Therapeutische Märchen

Einleitung

Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem Einsatz von Märchen innerhalb einer Therapie, exemplarisch dargestellt anhand zweier Beispiele aus dem Themenbereich Angst und Symbiose und deren Bewältigung. Zu Beginn sollen zunächst die besonderen literarischen Merkmale der Märchen herausgearbeitet werden, welche diese Art von Geschichten von anderer Literatur so deutlich abhebt. Hierbei sind auch die spezifischen Ursachen dieser Differenzen von Bedeutung, die aus diesem Grunde kurz umrissen werden sollen. Später werden diese Merkmale, die allen Märchen gemeinsam sind, in Beziehung zur Lehre C.G Jungs gesetzt, woran deutlich wird, inwiefern eine Psychotherapie im Sinne Jungs vom Einsatz eines auf die Probleme und Konflikte des jeweiligen Klienten zugeschnittenen Märchens profitieren könnte.

Die exemplarische Analyse und Interpretation zweier Märchen aus dem Bereich Angst- und Symbiosebewältigung, wird besonders im Hinblick auf die Handlungssukzession und den Symbolgehalt untersucht. Im Anschluss wird aufgezeigt, wie die zuvor erarbeiteten Interpretationen innerhalb einer Therapie einsetzbar wären und inwiefern sie zu einer Verbesserung der Situation des Klienten beitragen könnten. Schließlich sollen die Märchen sowie die damit in Beziehung stehenden Therapieansätze verglichen werden, um die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Angst- und Symbiosetendenzen aufzuzeigen und Erfahrungen von Therapeuten mit den entsprechenden Märchenarten innerhalb einer Therapie zu schildern.

Die Interpretation und Auswertung der Märchen stützt sich vor allem auf das Werk ,,Wege aus Angst und Symbiose" von V. Kast (im Folgenden als Kast, WAS gekennzeichnet), welches interessante und fundierte Interpretationsansätze enthält. Auch andere Werke von V. Kast waren für die Erarbeitung dieses Themas sehr hilfreich, da an diesen die Vorgehensweise von Frau Kast innerhalb ihrer Therapien anschaulich dargestellt wird.

Linguistische Besonderheiten der Märchen

Darstellungsformen


Die Darstellung Verena Kasts ,,In der Jungschen Schule betrachten wir Märchen als symbolische Darstellungen von allgemeinmenschlichen Problemen und von möglichen Lösungen dieser Probleme" (Kast, Wege aus..., S. 7) zeigt bereits einige bedeutende Merkmale von Märchen auf. Sie beschreiben nicht, wie die Sage, Begebenheiten, die als ,,völlig einmalig" (Bettelheim, S. 46) dargestellt werden, die also ,,keinem anderen Menschen ...und in keinem anderen Rahmen" (ebd.) hätten passieren können, sondern behandeln implizit Konfliktsituationen, wie sie im Leben jedes Menschen vorkommen. Es kann sich also jedermann davon angesprochen fühlen und dem Märchen einen Sinn abgewinnen.

Dies wird innerhalb der Märchen so leicht möglich, da die auftretenden Charaktere, selbst die Haupthandlungsfiguren, ,,obwohl sie menschliche Charakteristika aufweisen, ...nicht ganz menschlich" (v. Franz, S. 12) sind, denn Einzelheiten über sie ,,werden nur erzählt, wenn sie sehr wichtig sind. Die Charaktere sind nicht einmalig sondern typisch" (Bettelheim, S. 15). Darüber hinaus sind die auftretenden Märchengestalten ,,nicht ambivalent, also nicht gut und böse zugleich" (ebd.). Protagonist und Antagonist sind leicht zu bestimmen und von Beginn an in ihrem Handeln auf diese Positionen festgelegt.

Ein weiteres bedeutsames Merkmal von Märchen ist ihre Bild- und Symbolhaftigkeit. Diese verleiht dem Märchen ,,diesen besonderen Zauber ...des Nichtwissens" (Poser, S. 21) , indem es eine vielschichtige Deutung ermöglicht, denn ,,Bilder sind nie eindeutig" (Kast, WAS, S. 9). Jeder Leser kann also das Märchen in Bezug auf seine konkrete Lebenssituation auffassen und deuten. Dies macht einen besonderen Reiz der Märchen aus, denn im Gegensatz zu vielen Gelegenheiten im Leben kann man ein Märchen ,,immer auch anders interpretieren....eine `richtige´ Interpretation gibt es nicht" (ebd.), so dass hier keine Experten- oder Kontrollinstanz eine einheitliche Deutung vorschreiben kann.

Ein anderes allen Märchen gemeinsames konstituierendes Element ist der finale Sieg des Guten und die Bestrafung des Bösen. Der allgemeinmenschliche Wunsch nach Gerechtigkeit ist hier angesprochen: Wer sich den gesellschaftlichen Regeln gemäß verhält, wird anerkannt und erhält am Ende die ihm zustehende Belohnung, wer aber gegen die Regeln des Miteinanderlebens verstößt, wird seiner gerechten Strafe nicht entgehen. Diese Entwicklung ist typisch und findet sich beispielsweise in ,,Frau Holle", darüber hinaus auch in zahlreichen anderen Märchen. Dem Wunsch nach einer höheren Gerechtigkeit und anderen ordnenden Instanzen liegen die tiefen existentiellen Bedürfnisse und Ängste des Menschen zugrunde (vgl. Bettelheim, S. 17f), wie ,,das Bedürfnis, geliebt zu werden, und die Furcht, als nutzlos zu gelten; die Liebe zum Leben und die Furcht vor dem Tode" (ebd.).

Das Märchen offenbart ein solches ,,existentielles Dilemma kurz und pointiert" (Bettelheim, S. 15). Zumeist setzt die Erzählung zu dem Zeitpunkt ein, in dem für die Hauptfigur eine Situation entsteht, mit der sie nicht weiterleben kann, der ,,Fortgang des Lebens wird bedroht" (Kast, Wege aus..., S. 7), so dass ein Ausweg gefunden werden muss, um das weitere Existieren zu sichern. Der Märchenheld muss also eine Entwicklung durchmachen, die ihn zu neuen Erkenntnissen führt. Dies ist zumeist mit dem Zurücklegen einer langen Reise oder Wanderung verbunden, auf der dem Helden Figuren begegnen, die ihn auf seinem Lebensweg weiterbringen, sei es durch einen weisen Rat oder durch einen Angriff, dessen der Held sich erwehren muss, um weiterzukommen.
,,Prüfung und Bewährung, Befreiung und Erlösung gehören ebenso zum immer wiederkehrenden Themenkatalog des Märchens wie die Spannung zwischen Schein und Sein" (Poser, S. 21). Am Ende seiner Reise hat der die Erfahrungen gemacht, die für seine adäquate Entwicklung nötig waren und kann in der so entstandenen Situation bestehen und sein Leben fortsetzen. Das Märchen bietet also eine Orientierungshilfe für den Leser insofern, als es ,,zeigt, welcher Entwicklungsweg aus [einem] .. Problem heraus- und in eine neue Lebenssituation hineinführt" (Kast, Wege aus..., S. 8).

Betz bezeichnet Märchen zusammenfassend als ,,eine Sammlung poetisch gestalteter Menschheitserfahrungen..., die immer noch zu faszinieren vermag, weil dort allen Menschen gemeinsame Erfahrungen mittels Bild und Symbol zum Ausdruck gebracht werden" (Betz, S. 10). Letztendlich liegt die Faszination, die Märchen auf die Menschen ausüben, auch in den vielfältigen Möglichkeiten begründet, die sie dem Leser bieten. Neben den bereits genannten offenen Interpretationsmöglichkeiten kann man auch den persönlichen Stellenwert, den man ihnen in seinem Leben einräumt, frei wählen. Möchte man sich mit ihrer inneren Bedeutung nicht näher befassen, können sie ebenso zur reinen Unterhaltung dienen.
,,Das Märchen gibt Anregung dazu, wie psychische Prozesse weitergeführt werden könnten, ohne direkt zu fordern, daß diese Anregungen auch verwirklicht werden müssen. ...Es ermöglicht Selbsterkenntnis und gibt Anregung zur Veränderung einer Lebenssituation" (Kast, Märchen als Therapie, S. 103)
Im Gegensatz zu anderen Arten von Geschichten, die beispielsweise belehren oder moralisieren wollen, wie Fabeln oder Mythen, überlässt ,,uns ...das Märchen...alle Entscheidungen, auch die Entscheidung, ob wir überhaupt einen Schluss daraus ziehen wollen" (Bettelheim, S. 53).

Entstehung


Viele der besonderen Merkmale von Märchen liegen in ihrer Entstehung und Tradierung begründet. So wird der typische, vollkommen antiindividuelle Charakter der Figuren von Literaturforschern mit der Art ihrer Verbreitung erklärt. Die meisten Märchen wurden lange Zeit nur mündlich weitergegeben, wobei jeder Erzähler die jeweilige Geschichte ein wenig veränderte, indem er ihm unwichtig erscheinende Details wegließ und im Gegenzug eventuell neue, spannendere oder zur jeweiligen Gelegenheit passende, interessante Elemente hinzudichtete (vgl. Bettelheim, S. 34).
Durch diese ständigen willkürlichen Veränderungsprozesse blieben letztendlich nur die zentralen Elemente der jeweiligen Geschichte und ihrer Charaktere erhalten. ,,Alles, was individuell oder lokal war, ist hier zu einem großen Ausmaß herausgewaschen, da es nicht von allgemeinem Interesse ist" (v. Franz, S. 15). Aufgrund dieser Prozesse nahmen die Märchen ,,allmählich einen offenen und einen versteckten Sinn an" (Bettelheim, S. 11): Zum einen den der Unterhaltung und Erheiterung, als Erzählung für Kinder, die Phantasie und bildhaftes Denken fördert, zum anderen den, eine Reflexion über ,,die inneren Probleme des Menschen...und über die richtige Lösung für seine Schwierigkeiten in jeder Gesellschaft" (ebd.) zu ermöglichen.

Die starke Bild- und Symbolhaftigkeit der Märchen führt Maier auf die unserer heutigen eher rationalistisch orientierten Ausdrucksweise diametral gegenübergesetzten Art der Erzählung zurück, die in früheren, also im Fall der Grimmschen Märchen vorromantischen Zeiten üblich war. Er bezeichnet Märchen als ,,Dokumente einer Bewusstseinsphase, in der die Menschen noch keine Not damit hatten, ihr Bildpotential ins Tagesbewusstsein zu heben, in der ihnen noch selbstverständlich war, sich in Bildern auszusagen und zu verständigen" (Maier, S. 9f).
Die besondere Bedeutung der Märcheninhalte für die Menschen aller Zeiten wird an ihrer jahrhundertlangen mündlichen Tradierung und der letztendlichen schriftlichen Aufzeichnung durch Sagen- und Märchenforscher wie beispielsweise Jakob und Wilhelm Grimm deutlich:
,,Die Menschen wollten die Weisheit vergangener Zeiten sich selbst ins Gedächtnis rufen und künftigen Generationen weitergeben" (Bettelheim, S. 34).

Die Nixe im Teich


Angst in ihren verschiedenen Ausprägungen wird im Rahmen eines Märchens nur sehr selten thematisiert. Wendet man sich jedoch den Symbolen und Hergängen innerhalb der Handlung zu, entdeckt man schnell, dass in den meisten Märchen diese Angst zumindest latent vorhanden ist (vgl. Kast, WAS, S. 13).
Dieses im Märchen thematisierte Problem ist auch in der heutigen Gesellschaft weit verbreitet (vgl. Täeni, S. 8ff). Insofern können zahlreiche Märchen in entsprechenden Therapien zum Einsatz kommen, da sich jedes von ihnen vornehmlich mit einem speziellen Aspekt von Angst befasst. Exemplarisch für ein solches innertherapeutisches Vorgehen soll hier das Märchen ,,Die Nixe im Teich" analysiert werden, welches von der Angst vor einem übermächtigen, den Menschen verschlingenden Gefühl handelt.

Handlung und Symbole


Zu Beginn des Märchens wird die Situation eines Müllers geschildert, der früher im Wohlstand lebte, jedoch von Jahr zu Jahr mehr von seinem Reichtum verlor und nun verzweifelt und in Armut lebt. Der Müller ernährt sich und seine Familie durch das Arbeiten der Mühle, deren Mühlrad vom fließenden Wasser angetrieben wird. Das Hauptmotiv des Märchens, das Wasser, findet also gleich zu Beginn Erwähnung. Wasser wird in der Traumdeutung als ,,das Symbol des Unbewußten" betrachtet, das ,,Lebensspender und Lebenserhalter" (Fink, S. 370) für den Menschen ist. Es wird auch darauf hingewiesen, dass strömendes Wasser stets eine positive Bedeutung hat. Dies gilt hier auch für den Müller: Solange der Fluss strömt, kann er sich und seine Frau ernähren, sie besitzen ,,Geld und Gut" (WAS, S. 81) und ihr Wohlstand wächst. Die Einträglichkeit der Mühle steht hier für das emotionale Verhältnis des Müllers zu seiner Frau. Zunächst ist der Strom des Unbewussten von ihm zu ihr noch intakt, das Verhältnis ist in Ordnung und für beide ertragreich, sie führen ,,ein vergnügtes Leben" (ebd.). Jedoch verändert sich dieser Zustand, ,,Jahr für Jahr" (ebd.) schwinden die Kräfte des Beziehungsflusses. Kast verweist an dieser Stelle auf die Kinderlosigkeit des Paares, die mit dem ,,ausgetrockneten Bewußtseinsleben" (Kast, WAS, S. 86) des Müllers einhergeht. Dieser hat den Bezug zu seiner Frau verloren, was sich bereits darin äußert, dass ihm ihre Schwangerschaft nicht bewusst ist (vgl. WAS, S. 81), als er der Nixe, in deren Bann er gerät, das als Belohnung für ihre Hilfe verspricht, ,,was eben in [seinem] ... Haus jung geworden ist" (WAS, S. 81).
Zwischen dem Müller uns seiner Frau scheint ,,die Beziehung zu den Emotionen, zum Eros abhanden gekommen" (Kast, WAS, S. 86) zu sein, was der Nixe die Möglichkeit gibt, ihn in ihren Bann zu ziehen. Denn Nixen verkörpern, was ihm in seinem Leben derzeit fehlt, sie gelten ,,als ausgesprochen leidenschaftlich und bringen es immer fertig, daß ein Mann seinen Kopf verliert, daß er ganz seinen Leidenschaften, Emotionen, Phantasien hingegeben ist" (Kast, WAS, S. 87). Insofern bringt die Nixe dem Müller eine Erfahrung wieder nah, die er vergessen zu haben schien, eine Erfahrung, die ihn wieder ,,reicher" (WAS, S. 81) werden lässt. Doch wird an ihrer Forderung bereits deutlich, dass mit der Wunscherfüllung das dem Müller innewohnende Problem nicht etwa gelöst, sondern lediglich auf seinen Sohn verlagert worden ist. Nun steht der Sohn unter dem ständigen Einfluss der Nixe, denn er wurde ihr ja vom Vater versprochen (ebd.). So muss letztendlich der Sohn das Problem lösen, das ,,seine Eltern nicht gelöst haben, ....er wird, im Zusammenhang mit der Liebe, von wilden Emotionen erfaßt werden, die ihn weit wegtragen von allem Menschlichen" (Kast, WAS, S. 89f).
Um ihn vor diesem ,,Überwältigtwerden vom Unbewußten" (WAS, S. 87), welches das ins-Wasser-gezogen-werden ja bedeuten würde, zu bewahren, wendet der Müller zahlreiche Gegenmaßnahmen an. Um seine Angst zu beschwichtigen, teilt er sie mit allen Verwandten und Bekannten, die zur Geburt des Sohnes erscheinen. Diese wissen ihm jedoch auch keinen Rat zu geben (vgl. WAS, S. 82). Der Knabe selbst wird stets gewarnt, sich von dem gefährlichen Teich fernzuhalten. Man versucht also, ihn der Gefahr durch die Nixe gar nicht erst auszusetzen. Der Müller weiß genau um die Art der Bedrohung und um die Aussichtslosigkeit des Widerstandes (ebd.). Um den Sohn vor diesem gefährlichen Bereich seines eigenen Unbewussten zu schützen, wird eine ,,Schulung der anderen Bereiche des Unbewußten" (Kast, WAS, S. 90) angestrebt, damit er sich der zu erwartenden Probleme im Umgang damit leichter stellen kann und vorbereitet ist.
Dieser Plan scheint zunächst erfolgreich zu sein: Der Knabe wächst auf, ohne je von der Nixe zu sehen oder hören. Er wird ein erfolgreicher Jäger und kann sogar in bescheidenem Maße eine Beziehung zum Weiblichen aufnehmen, was an dem kleinen gemeinsamen Haus mit seiner Frau deutlich wird. Dennoch beginnt sich gerade an diesem Punkt die Bedrohung durch die Nixe zu manifestieren. Darauf weist zunächst die Tatsache hin, dass er nun beginnt, eine emotionale Beziehung zum Weiblichen zu entwickeln, was Voraussetzung für die von der Nixe vertretene Problematik ist (vgl. Kast, WAS, S. 91). Darüber hinaus wird dies am Symbol der ,,Jagd" nach dem Reh deutlich: ,,man glaubt zu jagen und wird selbst gejagt" (Fink, S. 176).
Während der Jäger dem Reh folgt, begibt er sich ahnungslos in den Machtbereich der Nixe. Eine solche Entwicklung ist märchentypisch, locken doch ,,Hirsche und Rehe....in den Märchen die Helden immer in eine jenseitige Sphäre", wo sich ,,Wandlung" (Kast, WAS, S. 91) abspielt. So führt ihn hier das Bedürfnis, seine blutigen Hände zu waschen, an den Teich der Nixe. Das Symbol der ,,Hände" wird oft als männlich-weibliche Beziehung interpretiert (vgl. Fink, S. 247), während ,,Blut" für ,,blutvolle Leidenschaft" (Fink, S. 199) steht. Man kann also vermuten, dass die Sehnsucht nach der leidenschaftlichen Verbindung zwischen Mann und Frau den Jäger in die Arme der Nixe treibt, weil diese in der Beziehung zu seiner Frau in gewissem Masse entbehren muss. Hier wird wieder die Paarproblematik seiner Eltern deutlich, mit der er sich nun als Schuldner (vgl. WAS, S. 81) auseinander zu setzen hat. Der Teich ist hier zu verstehen als ,,Sinnbild der noch-nicht-geformten, gestaltsuchenden Kräfte" (Betz, S. 37), welche sich in der Nixe offenbaren. Wie von seinem Vater prophezeit, gerät der Sohn sofort in die Fänge der Nixe, welche ihn unter Wasser, in eine ,,Regression ins Unbewusste" (Kast, WAS, S. 88) zieht. Er ist damit für seine Frau, die am Abend sein Ausbleiben sogleich richtig interpretiert und an den Teich eilt, zunächst ,,verloren" (Kast, WAS, S. 92), da er selbst nicht in der Lage ist , sich aus seiner ,,Nixenfaszination" (Kast, WAS, S. 100) zu lösen.

Nachdem die Frau versucht hat, durch Einkreisen des Problems (vgl. Kast, WAS, S. 93) zu einer Lösung zu gelangen, schläft sie schließlich ein. Im Traum wird ihr die Lösung ihres Problems aufgezeigt: Sie muss den Berg hinaufsteigen zu der alten weisen Frau, um von ihr einen Rat zu erhalten. In der sofortigen Umsetzung, während der die Jägerfrau alles so vorfindet, wie im Traum vorhergesehen, wird deutlich, dass im Märchen zwischen Traum und Wachleben keine Unterscheidung gemacht wird (ebd.). Träume im Märchen gehören beinahe ausnahmslos zur Kategorie der ,,Wahrträume" (Kurth, S. 25), in denen die ,,träumende Person ... von Dingen oder Zuständen [erfährt], die ... später Wirklichkeit werden" (ebd.). Die Frau muss den bereits im Traum gesehenen Berg hinaufklettern, um zu der weisen Alten zu gelangen. Das Symbol des Berges ,,deutet auf Probleme hin, die vor uns aufragen" (Fink, S. 195), im Falle der Frau also der verlorene emotionale Kontakt zu ihrem Mann. Es wird in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen, dass ein erfolgreich erklommener Berg auf einen Erfolg im Leben hindeutet, der spätere Abstieg auf das Ende eines Lebensabschnittes, hier kann er demzufolge als eine Vorausdeutung auf den Erfolg der Frau in der Zurückgewinnung ihres Mannes gesehen werden.

Die weise Frau auf dem Berg bietet der Jägerfrau ,,ein Gefühl von Hilfe" (Kast, WAS, S. 93), indem sie ihr den goldenen Kamm zur Bekämpfung des Nixeneinflusses auf den Mann reicht und erklärt, wie sie vorgehen muss. Die Alte kann als ,,gütiger Mutteraspekt" (ebd.) interpretiert werden, der zum verderblichen Einfluss der negativ-weiblichen Nixe diametral gegenübergesetzt ist und dessen Erscheinen hier bereits andeutet, ,,daß nach einer Phase der Behinderungen ... ein befreites Lebensgefühl sich einstellen wird" (ebd.). Nach dieser Begegnung macht sich die Jägerfrau dann auch getröstet (WAS, S. 83) auf den Weg zurück. Um ihr Vorhaben realisieren zu können, muss sie allerdings auf das Erscheinen des Vollmondes warten. Der ,,Mond" (Kurth, S. 217) ist immer ,,Anzeichen für einen Wechsel oder eine Veränderung" (ebd.), in diesem Falle für das sich langsam wandelnde Verhältnis zwischen Frau und Mann, welches beginnt, ihn der Herrschaft der Nixe zu entreißen. Sie muss aber warten, bis der Mond als volle ,,Scheibe am Himmel" (WAS, S. 83) erscheint, denn dann hat das ,,ursprünglich Weibliche, ... das Kraft verspricht" (Fink, S. 291) die meiste Macht, um sich der Nixe entgegenzusetzen.
Die Frau setzt sich dann ans Ufer des Teiches und kämmt ,,ihre langen schwarzen Haare mit dem goldenen Kamm" (WAS, S. 83). Sie verwendet damit ein typisches Mittel, mit dem die Nixen ihre Opfer anlocken (vgl. Kast, WAS, S. 97). In der Traumdeutung hat das ,,Kämmen" (Fink, S. 261) die Bedeutung, das Haar in Ordnung zu bringen, also ,,übertragen: Man schafft Ordnung in seinem Triebleben und gewinnt dadurch das Herz des Partners" (ebd.).
Die Frau soll hier die ihr selbst innewohnenden nixenhaften Züge kultivieren, um ihren Mann der Nixenfaszination zu entziehen (vgl. Kast, WAS, S. 100).
Dass die Frau hier mit einer Verhaltens- und Einstellungsänderung auf das Gefühlsleben ihres Mannes und auf ihr Paarverhältnis einwirken kann, erklärt sich, ,,wenn wir das Märchen als Problem und Problemlösung eines Paares auffassen, bei der beide den gleichen Grundkonflikt haben, hier den Grundkonflikt dieses Bedrohtseins durch die Nixe" (Kast, WAS, S. 94).
In diesem Falle kann derjenige eine Gegenentwicklung einleiten, der von dieser Bedrohung weniger stark beeinflusst wird und somit den Partner zu einer Entwicklung in die richtige Richtung anleiten. Dies geschieht auch hier: Der Kopf des Mannes taucht aus dem Wasser auf (WAS, S. 83), er beginnt sich also aus der Welt des Unbewussten wieder herauszuentwickeln, zu einer bewussten Wahrnehmung des Problems hin, welche eine Lösung bereits impliziert. Jedoch wird sein Kopf sogleich von einer Welle wieder in den See gezogen. Noch kann er also die Nixenfaszination nicht ablegen. Die Frau muss erneut aktiv werden und sich noch einmal die Hilfe der weisen Alten, der ,,archetypischen Mutter" (Kast, WAS, S. 95) holen. Diese reicht ihr eine goldene Flöte, mit der sie, abermals bei Vollmond, am Ufer des Sees spielen soll. Auch die Flöte gilt als Verführungsattribut der Nixen (ebd.). Die Frau muss also dieser neuentdeckte Seite explizit Ausdruck verleihen, um das Verhältnis zu ihrem Mann zu reaktivieren. Dieses Mal erscheint der Mann bis zur Hüfte, streckt sogar die Arme nach seiner Frau aus, kann sie jedoch nicht erreichen und muss erneut im See versinken (vgl. WAS, S. 84).
Die Macht der Nixe über den Mann wird zwar zusehends schwächer, ist aber noch immer wirksam, so dass er sich ihrer noch nicht entziehen kann.
Die Frau muss ein drittes Mal die Hilfe der Alten in Anspruch nehmen, um ihren Mann endgültig dem Unbewussten zu entreißen. Sie kehrt mit einem goldenen Spinnrad ans Ufer des Teiches zurück. Dort setzt sie sich nieder und spinnt, ,,bis der Flachs zu Ende und die Spule ganz mit dem Faden angefüllt" (WAS, S. 84) ist. ,,Spinnen" kann in diesem Zusammenhang in zweierlei Bedeutungen betrachtet werden. So steht es einerseits für den Vorgang des Ordnens chaotischer Verhältnisse (vgl. Kast, WAS, S. 97), wie sie die emotionale Situation zwischen dem Ehepaar wohl darstellen, andererseits kann es auch als Reflexion über die Paarbeziehung gesehen werden, in deren Verlauf eine positive Projektion auf den Mann stattfindet. Beide Erklärungen scheinen plausibel und können als abschließenden Grund für das darauffolgende Erscheinen des Mannes an der Wasseroberfläche gesehen werden. Er springt daraufhin an Land und flieht gemeinsam mit seiner Frau vor der Bedrohung durch den immer noch vorhandenen Einfluss der Nixe.
In diesem Stadium der Beziehung ist für das Paar die Gefahr, in eine wiederum verfehlte Form von Beziehung zu verfallen, besonders groß: ,,Mit entsetzlichem Brausen" (WAS, S. 84) und ,,reißender Gewalt" (ebd.) überflutet der Teich das Landstück, auf dem die Eheleute soeben fliehen wollen. Die ,,Überschwemmung" (Kurth, S. 294) weist darauf hin, dass ,,gewisse Triebe ... maßlos und unter Umständen gefährlich" (ebd.) werden, und deutet hier, im Zusammenhang mit der Verwandlung der Eheleute in einen Frosch und eine Kröte, auf die nunmehr ,,rein sexuelle Begegnung" (Kast, WAS, S. 98) zwischen ihnen, in der alles geistige verlorengegangen ist und ,,Individualität ... überhaupt keine Rolle mehr" (ebd.) spielt. Jedoch wird mit dem Symbol von Frosch und Kröte das positive Ende bereits angekündigt, denn beide sind ,,Tiere des Übergangs" (ebd.) und somit ,,Symbol für Wandlung" (ebd.). Zunächst jedoch nehmen beide wieder menschliche Gestalt an, haben sich jedoch aus den Augen verloren. Dies deutet einen besonderen Grad der Entfremdung innerhalb der Paarbeziehung an, die entstanden ist, ,,dadurch, daß sie sich nur als Gattungswesen...liebten und die Sehnsucht nach dem Menschlichen und auch nach dem geistigen Aspekt der Liebe unbeantwortet blieb" (ebd.).
Aus dieser Problematik resultiert die Notwendigkeit der individuellen und getrennten Entwicklung beider Partner, beide müssen für sich ,,Trauer und Sehnsucht ertragen" (ebd.) und während des Schafhütens nunmehr den Emotionsbereich kultivieren, ,,der der Nixenwelt polar gegenübergesetzt.." (ebd.) ist: ,,Die Sehnsucht in der Stille, die Bezogenheit auf sich selbst, die Besinnung" (ebd.). Nur so können sie wieder zu einer tragenden Paarbeziehung gelangen.
Die Wiederentdeckung dieser Beziehung wird durch die Bezeichnung der Jahreszeit bereits angedeutet. Im Frühling entsteht Neues (vgl. Kast, WAS, S. 99) und so begegnen sich Mann und Frau mit ihren Schafherden und ziehen gemeinsam weiter, ohne einander zu erkennen. Erst bei Vollmond, als sich der positiv-weibliche Komplex erneut in seiner vollen Macht konstelliert, wird es dem Mann möglich, seine Gefühle zu offenbaren. Das Flötenspiel weckt bei beiden die Erinnerung an den Partner und die frühere Beziehung. Nun erkennen sie einander wieder und können eine neue, ,,ganzheitliche" (ebd.) Art von Beziehung beginnen. Durch die Kultivierung ihrer eigenen ,,Nixenseiten" (Kast, WAS, S. 100) kann die Frau ihren Mann letztendlich der ,,Nixenfaszination" (ebd.) entreißen und mit ihm zu einer ganzheitlichen Beziehung von neuer Qualität gelangen.

Einsatz in der Therapie


Die Interpretation eines Märchens innerhalb einer Therapie befasst sich insbesondere mit ,,intrapersonalen Problemen, Schwierigkeiten und Fehlhaltungen des Individuums" (Maier, S. 4). Im Falle des Märchens ,,Die Nixe im Teich" könnte eine konkrete Therapiesituation so aussehen, dass der Mann sich im bewussten Leben vor nixenhaften Frauen fürchtet und aus diesem Grunde eine Lebensgefährtin gewählt hat, die keine nixenhaften Züge zu haben scheint. Sieht der Mann jedoch eine Nixe im Traum, fühlt er sich von dieser angezogen und ist im Anschluss einige Tage ,,für seine Freundin nicht mehr ansprechbar" (Kast, WAS, S. 93). Er ist wie der Jäger im Märchen der realen Welt entzogen und befindet sich im Reich der Nixe (vgl. WAS, S. 82). In dem von Frau Kast geschilderten Praxisfall wird diese Parallele besonders an der Gewohnheit des jungen Mannes deutlich, in diesen Phasen seine ,,Phantasien in seiner mit grünen Vorhängen verdunkelten Wohnung" (WAS, S. 93) auszuleben.
Seine Freundin steht diesen Entwicklungen stets hilf- und machtlos gegenüber und letztendlich leiden beide unter diesen zwischenzeitlichen Trennungsphasen (vgl. Kast, WAS, S. 92f). Das Märchen erteilt in diesem Fall den Rat, dass die Frau ihre eigenen nixenhaften Züge, die ihr innewohnen, kultivieren und ihn so der übermäßigen Nixenfaszination entreißen soll. Der Jägerfrau kommt im Märchen ein Traum zu Hilfe. Es wird also angedeutet, dass das eigene Unterbewusste der Frau ihr den Weg weisen kann und wird, wenn sie es zulässt. Um eine gesunde und reife Beziehung erreichen zu können, müssen beide Aspekte, das Triebhafte wie das Geistige, berücksichtigt werden.
Diese Notwendigkeit, aber auch Hoffnung auf Änderung werden im Märchen in Gestalt der hilfreichen alten Frau deutlich gemacht. Sie steht für das geistig-weibliche und zeigt somit auf, ,,wenn sich ein Aspekt eines archetypischen Geschehens... gewirkt hat und diese Wirkung emotional aufgenommen worden ist, wie sich der posititve Aspekt desselben Archetyps ...konstelliert und angibt, wie man aus der Situation sich herausentwickeln kann" (WAS, S. 95): Die Frau kann so den Mann aus seiner Verzauberung befreien.

Es wird jedoch sogleich darauf verwiesen, dass in diesem Fall nicht einer der Partner für den anderen eine Veränderung erreichen oder ihm eine Entwicklung abnehmen kann (vgl. Kast, WAS, S. 100), sondern dass sich vielmehr ,,beide auch unabhängig voneinander ...entwickeln müssen" (ebd.). Dies geschieht im Märchen symbolisch durch das Schafhüten, also die Konzentration und Besinnung auf sich selbst. So finden sie letztendlich wieder zusammen und über einen emotionellen Austausch gelingt es ihnen, im anderen wieder das Individuum zu erkennen, das verschiedene Seiten hat und als solches wahrgenommen und behandelt werden will.

Für die Therapie kann das Märchen also Wegweiser und Hoffnungsträger sein, indem es die Mangelsituation und einen Weg hinaus darstellt. ,,Zwischen dem Mangel des Anfangs und der Glückserfüllung am Schluß liegt der Konflikt oder eine Reihe von Konflikten, die der Held lösen muß" (Poser, S. 20). Die Märchenhelden dienen in diesem Fall ,,als Symbol für eine menschliche Haltung, die in dieser Situation angemessen wäre" (Kast, Märchen als Therapie, S. 9).
Das Märchen zeigt in seiner bildhaften Sprache die Chancen, aber auch die Gefahren auf, die auf dem Entwicklungsweg zur reifen Paarbeziehung beide Partner erwarten, es stellt ,,offen und verschlüsselt den erfolgreichen Kampf gegen Widrigkeit und Not, gegen Bedrohung und Angst" (Maier, S. 6) dar. Aufgrund dieses Erfolges und des glücklichen Endes für den Märchenhelden wird dem in der Therapie befindlichen Paar das Ziel seiner psychischen Beziehungsarbeit aufgezeigt; es wird aber auch ausdrücklich darauf verwiesen, dass dieses Ziel nur erreicht werden kann, ,,wenn die beiden bereit sind, miteinander einen Entwicklungsweg zu beschreiten" (Kast, Mann und Frau im Märchen, S. 121).