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Aneignung und Transformation
naturwissenschaftlicher Denkmuster – Eröffnungszitat
und These IV
1.) Eröffnungszitat Zitat: „Das Gegenwärtige ist allein als Vergangenheit feststellbar und zu
interpretieren, auch wenn es ein Zustand ist, der andauert, denn alles
Dauernde verändert sich, und eine Veränderung kann nur festgestellt
werden, nachdem sie stattgefunden hat. Alles Zukünftige dagegen ist bloss
wahrscheinlich, wobei im Wahrscheinlichen auch das Unwahrscheinliche
eingeschlossen ist: Das Wahrscheinliche liegt noch in unserer ungefähren
Berechenbarkeit, es tritt wahrscheinlich ein, aber es muss nicht
eintreten, das Unwahrscheinliche dagegen, das ebenfalls einzutreten
vermag, aber nicht dazu genötigt ist, liegt gänzlich ausserhalb des
Vorausberechenbaren. Da jedoch das Zukünftige, sobald es eintritt, eine
Möglichkeit der Wahrscheinlich-Unwahrscheinlichkeitskette darstellt, die
wirklich geworden ist, und weil, was von einer zukünftigen Tatsache gilt,
auch für jede Tatsache zutrifft, damit auch für eine vergangene, darf der
Satz gewagt werden dass die Wirklichkeit eine Unwahrscheinlichkeit
darstellt, die eingetreten ist. Dieser Satz jedoch umfängt die ganze
Wirklichkeit, wie sie auch sei, gleichgültig, ob ich gegen einen Baum
gerast bin oder nicht, gleichgültig, ob es Leben gibt oder nicht, und so
zurückgefolgert: Der Satz ist kosmologisch und behauptet, dass die Welt
unwahrscheinlicherweise so ist, wie sie ist, was nicht dagegen spricht,
dass sie so ist, wie sie ist.“ Kommentar: Zwei zentrale Aussagen stechen im genannten Zitat hervor. Es wird zum
einen gesagt, dass die nicht voraussagbare Wirklichkeit im Nachhinein eine
Unwahrscheinlichkeit darstelle, die eingetroffen sei, und zum anderen,
dass die Welt folglich unwahrscheinlicherweise so sei, wie sie sei. Auf
diese Aspekte des Wahrscheinlichen, des Unwahrscheinlichen, oder gar des
Zufälligen alles Zukünftigen wollen wir in unserem Vortrag fokussieren.
Etwas genauer gesagt soll unsere Untersuchung eine Beschäftigung sein mit
dem Konzept der Wahrscheinlichkeit des Verhaltens des Individuums bei
Dürrenmatt. Es scheint sich hierbei um ein Konzept zu handeln, welches
Dürrenmatt aus der modernen Physik – genauer gesagt der Quantentheorie
sowie der Thermodynamik – übernommen und auf Menschheitsstrukturen
übertragen hat. Zu beweisen ist, das dieses Konzept der
(Un-)Wahrscheinlichkeit und des Zufall sowohl Thema als auch
Dramaturgieprinzip auch in Dürrenmatts Prosa ist. Einige einleitende
Bemerkungen sollen jedoch erst zu unserer Thematik hinführen. 2.) Erläuterungen zu These IV 1.) Einleitung Zu Beginn sollen einige Überlegungen zur These als solche gemacht
werden. 2.) Struktur der Erzählung Die Erzählung stellt Pannychis, die Pythia, die Priesterin des
Apollorakels in Delphi, ins Zentrum. 3.) Analyse In der Erzählung „Das Sterben der Pythia“ finden sich zwei wesentliche
Sachverhalte, die zum Dramaturgieprinzip des Zufalls zu passen scheinen.
Zum einen sind es die Orakel, die Prophezeiungen der Pythia und des
Tiresias, die sich aussergewöhnlicherweise bewahrheiten, sodass
tatsächlich die Unwahrscheinlichkeit Wirklichkeit geworden ist. Zum
anderen lassen sich mögliche Personenverhältnisse und zufällige
Handlungsstrukturen rekonstruieren, die zur Orakelerfüllung geführt haben
könnten, für deren Wahrheit aber auch retrospektiv keine letzte Garantie
besteht. Vereinfacht gesagt ist interessant, DASS sich ein zufälliges
Orakel bewahrheitet hat, obwohl nicht mit gänzlicher Sicherheit gesagt
werden kann, WIE sich das Orakel erfüllte – nicht einmal die Vergangenheit
ist rekonstruierbar. „Was uns stört, ist das Orakel, eine Instanz, die fähig ist
vorauszusagen. Eine voraussagbare Handlung lässt den Zufall nicht zu,
Ödipus, als Fabel, scheint untrennbar mit der Idee des Schicksals
verbunden zu sein. Der einzige Ausweg, der uns offenbar offen bleibt,
Ödipus dem Schicksal zu entreissen, stellt daher nur die Flucht aus der
Handlung in die Akteure dar, in die Träger der Handlung. Das bedeutet,
dass nicht mehr das Orakel wichtig ist, sondern die Person, die das Orakel
verkündet, die Priesterin des Apoll, die Pythia.“ Dass das Orakel der Pythia an Ödipus nicht mehr als den Ausdruck ihrer Laune darstellt, zeigt sich zu Beginn der Erzählung: „[...] und so prophezeite sie ihm denn, sei es, um ihn von seinem
Aberglauben an die Orakelkunst zu heilen, sei es, weil es ihr in einer
boshaften Laune gerade einfiel [...] etwas Unsinniges und
Unwahrscheinliches, von dem sie sicher war, dass es nie eintreffen würde,
denn [...] wer wäre imstande, seinen eigenen Vater zu ermorden und seiner
eignen Mutter beizuschlafen – die inzestbeladenen Götter- und
Halbgöttergeschichten hielt sie ohnedies für Märchen.“ Nach der ersten Konfrontation mit Ödipus scheint es, als ob das Orakel, die Prophezeiung des Unwahrscheinlichen, mit dem Tod des Laios und Ödipus’ Ehe mit Iokaste wahr geworden wäre. Dürrenmatts Sentenz aus der Erzählung „Die Brücke“: „[...] dass die Wirklichkeit eine Unwahrscheinlichkeit darstellt, die
eingetreten ist“ scheint sich bewahrheitet zu haben. Für die Pythia ist denn ihr Orakel auch: „ein grotesker Zufallstreffer“ ihrer Meinung nach: „traf [das Orakel] durch Zufall ein“ Auch am Ende der Erzählung, während welcher sich für die Pythia wie für den Leser die Sphinx und der Wagenlenker Polyphontes als Eltern Ödipus’ herausgestellt haben, bleibt das Orakel bewahrheitet, noch immer aber nichts mehr als eine Zufalls- oder Wahrscheinlichkeitsaussage über die Zukunft des Ödipus vorausgesagt habend: „’Nur eines verstehe ich nicht’, sagte die Pythia. ‚Dass mein Orakel
zutraf, wenn auch nicht so, wie Ödipus es sich einbildet, ist ein
unglaublicher Zufall [...]’.“ Den Aspekt der Unwahrscheinlichkeit betont Tiresias: „’[...] Wäre ich ein Mathematiker, könnte ich dir genau sagen, wie
unwahrscheinlich die Wahrscheinlichkeit war, dass dein Orakel zutreffen
würde: sie war phantastisch unwahrscheinlich, unendlich unwahrscheinlich
[...]’.“ Entmystifizierend sind auch die Orakel des Tiresias. Entspringt das
Orakel der Pythia ihrer Phantasie, so verfolgt Tiresias mit seinen
kalkulierten Voraussagen bestimmte Absichten, die aber auch nicht mehr als
Wahrscheinlichkeitsaussagen bleiben bezüglich der Menschen, auf die sie
sich beziehen. „Nicht der Regelfall, sondern der Un-Fall im übertragenen Sinne, der
Fall, der nicht die Regel ist, wird Gegenstand der Dramatik. [...] Dass
sich der unwahrscheinliche Vorfall auf der Bühne immer zum Unfall, zur
Katastrophe auswächst, ist durch Dürrenmatts Methode der
‚schlimmstmöglichen Wendung’ bedingt. Zu ihr muss der Dramatiker greifen,
damit die Fiktion, weil sie sich im logischen und nicht im ontologischen
Bereich abspielt, existentiell wird.“ Wirklichkeit: Die Prophezeiung der Pythia als
Wahrscheinlichkeitsaussage über das Individuum Ödipus, die sich
schlussendlich zufällig bewahrheitet, ist das eine. Ein anderes ist es
aber, den in der Erzählung entstehenden Handlungsstrang und die ihm
zugrunde liegenden Personenverhältnisse zu verfolgen, die Wirklichkeit zu
rekonstruieren, die zur Erfüllung des Pythia-Orakels geführt hat und von
etlichen Zufällen begleitet worden ist. Wesentlich ist zu sehen, dass für
die diversen Protagonisten, die retrospektiv ihre Version der Handlung
erzählen, unterschiedliche Wirklichkeiten vorherrschen, die aber alle in
ihrer Form auch das Orakel der Pythia erfüllen würden. So bleiben am Ende
nur die Pythia und der Leser als die Hüter der tatsächlichen Wirklichkeit,
die zur Orakelerfüllung geführt hat. Vielleicht ist aber sogar diese
angesichts der Umstände in Frage zu stellen. „’Alle lügen’, stellte die Pythia fest. Tiresias referiert seinerseits sogar auf die Thematik der nur ungefähren Menschen, die eine Eruierung der Wahrheit verhindern: „’[...] Warum, Pannychis, sagen die Menschen nur die ungefähre
Wahrheit, als ob es bei der Wahrheit nicht vor allem auf die Details
ankomme? Vielleicht weil die Menschen selbst nur etwas Ungefähres sind.
Diese verfluchte Ungenauigkeit. [...]’“ Hat folglich zuerst – um die beiden Aspekte der Dramaturgie des Zufalls noch einmal zu nennen – eine Verkettung von Zufällen die Unwahrscheinlichkeit Wirklichkeit werden lassen, so scheint nun letztendlich auch die Wahrheit bezüglich der Personenverhältnisse und der Ereigniskette, die zu dieser Unwahrscheinlichkeit geführt hat, nicht mehr mit völliger Sicherheit rekonstruierbar. Somit bleibt die Wahrheit der Vergangenheit dem Rückblickenden unzugänglich. Fast schon programmatisch muten in diesem Zusammenhang Tiresias Worte an, wenn er zur Pythia und zu ihren Bemühungen, die Wahrheit zu entdecken, meint: „’Kümmere dich nicht darum, Alte’, lachte Tiresias, ‚lass sein, was
doch anders war und immer wieder anders sein wird, je mehr wir forschen.
[...] Die Wahrheit ist nur insofern, als wir sie in Ruhe lassen. [...]’“
Was für die Erzählung gilt, nämlich das Prinzip des Zufalls der Handlung und der Unmöglichkeit einer wahrheitsgemässen Rekonstruktion derselben, kann denn auch als Kommentar für den Mythos und dessen Fortschreibung als solche verstanden werden, was sich in Tiresias’ Worten ausdrückt: „’[...] aber Ödipus wird weiterleben, als ein Stoff, der uns Rätsel
aufgibt. Ist sein Schicksal nun durch die Götter bestimmt oder dadurch,
dass er sich gegen einige Prinzipien, welche die Gesellschaft der Zeit
stützten, versündigt hat, wovor ich ihn mit Hilfe des Orakels zu bewahren
suchte, oder gar, weil er dem Zufall zum Opfer fiel, hervorgerufen durch
deine launische Orakelei?’“ 3.) Literatur Primärliteratur: Dürrenmatt, Friedrich: „Das Sterben der Pythia“. In: Der Mitmacher. Ein Komplex. Zürich: Diogenes TB 23054, 1998. S. 274 – 313. Dürrenmatt, Friedrich: „Die Brücke“. In: Turmbau. Stoffe IV-IX. Zürich: Diogenes TB 23069, 1998. S. 85 – 111. Dürrenmatt, Friedrich: „Schicksal und dramaturgische Notwendigkeit: Ödipus, Wagner, Verdi, Shakespeare, Brecht“. In: Der Mitmacher. Ein Komplex. Zürich: Diogenes TB 23054, 1998. S. 268 – 274. Sekundärliteratur: Emter, Elisabeth: „Friedrich Dürrenmatt: Dramaturgie des Unwahrscheinlichen“. In (dies.): Literatur und Quantentheorie: Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925 – 1970). Berlin, New York: de Gruyter, 1995, S. 218 – 270. |
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