Dabei ist er nicht der klassische Mentor.
Krull lehnt den platten Abenteuerbegriff ab. Er philosophiert lieber über eine hypothetische Weltdeutung.
Allsympathie
Kuckucks Romanlehren gipfeln in der Allsympathie. Sein ganzes Wissen, das schon zu Thomas Manns Zeiten veraltet war, dient diesem Mittelpunkt und ist auf ihn arrangiert und komponiert.
Allsympathie ist durchaus als moralischen Begriff zu verstehen. Nur
wer leiden kann, kann auch mitleiden, seine Individualität zu vergessen
und sich in andere zu versetzen. Mitleid ist der Gegenpol zum egoistischen
Ich. Doch Kuckuck spricht nicht von Mitleid, sondern von Sympathie. In
Sympathie schwingt eine erotische Komponente mit, die Lust am Sein. Allsympathie
ist Allverliebtheit. Kuckuck wertet das um: Nur das Geformte verdient Sympathie.
Formung nämlich kommt erst durch Zeit und Raum zustande. Vergänglichkeit
ist folglich Vorbedingung der Form und damit der Sympathie. Kuckucks Sympathie
gilt nicht dem ganzen Sein, nicht nur dem belebten, sondern allem, was
Form hat, insofern es ist.
Die Sprache ist von der Person abhängig, die gerade spricht. Normalerweise
ist sie nicht leicht verständlich. Die Satzlänge ist sehr verschieden,
es gibt einfache Sätze und solche die fast einen Abschnitt lang sind.
Der Wortschatz ist nicht sehr einfach, es kommen ab und zu Fremdwörter
vor. Eine Besonderheit dieses Buches ist, dass es nicht nur auf deutsch
ist. Einige Teile sind auf Französisch oder Englisch, ein Abschnitt
sogar auf Italienisch.
Da das Buch über fast 50 Jahre geschrieben wurde, ist der Zeitbezug nicht einfach zu sehen. Um einen Bezug zu finden sollte man den Anfang des Buches, der um 1910 geschrieben wurde. In Thomas Manns Notizen findet man Hinweise, über das Jahr: Krull soll um 1875 geboren worden sein, also spielt sich das Buch um 1895. Es war die Zeit der willhelminische Ära, also die Zeit, wo das Deutsche sehr streng war. Alles drehte sich um die Hierarchie und das Militär. In dieser Zeit hatten es die Künstler nicht leicht. Viele Künstler waren durch die damaligen Umstände wie Hegemonialpolitik oder Sozialdarwinismus so geekelt, dass sie sich politisch enthielten.
Teile, wie die Erotikszene mit Madame Houpflé, sind zur Zeit
geschrieben worden, als McCarthy und Konrad Adenauer die moralische Tönen
bestimmten.
Die Wirkung auf die Welt ist schwer zu sagen, da der Roman während
50 Jahren geschrieben wurde. Auch ist der Roman fragmentarisch erschienen,
was dies noch schwieriger macht. Was man aber sagen kann, ist, dass gewisse
Szenen die Öffentlichkeit sicher geschockt haben. Möglicherweise
fiel die Parodie des Entwicklungsromans nicht mehr auf, weil, als das Buch
erschien, der Bildungsroman nicht mehr dominierte. Diese Romanart war anfangs
des Jahrhunderts vorherrschend, in der Mitte aber nicht mehr.
Ich würde dieses Buch empfehlen.