Märchen in der Therapie
Im Verlaufe einer
Psychotherapie muss es dem Therapeuten immer wieder gelingen, Sprechanlässe für
den Patienten zu schaffen, da eine gelungene Kommunikation und Interaktion
zwischen beiden Parteien die beste Voraussetzung für einen Therapieerfolg
darstellen. Für den Patienten ist es wichtig, seine Lebenssituation sowie die
bestehenden Konfliktmomente zu verbalisieren, um sie mit dem Therapeuten
gemeinsam bearbeiten und letztendlich durch gelenkte Reflexion zu einer
situationsadäquaten Denkens- und Handlungsweise gelangen zu können. Hier kann
der Einsatz von Märchen wertvolle Dienste leisten, da die Besonderheiten dieser
Geschichten spezifischen Ängsten von Therapiepatienten entgegenwirken und zu
einer Verbesserung ihrer Lebenseinstellung beitragen können.
,,In der Identifikation mit einem Märchenhelden oder einer Märchenheldin kann
man den Mut finden, sich mit einer eigenen Problematik
auseinanderzusetzen" (Kast, Märchen als
Therapie, S. 185). So kann der Patient über einen Märchenhelden, welcher vor
derselben Problematik steht wie er, Aussagen treffen, Vermutungen über die
Ursprünge seines Handelns anstellen oder Lösungsvorschläge unterbreiten, die
seiner eigenen Person nicht zugestehen würde oder die für ihn selbst emotional
noch zu bedrohlich erscheinen. ,,Die Arbeit mit dem Märchen - und das tut
Arbeit mit dem Märchen eigentlich immer - bewirkt .., daß er sich mit seinem Problem auseinandersetzen [kann].., daß er sich aber gleichzeitig auch so weit von ihm
distanzieren [kann]..., daß es ihn nicht lähmt"
(Kast, Die Dynamik der Symbole, S. 237).
Auf diese Weise ist es ihm möglich, sich der eigenen Problematik Schritt für
Schritt und stets nur soweit zu nähern, wie es für seine Psyche tragbar ist.
In diesem Zusammenhang sind
die im Märchen so vielfach anzutreffenden Bilder und Symbole von besonderer
Bedeutung, denn ,,im Kontakt mit den Bildern des Märchens wird etwas Tragendes
erlebt, die persönliche Geschichte, das persönliche Leiden werden in einem größeren
Zusammenhang gesehen, werden gespiegelt in einer Erfahrung, die Menschen schon
immer machen mußten" (Kast,
Märchen als Therapie, S. 206). Die Märchenbilder sprechen darüber hinaus
Aspekte des Unbewussten an, die, aller geistigen Kontrolle des Menschen entzogen,
trotzdem dessen Erleben und Handeln beeinflussen und ebenfalls
Veränderungsprozesse durchmachen müssen, soll die Therapie letztendlich
erfolgreich sein. Insofern ist es wichtig, dass der Therapeut zum richtigen
Zeitpunkt (vgl. Kast, Die Dynamik der Symbole, S.
231) ein entsprechendes Märchen einsetzt, um das Unbewusste zu erreichen und
eventuelle Fehlhaltungen oder -einstellungen zum Leben, die sich aufgrund
früherer Erfahrungen dort festgesetzt haben können, zu korrigieren. Denn ,,gerade die Belebung der Urbilder [hat] eine
Auswirkung ...auf die seelischen Grundkräfte Denken, Fühlen, Empfinden und Intuieren ... . Durch die Bilder werden alle diese
Fähigkeiten auf einmal angesprochen. Es ist einer Wurzel vergleichbar, die noch
alles zusammenfaßt, was sich dann nach obenhin
entfaltet" (Betz, S. 11). Ein Versuch der tiefgreifenden Bewusstseins- und Wahrnehmungsveränderung
eines Patienten, der innerhalb einer Therapie stets angestrebt werden muss,
soll sie eine tatsächliche Verbesserung der Lebensqualität des Patienten
bewirken, muss also an diesem Punkt ansetzen. ,,Dabei ist gerade die bildhafte
und aktualitätsfremde Darstellung des Märchens ein Hilfsangebot besonders
wertvoller Art, weil sie Wege offen läßt für das
Finden von eigenen und der individuellen Situation angepaßten
Lösungsmöglichkeiten" (Maier, S. 5).
Auf dem Weg zu einer auf
die Bedürfnisse des Patienten zugeschnittenen Lösung ist eine zeitweilige
Identifikation mit dem Märchenhelden von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
Diese Identifikation mit dem ,,Helden..., der durch sein Verhalten eine
Problemsituation aushält und den Weg beschreitet, der nötig ist, um das Problem
zu lösen" (Kast, WAS, S. 8) hilft dem Patienten
einerseits, indem sie seinem Gefühl der Isolation entgegenwirkt, andererseits,
indem sie durch die Geschichte und den erfolgreichen Kampf des Helden gegen die
widrigen Umstände, die ihn bedrohen, dem Patienten Hoffnung gibt. ,,Das Märchen hat zudem den Vorteil, daß
in ihm aufgezeigt wird, in welcher Haltung eine entsprechende Problematik ...
angegangen werden kann (Kast, Die Dynamik der
Symbole, S. 231), ohne ein solches Handeln aufzudrängen.
Der letzte und
entscheidende Aspekt der Märchenanalyse und -bearbeitung innerhalb einer
Therapie liegt in der Selbstreflexion des Analysanden.
Hat er anhand der Märchensymbole, Identifikation mit dem Helden und Bearbeitung
der Handlung seine eigene Problematik erkannt und gelernt zu akzeptieren, kann
er im letzten Schritt über das Märchen zur Reflexion über sich selbst und seine
konkrete Lebenssituation gelangen. Diese für den Analysanden
zumeist äußerst befriedigende Erfahrung (vgl. Kast,
Die Dynamik der Symbole, S. 236ff) durch die Arbeit am Märchen wird von
Bettelheim sehr treffend beschrieben: ,,Für die, welche sich in das vertiefen,
was das Märchen uns mitzuteilen hat, wird es zu einem tiefen, ruhigen See, in
dem sich zunächst nur unser eigenes Bild spiegelt. Aber dann entdecken wir
hinter diesem äußeren Bild die inneren Verwirrungen unserer Seele - ihre Tiefe
und Möglichkeiten, unseren Frieden mit uns selbst und der Welt zu machen, was
der Lohn unserer Mühe ist" (Bettelheim, S. 364).
Analyse und
Interpretation
Voraussetzungen
Für die Märchenanalyse und -interpretation kann man auf zweierlei bewährte
Deutungsweisen zurückgreifen. Die dem Helden begegnenden Personen oder Tiere
können subjektstufig oder objektstufig gedeutet werden. ,,Subjektstufige
Deutungsform meint: Jede Figur, die auftritt, kann auch als Persönlichkeitszug
des Träumers, hier im Märchen als Persönlichkeitszug der Heldenfigur, aufgefaßt werden" (Kast,
Wege aus Angst und Symbiose, S. 8). Eine objektstufige Deutung fasst die
auftretenden Figuren als Verkörperung der Menschen aus der näheren Umgebung der
Hauptfigur auf, die in seinem Leben und für seine Entwicklung herausragende
Rollen spielten oder noch spielen. Für die Interpretation eines Märchens sind
vor allem die ,,Entwicklungsverläufe, die Wege, die zurückgelegt werden ...,
die Situationen, in denen der Held sich aufhält oder aufgehalten wird"
(ebd.) sowie die auftretenden ,,Symbole" (ebd.) von Bedeutung.
Das Wort ,,Symbol" bedeutet ,,Sinnbild; Zeichen" (Drosdowski, S. 730)
und entstammt dem griechischen ,,symbállein",
das ,,zusammenwerfen, zusammenfügen" (ebd.) bedeutet. Dieser etymologische
Ursprung ist hier bedeutsam, da aus den Symbolen des Märchens gerade seine
tiefere Ausdeutbarkeit und Wirkung resultiert. Das
Symbol wird insofern als ,,ein sichtbares Zeichen einer ...unsichtbaren
ideellen Wirklichkeit" (Kast, Die Dynamik der
Symbole, S. 19) interpretiert. Erst die geistige Zusammenfügung des
Symbolwortes mit den eigenen, aus dem Unbewussten geschöpften Konnotationen
erschließt dem Analysanden die Möglichkeit zur
Erkenntnis seiner eigenen komplexen Emotions- und Verhaltensmuster.
,,Im Symbol verdichten sich Erfahrungen, psychische Inhalte, vor allem auch
Emotionen, die anders nicht darzustellen sind" (Kast,
Märchen als Therapie, S. 10).
Aus diesem Grunde ist eine adäquate Ausdeutung des symbolischen Märchengehalts
besonders wichtig. Kast erklärt diesen Vorgang folgendermaßen:
,,Wenn wir deuten, suchen wir jeweils die unsichtbare Wirklichkeit hinter [dem]
...Sichtbaren und ihrer Verknüpfung" (Kast, Die
Dynamik der Symbole, S. 20).
Zur Erhellung der Bedeutung von Symbolen kann man die Methode der ,,Amplifikation" (ebd.) anwenden, d.h. man versucht, zu
einem Motiv Parallelen zu finden, also intra- und intertextuelle Verweise auszumachen, die ein solches Symbol
tätigt (vgl. Kast, Wege aus Angst und Symbiose, S.
8f).
Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang Symbolausdeutungen, wie
sie im Rahmen der Jungschen Schule zur Traumdeutung gemacht wurden. Zwar müssen
zwischen dem Geschehen im Traum und im Märchen, was die Handlungsabläufe und
deren Bedeutung für den Märchenhelden bzw. den Träumer betrifft, Unterscheidungen
gemacht werden, dennoch lässt sich feststellen, dass ,,die Ähnlichkeit von
Traum- und Märchenmotiven ...evident" (Kast,
Märchen als Therapie, S. 130) ist.
,,Die tiefenpsychologischen Märchenforscher ...sehen im Märchen ähnlich wie im
Traum...Ausdrucksformen des Unbewußten" (Poser, S. 57). Aus diesem Grunde sollen die folgenden
Märcheninterpretationen neben den rein auf Märchen bezogenen Deutungen an
geeigneter Stelle auch Deutungen von Traumsymbolen einbeziehen, um
hintergründige Vorgänge im Märchen zu erhellen, wo zu Märchensymbolen keine
explizite Interpretation gefunden werden konnte.
Als Beispiele für die
Analyse- und Interpretationsverfahren, wie sie auch innerhalb einer Therapie verwendet
werden, sollen hier zwei Märchen aufgeführt werden, die mit ca. 150 anderen
Märchen zwischen 1812 und 1815 von Jakob und Wilhelm Grimm aufgezeichnet und
unter dem Titel ,,Kinder- und Hausmärchen" zusammengefasst und
veröffentlicht wurden. Der Band wird heute als ,,maßgebende Sammlung von
deutschen Volksmärchen" (Frenzel, S. 328)
bezeichnet. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang einige
Hinweise zur Bearbeitung der Märchen durch die Gebrüder Grimm. So bemühten sie
sich vor allem um die ,,Wiedergabe des kunstlosen Tons der volkstümlichen
Märchenerzähler" (ebd.) sowie eine ,,psychologische Vertiefung"
(ebd.).
Jorinde und Joringel ein Symbiosemärchen
,,Unter Symbiose verstehe ich das Verschmelzen eines Menschen mit einem andern
Menschen, einer Gruppe, einem Land usw." (Kast,
WAS, S. 103).
Der Begriff Symbiose entstammt ursprünglich der Biologie und umschreibt eine
funktionale Beziehung zwischen zwei Organismen, die beiden Nutzen bringt.
Strebt innerhalb einer Paarbeziehung ein Mensch nach Symbiose, so verbirgt sich
dahinter eine Sehnsucht nach Schutz und Geborgenheit. Je mehr er mit seinem
,,Wirt" verschmelzen kann, desto weniger muss er eigenverantwortliche
Entscheidungen treffen und sich selbst dem Leben stellen, weil dies der andere,
,,starke" Partner für ihn übernimmt. Der ,,Wirt" wird seinerseits
durch die Untergebenheit und Bewunderung des
symbiotisch Gebundenen in starkem Maße aufgewertet, so dass diese Art der
Beziehung beiden zunächst von Vorteil erscheint. Jedoch birgt eine solche
Beziehung, ,,die den Namen `Beziehung´ nicht verdient, denn zu einer Beziehung
gehören zwei sich von einander unterscheidende Menschen" (ebd.), für beide
Partner Probleme, die sich allerdings erst nach einiger Zeit eröffnen.
So wird der ,,Wirt" unweigerlich eines Tages der Unterwürfigkeit des
Gebundenen überdrüssig werden und versuchen, sich von diesem zu distanzieren,
da er erkennt, dass diese Art der Bindung für beide zu eng wird und der Partner
Gefahr läuft, sich völlig von ihm abhängig zu machen. Auf der Basis einer Abhängigkeit
kann jedoch keine reife, tragfähige Beziehung aufgebaut werden. Es muss
notwendigerweise eine Trennung erfolgen, um die individuelle Distanz zwischen
den Partnern wieder herzustellen.
In gewöhnlichen Paarbeziehungen findet ein Wechsel von symbiotischen und
trennenden Phasen statt, sodass beide Partner ihren individuellen Bedürfnisse
nachkommen können. Ist ein Partner zu diesem Wechsel nicht in der Lage, führt
dies stets in eine Konfliktsituation, ,,denn der symbiotisch Gebundene hat
große Angst, daß diese Beziehung...zerfällt"
(ebd.) und wird insofern versuchen, den ,,Wirt" noch enger an sich zu
binden. Dieser wird immer mehr idealisiert, so dass eine reale Beziehung kaum
mehr möglich wird. Der Weg aus dieser Problematik führt über die Individuation.
,,Ziel des Individuationsprozesses ist es, dass man zu dem Menschen wird, der
man eigentlich ist" (Kast, Die Dynamik der
Symbole, S. 9). Der symbiotisch Gebundene muss zu seiner eigenen Identität
finden und sich zu einem autonomen Individuum entwickeln. Darin liegt, den
Theorien der Jungschen Schule gemäß, der Schlüssel zu einer reifen
Partnerschaft, denn ,,es gibt niemals nur Entwicklung von Autonomie, Hand in
Hand damit geht immer auch die Entwicklung von Beziehungsfähigkeit" (Kast, Die Dynamik der Symbole, S. 13).
Diesen schwierigen Prozess illustriert das folgende Märchen: ,,In `Jorinde und Joringel´ werden die Schwierigkeiten und Entwicklungen auf
dem Weg zu einer reifen Partnerschaft treffend widergespiegelt" (Müller,
S. 14)
Handlung und Symbole
Die in diesem Märchen thematisierte Problematik kündigt sich bereits im Titel
an: ,,Jorinde und Joringel gleichen sich sehr in
ihren Namen" (Kast, WAS, S. 192).
Eine enge Verbindung dieser Figuren wird also bereits zu Beginn deutlich. Im
Sinne einer subjektstufigen Deutung könnte man die Figuren als zwei Seiten, die
männliche und die weibliche, einer Person deuten, welche zu einer besseren
Ausbildung und Verständigung der beiden Pole angehalten wird. Plausibler
scheint in diesem Falle jedoch die objektstufige Deutung zu sein, die Jorinde
und Joringel als Liebespaar betrachtet, wobei ,,der
Gleichklang der im Stabreim aufeinander abgestimmten Namen...eine ...fast
symbiotische Beziehung" (Müller, S. 33) verrät, eine ,,unbewußte
Identität" (ebd.) der Hauptpersonen, in welcher ,,sich auch das nahende
Unheil ankündigt" (ebd.). Beide Partner haben noch nicht das Stadium der
Eigenständigkeit und ,,inneren Ganzheit" (ebd.) erreicht. So müssen sie im
Verlaufe des Märchens einen Individuationsprozess durchleben, um zu einer
wirklich reifen Beziehung zu gelangen. ,,Diesem Menschenbild, dem es wesentlich
ist, man selbst zu werden, zu individuieren, ...
vertrauensvoll auf den Weg zu gehen und Verantwortung für sich selbst zu
übernehmen, ist das Menschenbild des Märchens verpflichtet" (Kast, Wege zur Autonomie, S. 10). Die in diesem Märchen
zwischen den Hauptpersonen herrschende ,,zu enge... Beziehung muß zuerst getrennt werden, damit eine neue Ganzheit
entstehen kann. Genau dies ereignet sich im dramatischen Verlauf unseres Märchens"
(ebd.).
Das Märchen beginnt mit der
Beschreibung des alten Schlosses mitten in einem ,,großen dicken Wald"
(WAS, S. ). Hat der Titel des Märchens bereits ein
Problem angedeutet, wird hier noch eine zusätzliche Information hinzugefügt:
,,Dieses Problem ist dem Bewußtsein noch
verborgen" (Müller, S. 20), was durch das Waldsymbol aufgezeigt wird. Der
Wald ist hier aber auch ,,Symbol für das Geheimnisvolle, ...ein Weg ins
Dickicht des Lebens" (Fink, S. 369), der von beiden beschritten werden
muss, um zu einem autonomen Selbst werden zu können. Dieser Weg führt hier
unmittelbar zu der ganz allein im Wald lebenden Erzzauberin (vgl. WAS, S. 190).
Die Erzzauberin steht in diesem Märchen in derselben Symbolkette wie der Wald,
sie ,,entspricht etwas Verdrängtem" (Kast, WAS,
S. 192) und verdeutlicht somit die Wichtigkeit dieser Eigenschaft im
Gesamtkontext. Sie kann sich in sowohl in eine Katze als auch in eine Eule
verwandeln, womit sie selbst und somit im übertragenen Sinne das verdrängte
Problem näher beschrieben wird.
So symbolisiert die Katze ,,das Triebhafte" (Fink, S. 263), ,,eine
instinkthafte Weiblichkeit, anschmiegsam - und doch eigenständig und
unberechenbar" (Kast, WAS, S. 193), die Eule
dagegen ,,die geistig-seherisch-weiblichen Fähigkeiten" (Müller, S. 24).
Die Zauberin repräsentiert diese beiden Teile des Weiblichen, kann sie jedoch
nicht vereinigen. In ihr wird also jene die Hauptfiguren beherrschende
Problematik, der Kampf ,,der Leidenschaft... mit dem Geist" (Fink, S. 134)
deutlich und so wird hier bereits die notwendige Konfrontation von Jorinde und Joringel mit diesen beiden verschiedenen Seiten der
Weiblichkeit offenbart.
Die Hexe verwandelt sich ihrem Schloss nähernde Jungfrauen in Vögel und sperrt
diese in Körbe. In der Traumdeutung ,,stellt der Korb ...oft ein Hindernis
dar" (Fink, S. 270).
Hier im Märchen macht die Gefangenschaft die Jungfrauen handlungsunfähig, sie
werden eingesperrt. ,,Es ist, wie wenn sich viele Hüllen über diesen Menschen
werfen würden" (Kast, WAS, S. 192), so dass die
Person in ihrer wahren Gestalt für den Partner nicht mehr erkennbar ist. Jene
speziellen Voraussetzungen gelten in dem Wald, in den Jorinde und Joringel eintreten. ,,Psychologisch bedeutet Wald ein
Sinnbild für das Ungeformte ... in den weglosen Tiefen der Seele" (Betz, S. 58). Jorinde und Joringel
sind in ihrer Persönlichkeit noch ungeformt und ungefestigt. Beide sind sehr
jung und noch nicht zur Autonomie fähig. Dies könnte ein Grund für die symbiosegeprägte Beziehung der beiden sein Diese Beziehung
ist also von einem den beiden noch nicht bewusst gewordenen Problem belastet.
Die Bedrohung, welche von diesem unausgesprochenen Konflikt ausgeht, wird im
Märchen anhand des Schlosses deutlich.
,,Das Schloß stellt ..., psychologisch gesehen, das
Zentrum des etablierten kollektiven Unbewußten dar...
so deutet sich hier bereits an, daß es sich um ein
allgemeines, wichtiges und zentrales Problem handelt" (Müller, S. 20), dem
man nicht durch Verdrängung entgehen kann. So übt denn das Schloss ,,geradezu
einen Sog" (Kast, S. 194) auf jene aus, die
verliebt sind, denn gerade bei diesen besteht häufig die Tendenz, den Partner
zu idealisieren und nur einer seiner Seiten die genügende Beachtung zu
schenken. Dieser Fehler unterläuft Joringel in diesem
Fall. Zwar weiß er um die besonderen Gefahren in der Nähe des Schlosses, trägt
aber dennoch unbewusst dazu bei, dass beide in dessen Bann geraten. Die
Vorahnung der beiden, ihre unerklärliche Traurigkeit sowie auf symbolischer
Ebene die Tageszeit, weisen bereits auf die kommenden Entwicklungen hin. Beiden
ist die Problematik ihrer Beziehung unbewusst, jedoch ist diese dabei, sich auf
emotionaler Ebene zu konstellieren. Dies
unterstreicht der Sonnenuntergang im Märchen, der die Wandlung vom Tag zur
Nacht bringt. Stilistisch wird hier das Heraufziehen der Katastrophe
vorbereitet.
Tatsächlich erweist sich die Erzählung von den Kräften der Erzzauberin als
wahr: Jorinde wird in einen Vogel verwandelt und in das Schloss gebracht, Joringel versteinert, so dass er ihr nicht helfen kann, bis
es zu spät ist. Hier wird die derzeitige Hilflosigkeit beider im Hinblick auf
die trennenden Elemente in ihrer Beziehung deutlich: Als sich das zuvor latent
vorhandene Problem ins Bewusstsein drängt, wird Jorinde sozusagen eingehüllt,
sie kann an ihrer Erhöhung durch Joringel, die sie
allem Menschlichen enthebt und zur Nachtigall emporstilisiert
(vgl. Kast, WAS, S. 194) nichts ändern. Joringel wird bewegungslos, er ,,erreicht seine Frau nicht
mehr" (ebd.). Seine Fixierung auf diese Idealisierung seiner Frau lässt
ihn unfähig werden, sie als Person zu erreichen und zurückzuholen: ,,die
Beziehung bricht ab" (Kast, WAS, S. 195).
Im Folgenden muss Joringel allein sein Leben meistern und ,,die Trennung
akzeptieren" (ebd.), indem er Schafe hütet. ,,Hüten heißt, etwas
zusammenhalten; eigentlich hüten die Märchenhelden sich selber" (ebd.). In
diesem Sinne ist auch die Tätigkeit Joringels hier zu
verstehen. Er umschreitet immer wieder mit seiner
Herde das Schloss, in dem seine Frau gefangen ist, allerdings ohne sich ihm zu
sehr zu nähern. Er macht sich also die in der Beziehung aufgetretene
Problematik bewusst, indem er sie systematisch umschreitet,
,,er sammelt sich" (ebd.). ,,Gleichzeitig ist Hüten auch ein Akt der Introversion; er besinnt sich auf sich" (ebd.).
Diese Selbstbesinnung ist notwendig, um die ,,unauflösbare Ambivalenz von
Sehnsucht und Angst" (Müller, S. 35) überwinden zu können, die ihn von der
Befreiung seiner Frau abhält. Da die Handlung im Märchen stets archetypisch zu
verstehen ist, wird hier auch angedeutet, dass man einem Problem erst gewachsen
sein sollte, ehe man sich an seine Lösung macht. Dieser Weisung leistet Joringel Folge. Er wartet auf eine Aufforderung, ehe er
handelt.
Diese erhält er schließlich eines Nachts im ,,erlösenden Traum" (ebd.):
Darin findet er eine blutrote Blume mit einer weißen Perle in der Mitte. Mit
dieser ist er fähig, den Bann der Zauberin zu lösen. ,,Im Blutrot steckt die
Leidenschaft..., Blut, Körperlichkeit" (Kast,
WAS, S. 196), während die Perle ein Symbol ist für ,,Licht, das im Dunkel
gewachsen ist" (Betz, S. 103). In der
Vereinigung von Körperlichkeit und Geist wird Joringel
also die Formel aufgezeigt, die den Zauberbann brechen kann. Das Auftauchen des
Traums an dieser Stelle macht deutlich, dass Joringel
fähig ist, die Möglichkeit und vor allem die Notwendigkeit der Vereinbarung
dieser beiden Seiten des Weiblichen bei seiner Frau zu erkennen und zu
verwirklichen. Die Zeit der Selbstbesinnung und des Hütens haben in ihm diese
Erkenntnis der Ganzheit möglich gemacht (vgl. Kast,
WAS, S. 196f), ,,das Gefühl für die Verbundenheit von körperlicher und
mystischer Liebe, das er nun als Erlebnis für sich gewonnen hat" (Kast, WAS, S. 196).
Nachdem er diese ,,Gegensatzvereinigung" (ebd.) zunächst in sich selbst
erkannt hat, ist er nun zur konkreten Handlung fähig, er erhebt sich und sucht
nach der Zauberblume. Die Blume mit dem Tautropfen in der Mitte, welche er bald
findet, zeigt zunächst an, dass es ein neuer Morgen angebrochen ist, Zeichen
der Wandlung und Erneuerung. Darüber hinaus hat Joringel
nun auch gelernt, ,,das Versteckte" (ebd.) zu sehen: Er erkennt im
Tautropfen die Perle. Somit hat er ,,seine Mitte gefunden" (ebd.), der
Bann der Zauberin ist gebrochen. Er kann Jorinde befreien, ,,es kann jetzt eine
reale Beziehung aufgebaut werden" (Kast, WAS, S.
197).
Einsatz in der Therapie
,,Das vorliegende Märchen zeigt, wie eine Entwicklung des Einzelnen und ebenso
des Paares möglich ist, auch wenn am Anfang einer Beziehung häufig noch nicht
jeder zu seiner eigenen Persönlichkeit gefunden hat" (Müller, S. 17).
Diese Analyse des Märchens durch Müller zeigt bereits dessen hauptsächlichen
Anwendungsbereiche und -möglichkeiten in einer Therapie auf: So wird dieses
Märchen, in dem besonders die zwei Seiten des Weiblichen und deren
Gleichgewicht von Bedeutung sind, vor allem in der Paartherapie Verwendung
finden. Charakteristisch könnte hier ein Paar sein, in dem der Mann die Frau -
auch über das Stadium der ersten Verliebtheit hinaus - idealisiert und
sozusagen auf einen Sockel stellt, von wo aus sie auf ihn herabblickt.
Verstellt sich der Mann auf diese Weise dauerhaft den Blick auf die Realität,
kann dies die Beziehung in eine schwere Krise stürzen, wenn nicht sogar
unmöglich machen, denn die Frau wird dann, wie Jorinde im Märchen, ,,der
menschlichen Gestalt beraubt, ...kann nicht mehr als Mensch agieren" (Kast, WAS, S. 197) und insofern auch keine Beziehung mehr
führen, da es ihr unmöglich gemacht wird, mit dem Partner zu kommunizieren oder
zu interagieren. Auch Jorinde wird ja als Nachtigall von Joringel
nicht mehr verstanden (vgl. WAS, S. 191). Der Mann kann, wenn er beinahe seine
gesamte Gefühlssphäre auf die Frau überträgt (vgl. Kast,
WAS, S. 197), dieses erhöhte Wesen nicht mehr erreichen, eine Beziehung wird so
unmöglich gemacht.
Paare, die solche oder
ähnliche Anzeichen symbiotischer Beziehung und/oder emotioneller Überhöhung
eines Partners aufweisen, könnten im Märchen ,,Jorinde und Joringel"
innerhalb einer Paartherapie wertvolle Erkenntnis- und Verhaltenshilfen gewinnen,
denn es stellt dar, ,,woraus der gesunde menschliche Wachstumsprozeß
besteht" (Bettelheim, S. 19) und wohin er in Bezug auf eine Paarbeziehung
führen soll: Der Mensch soll fähig werden, ,,in eine positive Beziehung"
(ebd.) zum anderen Geschlecht zu treten, indem er ,,sich selbst [findet]...und
psychologische Unabhängigkeit und moralische Reife" (ebd.) erlangt.
Es wird deutlich, wie eine
zu symbiotische Beziehung, in der trennende Elemente nur latent vorhanden sind,
letztendlich doch über eine Trennung führen muss, wenn sie zu einer gesunden,
realisierbaren Beziehung werden soll. ,,Beide sind zu symbiotisch aneinander
gebunden, und es bedarf einer Klärung, einer Aus-ein-andersetzung"
(Müller, S. 42) beider Partner mit den Ursachen und Begründungen dieser
Symbiose.
Das Märchen zeigt auch den
Weg der Beschäftigung mit der jeweiligen Paarproblematik auf: Der Betroffene
muss sich ,,seiner Innenwelt zuwenden" (Kast,
WAS, S. 198), sich auf sich selbst einlassen und konzentrieren. Dann, so
verspricht es hier das Märchen, wird das eigene Unbewusste dem Menschen den Weg
weisen, wie es Joringel im Traum erlebt. Die
Paarbeziehung kann hier jedoch nicht, wie es eventuell innerhalb anderer
Problematiken möglich ist, durch den bloßen Dialog der Partner gelöst werden. Vielmehr
sind innerhalb einer solchen Situation konkrete Entwicklungsschritte in
Richtung eines veränderten Erlebens und Erfahrens notwendig. Diese Entwicklung
muss derjenige vollziehen, ,,der von der symbiotischen Situation weniger
gelähmt ist" (ebd.). Geschieht dies, eventuell mit Hilfe eines Märchens,
so entsteht für beide Partner eine neue, bereichernde Beziehungssituation.