Das Sterben der Pythia
PD Dr. Rudolf Käser, Universität Zürich, Deutsches Seminar; Seminar: Dürrenmatt – Späte Prosa (Sommersemester 2001)

 
Aneignung und Transformation naturwissenschaftlicher Denkmuster – Eröffnungszitat und These IV

1.) Eröffnungszitat

Zitat:

„Das Gegenwärtige ist allein als Vergangenheit feststellbar und zu interpretieren, auch wenn es ein Zustand ist, der andauert, denn alles Dauernde verändert sich, und eine Veränderung kann nur festgestellt werden, nachdem sie stattgefunden hat. Alles Zukünftige dagegen ist bloss wahrscheinlich, wobei im Wahrscheinlichen auch das Unwahrscheinliche eingeschlossen ist: Das Wahrscheinliche liegt noch in unserer ungefähren Berechenbarkeit, es tritt wahrscheinlich ein, aber es muss nicht eintreten, das Unwahrscheinliche dagegen, das ebenfalls einzutreten vermag, aber nicht dazu genötigt ist, liegt gänzlich ausserhalb des Vorausberechenbaren. Da jedoch das Zukünftige, sobald es eintritt, eine Möglichkeit der Wahrscheinlich-Unwahrscheinlichkeitskette darstellt, die wirklich geworden ist, und weil, was von einer zukünftigen Tatsache gilt, auch für jede Tatsache zutrifft, damit auch für eine vergangene, darf der Satz gewagt werden dass die Wirklichkeit eine Unwahrscheinlichkeit darstellt, die eingetreten ist. Dieser Satz jedoch umfängt die ganze Wirklichkeit, wie sie auch sei, gleichgültig, ob ich gegen einen Baum gerast bin oder nicht, gleichgültig, ob es Leben gibt oder nicht, und so zurückgefolgert: Der Satz ist kosmologisch und behauptet, dass die Welt unwahrscheinlicherweise so ist, wie sie ist, was nicht dagegen spricht, dass sie so ist, wie sie ist.“
(aus: „Die Brücke“, S. 109 f.)

Kommentar:

Zwei zentrale Aussagen stechen im genannten Zitat hervor. Es wird zum einen gesagt, dass die nicht voraussagbare Wirklichkeit im Nachhinein eine Unwahrscheinlichkeit darstelle, die eingetroffen sei, und zum anderen, dass die Welt folglich unwahrscheinlicherweise so sei, wie sie sei. Auf diese Aspekte des Wahrscheinlichen, des Unwahrscheinlichen, oder gar des Zufälligen alles Zukünftigen wollen wir in unserem Vortrag fokussieren. Etwas genauer gesagt soll unsere Untersuchung eine Beschäftigung sein mit dem Konzept der Wahrscheinlichkeit des Verhaltens des Individuums bei Dürrenmatt. Es scheint sich hierbei um ein Konzept zu handeln, welches Dürrenmatt aus der modernen Physik – genauer gesagt der Quantentheorie sowie der Thermodynamik – übernommen und auf Menschheitsstrukturen übertragen hat. Zu beweisen ist, das dieses Konzept der (Un-)Wahrscheinlichkeit und des Zufall sowohl Thema als auch Dramaturgieprinzip auch in Dürrenmatts Prosa ist. Einige einleitende Bemerkungen sollen jedoch erst zu unserer Thematik hinführen.
 

 2.) Erläuterungen zu These IV

1.) Einleitung

Zu Beginn sollen einige Überlegungen zur These als solche gemacht werden.
Das Individuums-Zufalls-Prinzip meint, um dies noch einmal zu sagen, dass – aus einer Art Fremdperspektive – bezüglich des zukünftigen Verhaltens eines Individuums nur Wahrscheinlichkeitsaussagen gemacht werden können, analog zu den Wahrscheinlichkeits-voraussagen der kleinsten Teilchen der Quantentheorie und der Thermodynamik. Zusätzlich ist nun auch der Aspekt der Selbstperspektive in die Thematik miteinzubeziehen, insofern nämlich, als dass auch das Individuum selbst ständig mit zukünftigen Ereignissen konfrontiert wird, die nicht sicher, nur wahrscheinlich, unwahrscheinlich oder gar zufällig sind. 
Mit der Idee der Inszenierung oder der Dramaturgie des Zufalls ist – als eine Art Steigerung gegenüber der Erzählung „Die Brücke“ – gemeint, dass das bislang oft genannte Zufallsprinzip nicht mehr nur thematisiert wird, sondern ein Wesensmerkmal der Handlung darstellt, ein Strukturprinzip, auf welchem der Autor Dürrenmatt seine Handlung basiert. Es wird angenommen, dass der Terminus Dramaturgie im Sinne von Handlungsprinzip auch für die Gattung Prosa gelten kann.
Gewählt für die These wurde der Prosatext „Das Sterben der Pythia“ als ein Text, der ebenfalls unter dem Aspekt der Mythentranskription gelesen werden kann. Im Text sich zeigende Muster der Mythentranskription wie Dekontextualisierung, Parodierung, Polyperspektivität oder Infragestellung des Schicksalsprinzips stehen meist in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Thesenthema, dem Zufallsprinzip. 

2.) Struktur der Erzählung

Die Erzählung stellt Pannychis, die Pythia, die Priesterin des Apollorakels in Delphi, ins Zentrum. 
In einem ersten Teil erinnert sie sich an ein Orakel, das sie einst für Ödipus sprach, und mit welchem sie ihm prophezeite, er werde seinen Vater töten und seiner eigenen Mutter beischlafen. Entmystifizierend wirkt bereits an dieser Stelle der Umstand, dass die Pythia das Orakel ganz zufällig gesprochen hatte. In der Folge – nach diesem Erinnerungsvorgang – begegnet ihr der geblendete Ödipus, der die Erfüllung des Orakels und somit der von ihr prophezeiten Unwahrscheinlichkeit bestätigt, indem er auf die Ermordung des Laios und seine Ehe mit Iokaste verweist. Strategisch geschickt wird die Pythia somit in denselben Wissensstand versetzt wie der Leser, der den Ödipus-Mythos, die Geschichte des Orakels und der nachfolgenden Ereignisse bis zur Blendung Ödipus’ zu kennen glaubt. Es scheint, als ob Laios und Iokaste Ödipus’ Eltern gewesen wären. 
In einem zweiten Teil wird die Pythia, auf ihrem Dreifuss im Orakel zu Delphi sitzend und ihres baldigen Sterbens harrend, mit den Schatten verschiedener verstorbener Charaktere des Ödipus-Tragödie konfrontiert, d.h. mit Menaikeos, Laios, Ödipus, Iokaste, der Sphinx und dem offensichtlich auch bald sterbenden Seher Tiresias. Durch diese Konfrontation ist die Pythia genötigt, ihre Vorstellungen bezüglich der Handlungsstruktur und der Personenverhältnisse ständig zu modifizieren. Diese Notwendigkeit zur Modifizierung der bislang als wahr geglaubten Kausalzusammenhänge zwischen dem Pythia-Orakel und Ödipus’ Blendung vollzieht sich parallel in den Köpfen der Leser. Ein Blick auf den Stammbaum zeigt, welche modifizierten Personenverhältnisse im Ödipus-Mythos vorzuliegen scheinen. Schlussendlich sind beide – die Pythia wie der Leser – mit einem möglichen Handlungsstrang, mit einer möglichen Wirklichkeit konfrontiert, die retrospektiv rekonstruiert worden ist, die dem bislang Geglaubten widerspricht und die doch das Orakel der Pythia erfüllt. Trotz der Tatsache, dass am Ende der Erzählung ein modifizierter, scheinbar zufälliger, doch aber das Orakel der Pythia erfüllender Handlungsstrang vorliegt, bleibt die Frage, ob denn diese modifizierte Wirklichkeit tatsächlich der Wahrheit entspricht, ja gar ob eine solche überhaupt rekonstruierbar ist. Doch soll der Blick nun zur Analyse der These auf wichtige Stellen der Erzählung geworfen werden.

3.) Analyse 

In der Erzählung „Das Sterben der Pythia“ finden sich zwei wesentliche Sachverhalte, die zum Dramaturgieprinzip des Zufalls zu passen scheinen. Zum einen sind es die Orakel, die Prophezeiungen der Pythia und des Tiresias, die sich aussergewöhnlicherweise bewahrheiten, sodass tatsächlich die Unwahrscheinlichkeit Wirklichkeit geworden ist. Zum anderen lassen sich mögliche Personenverhältnisse und zufällige Handlungsstrukturen rekonstruieren, die zur Orakelerfüllung geführt haben könnten, für deren Wahrheit aber auch retrospektiv keine letzte Garantie besteht. Vereinfacht gesagt ist interessant, DASS sich ein zufälliges Orakel bewahrheitet hat, obwohl nicht mit gänzlicher Sicherheit gesagt werden kann, WIE sich das Orakel erfüllte – nicht einmal die Vergangenheit ist rekonstruierbar.
Orakel: Die Orakel sind es, die das Prinzip des Zufalls unterstützen, insbesondere dasjenige der Pythia. Gerade weil sie nicht göttlichem Willen, sondern der Willkür der sie sprechenden Personen unterliegen, werden sie zu Wahrscheinlichkeitsaussagen über die Zukunft eines Menschen. Dürrenmatt vermerkt dazu:

„Was uns stört, ist das Orakel, eine Instanz, die fähig ist vorauszusagen. Eine voraussagbare Handlung lässt den Zufall nicht zu, Ödipus, als Fabel, scheint untrennbar mit der Idee des Schicksals verbunden zu sein. Der einzige Ausweg, der uns offenbar offen bleibt, Ödipus dem Schicksal zu entreissen, stellt daher nur die Flucht aus der Handlung in die Akteure dar, in die Träger der Handlung. Das bedeutet, dass nicht mehr das Orakel wichtig ist, sondern die Person, die das Orakel verkündet, die Priesterin des Apoll, die Pythia.“
(aus: „Schicksal und dramaturgische Notwendigkeit“, S. 273 f.)

Dass das Orakel der Pythia an Ödipus nicht mehr als den Ausdruck ihrer Laune darstellt, zeigt sich zu Beginn der Erzählung:

„[...] und so prophezeite sie ihm denn, sei es, um ihn von seinem Aberglauben an die Orakelkunst zu heilen, sei es, weil es ihr in einer boshaften Laune gerade einfiel [...] etwas Unsinniges und Unwahrscheinliches, von dem sie sicher war, dass es nie eintreffen würde, denn [...] wer wäre imstande, seinen eigenen Vater zu ermorden und seiner eignen Mutter beizuschlafen – die inzestbeladenen Götter- und Halbgöttergeschichten hielt sie ohnedies für Märchen.“
(S. 274)

Nach der ersten Konfrontation mit Ödipus scheint es, als ob das Orakel, die Prophezeiung des Unwahrscheinlichen, mit dem Tod des Laios und Ödipus’ Ehe mit Iokaste wahr geworden wäre. Dürrenmatts Sentenz aus der Erzählung „Die Brücke“:

„[...] dass die Wirklichkeit eine Unwahrscheinlichkeit darstellt, die eingetreten ist“
(aus: „Die Brücke“, S. 110)

scheint sich bewahrheitet zu haben. Für die Pythia ist denn ihr Orakel auch:

„ein grotesker Zufallstreffer“
(S. 282),

ihrer Meinung nach:

„traf [das Orakel] durch Zufall ein“
(S. 282).

Auch am Ende der Erzählung, während welcher sich für die Pythia wie für den Leser die Sphinx und der Wagenlenker Polyphontes als Eltern Ödipus’ herausgestellt haben, bleibt das Orakel bewahrheitet, noch immer aber nichts mehr als eine Zufalls- oder Wahrscheinlichkeitsaussage über die Zukunft des Ödipus vorausgesagt habend:

„’Nur eines verstehe ich nicht’, sagte die Pythia. ‚Dass mein Orakel zutraf, wenn auch nicht so, wie Ödipus es sich einbildet, ist ein unglaublicher Zufall [...]’.“
(S. 309)

Den Aspekt der Unwahrscheinlichkeit betont Tiresias:

„’[...] Wäre ich ein Mathematiker, könnte ich dir genau sagen, wie unwahrscheinlich die Wahrscheinlichkeit war, dass dein Orakel zutreffen würde: sie war phantastisch unwahrscheinlich, unendlich unwahrscheinlich [...]’.“
(S. 312 f.)

Entmystifizierend sind auch die Orakel des Tiresias. Entspringt das Orakel der Pythia ihrer Phantasie, so verfolgt Tiresias mit seinen kalkulierten Voraussagen bestimmte Absichten, die aber auch nicht mehr als Wahrscheinlichkeitsaussagen bleiben bezüglich der Menschen, auf die sie sich beziehen. 
Sein erstes Orakel, das durch Menaikeos bezahlt wird, prophezeit dem Laios, dass sein Sohn ihn töten und anschliessend seine Frau begatten werde. Obwohl nur als Warnung an Laios vor seinem Schwager Kreon gedacht, beinhaltet der Ausspruch eine eigentliche Unmöglichkeit, da der unfruchtbare Laios gar keinen Nachwuchs haben konnte. Wird jedoch sein Enkel Ödipus in die Prophezeiung hinein interpretiert, stimmt die Vorhersage plötzlich wieder. 
Tiresias’ zweites Orakel, das zum Tod des Menaikeos führt, ist nichts anderes als eine von Laios finanzierte und kalkulierte Rachetat dafür, das Menaikeos überhaupt das erste Orakel gegen Laios angefordert hat. 
Das vierte Orakel der Erzählung – das dritte Orakel Tiresias’ – ist wieder interessant. In ihm verlangt Tiresias Vergeltung für den Mord an Laios, um die Stadt Theben erneut von einer Pest zu befreien. Tiresias spricht die Voraussage im irrigen Glauben, Kreon habe den Laios umgebracht. Tragischweise erfüllt Ödipus mit seiner Blendung auch dieses Orakel, er lässt auch diese prophezeite Unwahrscheinlichkeit Wirklichkeit werden. 
Die Wirklichkeitswerdung des Unwahrscheinlichen – Ödipus’ Tötung seines Vaters, seine leibliche Vereinigung mit seiner eigenen Mutter sowie Ödipus’ Eigenblendung –, des schlimmstmöglichen Falles also, des Unfalls im wörtlichen Sinne, ist in EMTERS Vorstellung der Dürrenmattschen Dramaturgie wiederspiegelt:

„Nicht der Regelfall, sondern der Un-Fall im übertragenen Sinne, der Fall, der nicht die Regel ist, wird Gegenstand der Dramatik. [...] Dass sich der unwahrscheinliche Vorfall auf der Bühne immer zum Unfall, zur Katastrophe auswächst, ist durch Dürrenmatts Methode der ‚schlimmstmöglichen Wendung’ bedingt. Zu ihr muss der Dramatiker greifen, damit die Fiktion, weil sie sich im logischen und nicht im ontologischen Bereich abspielt, existentiell wird.“
(aus: Emter, „Friedrich Dürrenmatt: Dramaturgie des Unwahrscheinlichen“, S. 264 – 269)

Wirklichkeit: Die Prophezeiung der Pythia als Wahrscheinlichkeitsaussage über das Individuum Ödipus, die sich schlussendlich zufällig bewahrheitet, ist das eine. Ein anderes ist es aber, den in der Erzählung entstehenden Handlungsstrang und die ihm zugrunde liegenden Personenverhältnisse zu verfolgen, die Wirklichkeit zu rekonstruieren, die zur Erfüllung des Pythia-Orakels geführt hat und von etlichen Zufällen begleitet worden ist. Wesentlich ist zu sehen, dass für die diversen Protagonisten, die retrospektiv ihre Version der Handlung erzählen, unterschiedliche Wirklichkeiten vorherrschen, die aber alle in ihrer Form auch das Orakel der Pythia erfüllen würden. So bleiben am Ende nur die Pythia und der Leser als die Hüter der tatsächlichen Wirklichkeit, die zur Orakelerfüllung geführt hat. Vielleicht ist aber sogar diese angesichts der Umstände in Frage zu stellen. 
Zufälle und Irrtümer: Iokaste beispielsweise irrt in ihrem Glauben, Ödipus’ Mutter zu sein und den Gardeoffizier Mnesippos als Ödipus’ Vater zu kennen. Dennoch sieht sie das Orakel nach der Tötung des Offiziers durch und nach ihrer Hochzeit mit Ödipus erfüllt. Wie Iokaste hält auch Tiresias die Gattin des Laios und den Gardeoffizier für Ödipus’ Eltern. Lediglich die Sphinx weiss, dass sie selbst als Resultat einer Vergewaltigung durch Laios’ Wagenlenker Polyphontes Ödipus gebar. Ein Zufall stellt jedoch der Umstand dar, dass die Laios und seinen Wagenlenker Polyphontes just an jenem Tag aus der Stadt Theben schickt, an welchem sie auf Ödipus treffen, und dieser seinen Vater sowie seinen Grossvater tötet.
Ödipus: Was den Protagonisten selbst betrifft, Ödipus, so kann immerhin behauptet werden, das sein Glaube an die Götter und somit auch an die Wahrheit des Orakels ihn zu einem Realisierungsversuch des Orakelinhalts veranlasst, zumal er nach eigenen Worten seine wirklichen Eltern „mehr als alles andere“ (S. 292) hasst. Dass er aber nach der Verkündigung des Orakels Apolls in einem Engpass zwischen Delphi und Daulis ausgerechnet auf Laios und seinen Wagenlenker Polyphontes trifft, ist reiner Zufall. In seinem irrtümlichen Wahn, in Laios seinen Vater und folglich in dessen Gattin Iokaste seine Mutter zu gefunden zu haben, verkennt der Held, zufällig auch schon seinen leiblichen Vater Polyphontes getötet sowie seiner leiblichen Mutter Sphinx beigeschlafen zu haben. Seine Blendung wird ironischerweise zum Zeichen dafür, dass er die Wahrheit tatsächlich verkannt und noch immer nicht erkannt hat.
Uneruierbare Wirklichkeit: Zum Schluss der Erzählung ist eine mögliche Wahrscheinlichkeitskette konstruiert worden, die zur Erfüllung des Pythia-Orakels geführt hat. Wie schon gesagt sind es nur der Leser und die Pythia, die sie kennen; die Schatten der Informanten, die mit ihren Aussagen Licht auf die mögliche Wahrscheinlichkeitskette geworfen haben, glauben alle an eine andere, eigene Wirklichkeit. Spätestens jetzt muss auch der Wahrheitsgehalt dieser Wirklichkeit hinterfragt werden. Pythia tut dies, indem sie das ihr Mitgeteilte für Lügen hält:

„’Alle lügen’, stellte die Pythia fest.
‚Wer lügt?’ fragte Tiresias, immer noch in sich versunken.
‚Die Schatten’, antwortete die Pythia, ‚keiner sagt die ganze Wahrheit, ausgenommen Menoikeus, aber der ist zu dumm, um zu lügen. Laios lügt und die Hure Iokaste lügt. Sogar Ödipus ist nicht ehrlich.’“
(S. 298)

Tiresias referiert seinerseits sogar auf die Thematik der nur ungefähren Menschen, die eine Eruierung der Wahrheit verhindern:

„’[...] Warum, Pannychis, sagen die Menschen nur die ungefähre Wahrheit, als ob es bei der Wahrheit nicht vor allem auf die Details ankomme? Vielleicht weil die Menschen selbst nur etwas Ungefähres sind. Diese verfluchte Ungenauigkeit. [...]’“
(S. 301 f.)

Hat folglich zuerst – um die beiden Aspekte der Dramaturgie des Zufalls noch einmal zu nennen – eine Verkettung von Zufällen die Unwahrscheinlichkeit Wirklichkeit werden lassen, so scheint nun letztendlich auch die Wahrheit bezüglich der Personenverhältnisse und der Ereigniskette, die zu dieser Unwahrscheinlichkeit geführt hat, nicht mehr mit völliger Sicherheit rekonstruierbar. Somit bleibt die Wahrheit der Vergangenheit dem Rückblickenden unzugänglich. Fast schon programmatisch muten in diesem Zusammenhang Tiresias Worte an, wenn er zur Pythia und zu ihren Bemühungen, die Wahrheit zu entdecken, meint:

„’Kümmere dich nicht darum, Alte’, lachte Tiresias, ‚lass sein, was doch anders war und immer wieder anders sein wird, je mehr wir forschen. [...] Die Wahrheit ist nur insofern, als wir sie in Ruhe lassen. [...]’“
(S. 310)

Was für die Erzählung gilt, nämlich das Prinzip des Zufalls der Handlung und der Unmöglichkeit einer wahrheitsgemässen Rekonstruktion derselben, kann denn auch als Kommentar für den Mythos und dessen Fortschreibung als solche verstanden werden, was sich in Tiresias’ Worten ausdrückt:

„’[...] aber Ödipus wird weiterleben, als ein Stoff, der uns Rätsel aufgibt. Ist sein Schicksal nun durch die Götter bestimmt oder dadurch, dass er sich gegen einige Prinzipien, welche die Gesellschaft der Zeit stützten, versündigt hat, wovor ich ihn mit Hilfe des Orakels zu bewahren suchte, oder gar, weil er dem Zufall zum Opfer fiel, hervorgerufen durch deine launische Orakelei?’“
(S. 313)

3.) Literatur

Primärliteratur:

Dürrenmatt, Friedrich: „Das Sterben der Pythia“. In: Der Mitmacher. Ein Komplex. Zürich:  Diogenes TB 23054, 1998. S. 274 – 313.

Dürrenmatt, Friedrich: „Die Brücke“. In: Turmbau. Stoffe IV-IX. Zürich: Diogenes TB 23069,  1998. S. 85 – 111.

Dürrenmatt, Friedrich: „Schicksal und dramaturgische Notwendigkeit: Ödipus, Wagner,  Verdi, Shakespeare, Brecht“. In: Der Mitmacher. Ein Komplex. Zürich: Diogenes TB  23054, 1998. S. 268 – 274.

Sekundärliteratur:

Emter, Elisabeth: „Friedrich Dürrenmatt: Dramaturgie des Unwahrscheinlichen“. In (dies.):  Literatur und Quantentheorie: Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur  Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925 – 1970). Berlin, New York: de  Gruyter, 1995, S. 218 – 270. 

 
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