5.2  Statt des spanischen Königs wird ein französischer Fürst zum römisch-deutschen Kaiser gewählt, dann aber vom Thron vertrieben.

Die Mehrheit der sieben Kurfürsten einigt sich darauf, den spanischen König zum neuen römisch-deutschen Kaiser zu wählen. Doch bei der Wahl in einem Dezember/Januar verrät ihn der Herzog von Sachsen-Wittenberg und verweigert ihm die Stimme. Aus Rache tötet der Spanier den Sachsen. Es wird dabei französisches Geld sein, dass letzteren seine Meinung ändern lässt. Zu dieser Zeit wird ein junger Mann einen Krieg beginnen, ein Volk wird durch ein bejammertes Oberhaupt geschlagen und die Erde mit barbarischem Blut bedeckt sein. Ein anderer wird zum Kaiser gewählt, und ein falscher Gesandter läuft durch die Wahlstadt Frankfurt. Der neue Kaiser wird sein Amt aber nicht regelkonform antreten können, Mailand widersetzt sich ihm. Ein Verwandter oder Gefolgsmann des neuen Herrschers wird über den Rhein vertrieben werden. Beim neuen römisch-deutschen Herrscher wird es sich um jemanden aus "weit entfernten Gegenden" (Burgund?) handeln, der wohl ein enger Blutsverwandter des Königs von Frankreich ist. Während einer "Zeit der Knechtschaft" wird es zu Überschwemmungen kommen, und eine "Dame" wird zur "Sklavin" gemacht werden. Der mit französischem Geld gemachte neue Kaiser wird ein hässliches und unwürdiges Leben führen. Aus Sachsen wird es keinen neuen Kurfürsten mehr geben. Der falsche Gesandte, der durch Frankfurt läuft, wird den Sachsen die Hilfe des Herzogs von Braunschweig-Lüneburg vermitteln. Einer der beiden Thronkandidaten (wohl der Spanier) wird nach der Wahl das Geld aus Nürnberg, Augsburg und Basel davontragen. Köln wird dann den neuen Kaiser anklagen - wohl auch wegen seines Lebenswandels. Man wird ihn schon kurz nach der Wahl wieder stürzen und aus dem Land Richtung Frankreich vertreiben.

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6/15 - 5/19 - 8/20 - 6/87 - 2/87 - 10/46 - 3/53


6/15

[1] Dessoubs la tombe1) sera trouué le Prince,
[2] Qu’aura le pris2) par dessus Nuremberg3):4)
[3] L’Espaignol Roy en Capricorne5) mince6),
[4] Fainct & trahy par le grand7) Vvitemberg8):

[1] Während des Begräbnisses1) wird der Fürst gefunden werden,
[2] der den Preis2) besitzen wird, der noch den Wert Nürnbergs3) übersteigt.4)
[3] Der spanische König haut im Steinbock5) [jemanden] in Stücke6),
[4] getäuscht und verraten durch das große7) [Sachsen-]Wittenberg8).

1) Hier dürfte ein Latinismus vorliegen. "Dessoubs la tombe" entspricht dem lat. "sub sepulcro", was u. a. als "während des Begräbnisses" verstanden werden kann.
2) Oder u. a. auch: "Lohn, Belohnung; Wert". Nürnberg, vgl. Anmerkung 3, war der Aufbewahrungsort der Reichskleinodien, die hier wohl gemeint sein dürften. Mit Blick auf das lat. "pretium" (Geld), kann aber auch an eine finanzielle Unterstützung durch die Frankenmetropole gedacht werden.
3) Nürnberg wird in 3/53/2 und 6/15/2 erwähnt. 1219 Reichsstadt geworden, erlebte Nürnberg zur Zeit des Nostradamus eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Blüte. Ab 1424 war die Stadt der Aufbewahrungsort der Reichskleinodien ("Reichsschatz"), deren wichtigste Teile die Reichskrone, die Heilige Lanze und das Reichsschwert waren.
4) Unklar. Wörtlich: "der den Preis über Nürnberg besitzen wird". Mit Blick auf die in der Stadt damals aufbewarten Reichskleinodien ("Preis"), ist die Zeile wohl als "der den Preis besitzen wird, der noch den Wert Nürnbergs übersteigt" zu verstehen. Liest man "par dessus" als "darüber hinaus", könnte die Stelle mit "der darüber hinaus die Wertschätzung Nürnbergs besitzen wird" übersetzt werden.
5) Nach mittelalterlicher Auffassung dauert die Zeit des Steinbocks vom 18. Dezember bis 17. Januar.
6) "Mincer" bedeutet "in kleine Stücke schneiden". Fassen wir "mince" als Adjektiv auf ("arm, dünn, klein"), lautete die Zeile: "Der spanische König wird im Steinbock arm werden".
7) Falls hier eine Person gemeint sein sollte, vgl. Anmerkung 8), wäre die Stelle als "den Großen [von] Wittenberg" zu übersetzen.
8) Die Stadt Wittenberg, die Wiege der (lutherischen) Reformation, war seit 1423 die Residenz der Wettiner, die im selben Jahr das Kurfürstentum Sachsen gewannen. (1356 war dabei das Herzogtum Sachsen-Wittenberg zum Kurfürstentum Sachsen geworden.) Große Wettiner waren z. B. Kurfürst Friedrich der Weise (1486-1525), Kurfürst Moritz von Sachsen (1547-1553) oder Kurfürst August (1553-1586). Friedrich der Weise war Luthers Schutzherr. Moritz erhielt zwar die Kurfürstenwürde von Kaiser Karl V., schuf aber später ein protestantisches Bündnis gegen den Kaiser. Unter Preisgabe von Metz, Toul und Verdun gewann der Sachse die Hilfe Frankreichs und fiel so Karl V. in den Rücken. Karl V. war von 1516 bis 1556 König von Spanien.
Noch während des Begräbnisses des deutschen Kaisers einigt sich die Mehrheit der Kurfürsten auf den spanischen König als Nachfolger. Doch bei der Wahl in einem Dezember/Januar verrät ihn der Herzog von Sachsen-Wittenberg und verweigert ihm seine Stimme. Aus Rache tötet ihn der betrogene Spanier kurz danach.

In der zweiten Zeile ist von von einem "Preis" die Rede, der sogar den Wert der Stadt Nürnberg übersteigt. Damit dürfte Nostradamus die Reichskleinodien meinen, die seinerzeit in der fränkischen Metropole aufbewahrt wurden.

Wie wir in der ersten Zeile erfahren, wird noch während eines Begräbnisses jener Fürst gefunden werden, der die Reichskleinodien erhalten, d. h. der zum deutschen König bzw. Kaiser gewählt werden soll. Somit dürfte hier vom Begräbnis seines Vorgängers die Rede sein, bei dem sich die Mehrheit der Kurfürsten bereits auf einen Nachfolger einigt.

In der zweiten Hälfte der Strophe geht es um den spanischen König. Er wird von Sachsen-Wittenberg getäuscht und verraten werden. Da der Herzog von Sachsen-Wittenberg einer der sieben Kurfürsten war, ist anzunehmen, dass sich der König von Spanien um die deutsche Königs- bzw. Kaiserkrone bemühen wird. Und anscheinend wird der Sachse zunächst zu den Parteigängern des Spaniers gehören, diesen aber bei der Wahl verraten und das Lager wechseln.

Der dritten Zeile ist zu entnehmen, dass der iberische König zur Zeit des Steinbocks (also in einem Dezember oder Januar) blankziehen und jemanden in Stücke hauen wird, vgl. dazu aber Anmerkung 6. Doch wer ist sein Opfer? Dafür kommt natürlich v. a. der verräterische Sachsenherzog infrage, an dem sich der Spanier nun blutig rächt.


5/19

[1] Le grand1) Royal d’or2), d’ærain3) augmenté4),
[2] Rompu la pache5), par ieune ouuerte guerre:
[3] Peuple affligé par vn chef lamenté,6)
[4] De sang barbare7) sera couuerre8) terre.

[1] Der zahlreiche1) Royal d’Or2) [wird] mit Bronze3) vermehrt4) [sein].
[2] Der Vertrag5) [wird] gebrochen. Von einem jungen [Mann wird der] Krieg begonnen [werden].
[3] [Das] Volk [wird] durch ein bejammertes Oberhaupt geschlagen [sein].6)
[4] Mit barbarischem7) Blut wird [die] Erde bedeckt8) sein.

1) Das mittelfranzösische "grand" bedeutet neben "groß" u. a. auch "zahlreich, viel".
2) Der "Royal d’Or" (eigentlich: "der Königliche aus Gold") war eine mittelalterliche französische Goldmünze, auf der u. a. das königliche Wappen abgebildet war.
3) Damit ist wahrscheinlich Geld gemeint, vgl. lat. "aes" (u. a. Bronze, Kupfergeld, Vermögen) und griech. "chalkos" (u. a. Bronze, Waffe, Kupfergeld).
4) Das mittelfranzösische "augmenter" bedeutet quantitativ (oder auch qualitativ) anwachsen bzw. vergrößern. CLÉBERT, S. 591, sieht hier eine Münzverschlechterung des Royal d’Or durch Hinzugabe von Bronze gemeint. Das dürfte aber der Bedeutung von "augmenter" eher widersprechen. Auf eine Person bezogen, kann "augmenter" auch als "erhöhen, befördern" verstanden werden.
5) Oder auch: "Übereinkommen, Versprechen". Die Zeile passt zu 8/20/2. Wahrscheinlich sollte es hier "rompue la pache" heißen. Ohne die weibliche Endung bei "rompue" ließe sich die Zeile etwa folgendermaßen verstehen: "Den Vertrag gebrochen [habend, wird der] Krieg vom jungen [Mann] begonnen [werden]". In diesem Fall wäre es also eindeutig der "junge Mann", der den Vertragsbruch begeht.
6) Oder auch: "[Das] Volk [wird] von einem bejammerten Oberhaupt niedergeschmettert [werden]." Es wäre zudem möglich, dass Nostradamus bei "lamenté" ein Wortspiel mit dem lat. "conqueri" (laut klagen, sich beklagen) betreibt, das an das franz. "conquérir" (erobern) erinnert, obwohl es ihm nicht zu Grunde liegt. In diesem Fall könnte sich "lamenté" nicht auf das Oberhaupt sondern auf das Volk beziehen, das nun einfach von einem Oberhaupt besiegt und erobert werden würde.
7) Nach antikem Verständnis sind "Barbaren" Nichtgriechen bzw. Nichtrömer. Nostradamus meint damit allem Anschein nach Orientalen, besonders Nichtchristen (namentlich Muslime). Dabei schwingt sicher auch ein abwertender Gedanke mit, vgl. CLÉBERT, S. 784. Doch hinter der Wortwahl unseres Sehers stehen wohl auch rein sprachliche Gründe, etwa die Anspielung auf die Barbareskenstaaten, die vom 16. bis zum 19. Jahrhundert zwischen Marokko und Ägypten existierten. Oder das Anagramm "barbare"-"arabe" (Barbar-Araber), das allerdings etwa auch Muslime anderer Ethnien umfassen dürfte. In den Zenturien tauchen "Barbaren" etliche Male auf. Die orientalische Spur scheint mir dabei v. a. in folgenden Strophen sichtbar zu sein: 5/13 (5.47), 5/78 (5.23), 5/80 (5.187), 6/21 (5.16) und 9/60 (5.8).
8) Lies: "couverte". Die Zeile erinnert an 6/21/4 (5.16). In 6/21 wird zudem auch ein Neuer in ein Amt gewählt werden.
Französisches Geld bestimmt die Wahl des deutschen Königs bzw. Kaisers. Das Abkommen, das die Wahl des spanischen Königs zum deutschen Herrscher vorsah, wird gebrochen. Ein junger Mann beginnt einen Krieg, ein Volk wird durch ein bejammertes Oberhaupt geschlagen und die Erde mit barbarischem Blut bedeckt sein.

In der zweiten Zeile ist von einem "gebrochenen Vertrag" die Rede ("rompu la pache"), was eine Übereinstimmung mit 8/20/2 ist. Dort lesen wir, dass ein "gebrochener Vertrag erlischt" ("rompue pache arreste").

Strophe 8/20 berichtet dabei von einer Wahl, bei der die Stimmen gekauft sein werden. Dies passt zur ersten Zeile von 5/19. Hier ist von offensichtlich französischem Gold und Geld die Rede, die eine entscheidende Rolle spielen. Interessant ist, dass Nostradamus hier nicht von Ecus oder Francs spricht sondern von einer Münze, deren Bezeichung auch auf eine Person verweisen könnte ("le grand Royal d’Or" = "der große Königliche aus Gold"). Außerdem ist festzuhalten, dass nicht etwa die bereits große Anzahl der "Royaux d’Or" einfach noch einmal vergrößert sondern der Betrag mit normalem Geld ("Bronze") vermehrt werden wird.

In 8/20 dürfte von einer Wahl zum deutschen König bzw. Kaiser die Rede sein. Falls Nostradamus hier also ein sprachliches Doppelspiel betreibt, wäre der durch Geld "erhöhte" (vgl. Anmerkung 4) "Königliche aus Gold" also wohl jener Wahlkandidat, der sich dank französischem Gold oder Geld durchsetzt. Das kann der französische König selber sein oder jemand, der dessen Interessen entspricht. Möglicherweise jemand aus dem französischen Königshaus (ein "Königlicher"), der sich mit Gold bzw. Geld zum deutschen Herrscher wählen lässt, um als solcher aber Gefolgsmann des Königs von Frankreich zu sein.

Gemäß 6/15 wird sich wohl der spanische König um die deutsche Krone bemühen, dabei aber vom Herzog von Sachsen-Wittenberg verraten werden. Das passt zum "gebrochenen Vertrag" aus 5/19/2. (Dass in Nostradamus’ Text der spanische König von Frankreich finanziell unterstützt werden sollte, wäre angesichts der französisch-spanischen Rivalität zur Zeit unseres Sehers bemerkenswert.)

Wer diese "junge Mann" ist, der gemäß dritter Zeile einen Krieg beginnen wird, ist unklar. Ebenfalls, ob dieser Krieg etwas mit der Kaiserwahl zu tun hat oder bloß zeitgleich stattfindet.

Der zweite Teil der Strophe ist noch schwierig einzuordnen. Ein Volk wird durch ein "bejammertes (= beklagenswertes) Oberhaupt" geschlagen sein. Doch welches Volk? In der letzten Zeile erfahren wir, dass "barbarisches" (arabisches oder muslimisch-orientalisches) Blut die Erde bedecken wird. Auch hier fehlt uns bislang noch der Zusammenhang. Anzumerken gilt es allerdings, dass in 5.8 (10/31) die Wiedererstehung des römisch-deutschen Reiches mit einem Vormarsch der Araber und Iraner zeitlich zusammenfallen wird.


8/20

[1] Le faux message1) par election fainte2)
[2] Courir par vrben3) rompue pache4) arreste,
[3] Voix acheptees, de sang chapelle tainte,
[4] Et à vn autre l’empire contraicte5).

[1] Der falsche Gesandte1) der Scheinwahl2)
[2] [wird] durch die Stadt3) laufen. [Der] gebrochene Vertrag4) erlischt.
[3] [Die] Stimmen [werden] gekauft [und] mit Blut [wird die] Kapelle getränkt [sein].
[4] Und [dann wird von] einem anderen das Reich beherrscht5).

1) Das mittelfranzösische "message" bedeutet "Gesandter, Bote", kann daneben aber auch schon die Botschaft an sich meinen.
2) Oder auch: "der gefälschten Wahl". In sämtlichen 1568er-Ausgaben beginnt das Wort mit "f", nur in jener aus Méjanes könnte vielleicht ein "ſ" stehen. Dann hieße es "sainte" (heilig), vgl. CLÉBERT, S. 861.
3) Lat. "per urbem" (durch die/eine Stadt).
4) Oder auch: "Übereinkommen, Versprechen". Die Zeile passt zu 5/19/2.
5) Oder: "bedrückt, geknechtet". Im Mittelfranzösischen kann "empire" männlichen oder weiblichen Geschlechts sein, was die weibliche Endung bei "contraicte" erklärt.
Das gebrochene Abkommen mit dem spanischen König erlischt. Ein falscher Gesandter der gefälschten Wahl zum deutschen König bzw. Kaiser läuft durch Frankfurt. Die Stimmen werden gekauft und in der Wahlkapelle des Kaiserdoms wird Blut geflossen sein. Ein anderer (als der König von Spanien) wird Herrscher des römisch-deutschen Reiches werden.

In der zweiten Zeile ist wieder vom "gebrochenen Vertrag" ("rompue pache") die Rede, vgl. 5/19/2, der nun erlischt.

Den ersten beiden Zeilen ist zu entnehmen, dass eine Scheinwahl durchgeführt wird. Das ist wohl so zu verstehen, dass das Ergebnis mit einem zuvor festgelegten Wunschresultat in Übereinstimmung gebracht werden wird.

Nach der "Wahl" wird ein Gesandter durch die Stadt laufen. Nostradamus charakterisiert diesen dabei als "falsch" (betrügerisch, hinterhältig). Doch wer schickt diesen Boten mit welchem Auftrag oder welcher Botschaft zu wem? Und in welcher Stadt spielt sich das ab? Vgl. dazu auch 10/46.

Da es sich um einen betrügerischen Gesandten handelt, dürfte er von jenen Leuten losgeschickt werden, die für die Fälschung der Wahl verantwortlich sind.

Doch von welcher Stadt ist hier die Rede? Der lateinische Einschub "per urbem", vgl. Anmerkung 3, scheint auf Rom, die Urbs schlechthin zu verweisen. Zur Zeit des Nostradamus wurden zwei bedeutende Machtpositionen durch Wahlen vergeben: das Papstamt und der deutsche Königs- bzw. Kaiserthron. Sollte hier von Rom die Rede sein, hätten wir somit wohl eine Papstwahl vor uns.

In der dritten Zeile lesen wir, dass die Stimmen gekauft sein werden und am Ort der Wahl - offensichtlich eine Kapelle - Blut fließen wird. Der Hinweis auf die Kapelle scheint die Rom-Hypothese zunächst zu bestätigen. So wurde beispielsweise Leo X. 1513 in einer Kapelle (der Sixtinischen) zum Papst gewählt. Allerdings wurden auch die deutschen Könige bzw. Kaiser in einer Kapelle gewählt, der Wahlkapelle des Kaiserdoms St. Bartholomäus in Frankfurt am Main (seit 1356).

Den entscheidenen Hinweis dürften wir in der vierten Zeile erhalten. Nostradamus spricht hier vom "empire" (Reich), das ein anderer beherrschen wird. Zwar kann "empire" im übertragenen Sinne auch einfach "Herrschaft" oder "Macht" bedeuten, doch ist der Kontext der Strophe, in dem es um eine Wahl geht, meines Erachtens ein gewichtiges Indiz dafür, dass wir es hier mit der Wahl des deutschen Königs bzw. Kaisers zu tun haben. Mit der Wahl des Herrschers des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, auf Französisch: "Saint-Empire (romain germanique)".

Der Stimmenkauf (8/20/3) passt zum französischen Geld, das in 5/19 die entscheidende Rolle spielen wird. Das Zünglein an der Waage wird die gekaufte Stimme des Sachsenherzogs sein, der zunächst einen Vertrag oder ein Abkommen mit dem spanischen König hat. Ein Vertrag, der jetzt allerdings Makulatur ist (8/20/2). Neu ist hier, dass in der Wahlkapelle Blut fließen wird. Das dürfte bedeuten, dass einer oder mehrere der Kurfürsten angegriffen oder sogar getötet werden.

Mit Blick auf 6/15/3 wird es wohl der betrogene spanische König sein, der das Blut vergießt. Als Opfer kommt dabei am ehesten der betrügerische Sachsenherzog infrage.

In 8/20/4 erfahren wir, dass ein anderer das römisch-deutsche Reich beherrschen wird, doch wer? Der von Frankreich unterstützte Kandidat? Oder denkt Nostradamus hier vielleicht an einen noch später auftauchenden weiteren Thronanwärter?


6/87

[1] L‘election faite dans Frankfort1),
[2] N‘aura nul lieu2) Milan3) s‘opposera:
[3] Le sien4) plus proche semblera si grand fort
[4] Que outre le Rhyn és mareschz5) chassera.

[1] Die in Frankfurt1) durchgeführte Wahl
[2] wird nicht umgesetzt werden2). Mailand3) wird sich widersetzen.
[3] Der [sich] am nächsten [befindliche] Verwandte4) wird als dermaßen stark erscheinen,
[4] dass [man ihn] über den Rhein in die Sumpfgebiete5) vertreiben wird.

1) Seit 1356 wurden die deutschen Könige (und Kaiser) in Frankfurt am Main gewählt. Ort der Königswahl war die Wahlkapelle des Kaiserdoms St. Bartholomäus.
2) Das mittelfranzösische "avoir lieu" bedeutet neben "stattfinden" auch "zur Ausführung gelangen, Anwendung finden, sich erfüllen". CLÉBERT, S. 770, versteht die Stelle als "wird annulliert werden". Ob die Wahl im rechtlichen Sinne annulliert wird, ist hier nicht ersichtlich. Allerdings dürfte wohl das Wahlresultat nicht umgesetzt werden.
3) Das Herzogtum Mailand wurde ab 1525 von Habsburg bzw. Spanien beherrscht. Der Herzog von Mailand gehörte nicht zum Wahlgremium der Kurfürsten. Denkbar wäre vielleicht auch, dass es hier statt "Milan" "(le) vila(i)n"(u. a. der Hässliche, Schlechte, Böse) heißen sollte.
4) "Les siens" bedeutet "die Seinen" (Familienmitglieder oder auch Gefolgsleute). Es wäre denkbar, dass Nostradamus hier von einem Verwandten oder Gefolgsmann spricht und dafür "le sien" aus "les siens" abgeleitet hat. Ansonsten heißt "le sien" einfach "das/der Seine", was sich etwa auf den Besitz eines Menschen beziehen kann.
5) In der 1557er-Ausgabe aus Utrecht steht hier "mareschz", in jener aus Moskau/Budapest "marestz". In den 1568er-Ausgaben "mareschz" oder "mareschs". Hier scheint von Sumpfgebieten oder Mooren die Rede zu sein. Falls es "marches" heißen sollte, wären "Grenzgebiete" oder einfach "Regionen" gemeint.
In Frankfurt wird eine Königs- bzw. Kaiserwahl durchgeführt, doch der Wahlsieger wird sein Amt wohl nicht regelkonform antreten können. Mailand wird sich dem Resultat widersetzen. Der Verwandte oder Gefolgsmann einer Person (vermutlich des gewählten Herrschers) wird als dermaßen bedrohlich empfunden werden, dass man ihn über den Rhein vertreibt.

In 6/87/1f. ist von einer Wahl zum deutschen König bzw. Kaiser die Rede. Die Wahl findet in Frankfurt am Main statt, vgl. Anmerkung 1, das Resultat wird aber nicht "umgesetzt". Das dürfte bedeuten, dass der Gewählte sein Amt nicht oder wenigstens nicht regelkonform wird antreten können.

Die zweite Zeile gibt an, dass sich Mailand widersetzt - wohl der Anerkennung des gewählten Königs bzw. Kaisers (vgl. aber Anmerkung 3). Somit kann daraus geschlossen werden, dass die Stadt bzw. das Herzogtum erneut zum römisch-deutschen Reich gehören wird.

An dieser Stelle muss man sich fragen, warum ein gewählter König bzw. Kaiser sein Amt nicht (rechtmäßig) bekleiden kann. Das könnte damit zu tun haben, dass bei der durchgeführten Wahl etwas derart Ungewöhnliches passiert, dass mindestens Zweifel an ihrer Gültigkeit aufkommen. Und das würde wiederum den Bogen zu 8/20 schlagen, wo von einer Scheinwahl die Rede ist, bei der die Stimmen gekauft sein werden und bei der in der Wahlkapelle Blut fließt.

Im zweiten Teil der Strophe ist anscheinend von einem Verwandten oder Gefolgsmann die Rede, der so stark (lies: bedrohlich) erscheint, dass man ihn über den Rhein in die "Sumpfgebiete" vertreiben wird. Wessen Verwandter/Gefolgsmann wird hier vertrieben? Der des gewählten Herrschers, der sein Amt nicht antreten kann? Oder der des unterlegenen Kandidaten? Und wer genau vertreibt ihn von wo in welche "Sumpfgebiete"?

Da Frankfurt nur unweit rechts des Rheins am Main liegt, wäre es naheliegend anzunehmen, dass hier jemand aus der Stadt oder ihrem Umland nach Westen über den Rhein vertrieben wird. Und da es sich beim gewählten aber nicht allseits akzeptierten neuen römisch-deutschen Herrscher mutmaßlich um einen Verwandten des Königs von Frankreich handelt (5/19, 2/87), könnte der furchteinflößende starke Verwandte eben der Inhaber des Lilienthrones oder ein anderer machtvoller Vertreter dieses Herrscherhauses sein.


2/87

[1] Apres viendra des extremes contrées
[2] Prince Germain1) sus le throsne doré2):
[3] La seruitude & eaux3) rencontrees
[4] La dame serue4), son temps plus n’adoré5).

[1] Danach wird aus den entferntesten Gegenden
[2] [ein] eng blutsverwandter1) Fürst auf den vergoldeten Thron2) [gelangen].
[3] Die Knechtschaft und [die] Fluten3) [werden zeitlich] zusammenfallen.
[4] Die Dame [wird zur] Sklavin4), ihre Zeit [wird] nicht mehr verehrt5) [werden].

1) Das mittelfranzösische "germain" bedeutet in erster Linie "geschwisterlich, (eng) blutsverwandt". Die Bedeutung "germanisch/deutsch" scheint erst im 17. Jahrhundert dazu zu kommen (vgl. DUBOIS/MITTERAND/DAUZAT, S. 337). Dennoch wäre es zulässig, hier ein Wortspiel zu vermuten, das auf beiden Bedeutungen beruht, vgl. lat. "germanus" (leiblicher Bruder, Germane).
2) Mit dem "vergoldeten Thron" ist meines Erachtens die deutsche Kaiserwürde gemeint, die durch die Kurfürsten verliehen wurde. Ein Verfahren, dass nach Bestechung geradezu geschrieen hat. So konnte sich Karl V. seinen Kaisertitel 1519 mit dem Geld der Fugger und Welser regelrecht "kaufen". Der Verlierer bei dieser "Versteigerung" war übrigens der französische König Franz I., dem nicht dieselben Summen zur Verfügung standen. Der Franzose Nostradamus hat die Bezeichnung "vergoldeter Thron" für den deutschen Kaisertitel also wohl keineswegs aus Hochachtung gewählt.
3) In der 1557er-Ausgabe aus Budapest/Moskau steht hier "En seruitude & par eaux". BRIND’AMOUR, S. 318, korrigiert die Stelle zu "La seruitude ès feaux", womit die Zeile etwa mit "Die Knechtschaft wird bei den Getreuen (oder: den Vasallen) anzutreffen [sein]" zu übersetzen wäre.
4) Oder auch: "Leibeigene, Dienerin".
5) BRIND’AMOUR, S. 318, korrigiert zu "n’a duré", womit die Stelle etwa mit " ihre Zeit hat nicht länger angedauert" zu übersetzen wäre. Allerdings reimt sich "duré" nicht besonders gut auf "doré".
Ein Fürst wird den deutschen Thron besteigen, der aus "weit entfernten Gegenden" (Burgund?) kommen wird. Er wird ein "enger Blutsverwandter" sein, wahrscheinlich des französischen Königs. Während einer Zeit der Knechtschaft wird es zu Überschwemmungen kommen und eine "Dame" wird zur "Sklavin" gemacht werden.

Strophe 2/87 zerfällt in zwei Teile. Die ersten beiden Zeilen berichten davon, dass ein Fürst den deutschen Königs- bzw. Kaiserthron besteigen wird, der aus weit entfernten Gegenden stammt. Über ihn erfahren wir in Zeile zwei, dass er offensichtlich ein enger Blutsverwandter einer hier nicht genannten Person ist, oder dass es sich bei ihm um einen Deutschen handelt ("Germane"), vgl. Anmerkung 1.

Es würde zu Nostradamus passen, dass er hier die Bezeichnung "prince Germain" u. a. deshalb gewählt hat, um einen Hinweis darauf zu geben, welchen Thron er als den "vergoldeten" bezeichnet (vgl. Anmerkung 2). In 5/19/1 könnte unser Seher bereits ein Wortspiel mit dem Begriff "Royal d’Or" betreiben und mitteilen wollen, dass es jemand aus dem französischen Königshaus dank französischem Gold und Geld auf den deutschen Thron schafft. Ein solcher Fürst wäre zwar wohl kein Deutscher, dafür aber ein Blutsverwandter des französischen Königs.

Dass aus deutscher Perspektive ein französischer Fürst aus "entferntesten Gegenden" stammen wird, ist nachvollziehbar. Dies würde allerdings erst recht auf den verratenen spanischen König aus 6/15/3 zutreffen.

Aus der (süd-)französischen Sicht des Nostradamus könnte die in der ersten Zeile gewählte Formulierung "die entferntesten (oder auch: äußersten) Gegenden" vielleicht auch einen Hinweis auf die geografische Herkunft des neuen deutschen Herrschers liefern. Zur Zeit unserers Sehers verlief die französische Ostgrenze viel weiter westlich als heute. Das Herzogtum Burgund war zwischen dem Königreich Frankreich und dem römisch-deutschen Reich aufgeteilt, die Grenze verlief dabei etwas östlich der Stadt Dijon. Somit wäre das Burgund oder der Raum Dijon aus Sicht des Nostradamus tatsächlich eine der äußersten Gegenden Frankreichs gewesen. Interessanterweise liegt südlich der Senf-Stadt ein Höhenzug namens Côte d’Or, der sich auf rund 80 km Länge zwischen Dijon und Beaune erstreckt. Sollte der "Royal d’Or" aus diesem Gebiet stammen? Auf der römisch-deutschen Seite der Grenze gibt es allerdings eine wohl ebenso interessante Querverbindung. Besançon in der Freigrafschaft Burgund trug im Mittelalter den Übernamen "Chrysopolis" (Goldstadt). Dies, weil der Name Besançon an den lateinischen Satz "besan sum" (ich bin ein Besan) erinnert. Ein Besan(t) war dabei eine byzantinische Gold- oder Silbermünze, was wiederum den Bogen zum französischen Goldstück Royal d’Or schlagen würde.

Der zweite Teil der Strophe ist ohne Kontext schwer einzuordnen. Es scheint zu Überschwemmungen zu kommen, doch wo? Die dritte Zeile spricht dazu von einer "Knechtschaft". Doch wer wird hier geknechtet und von wem? Das römisch-deutsche Reich vom erwähnten französischen Fürsten, vgl. 8/20/4, Anmerkung 5? In 2/87/4 lesen wir von einer "Dame", die zur "Sklavin" gemacht und deren Zeit nicht mehr verehrt werden wird. Wer oder was ist hier gemeint? Ein Staatswesen oder eine Staatsform (Republik)? Die Kirche? Oder doch eine Person aus Fleisch und Blut?


10/46

[1] Vie sort1) mort de L’OR vilaine2) indigne,
[2] Sera de Saxe3) non nouueau electeur4):5)
[3] De Brunsuic6) mandra9) d’amour8) signe,
[4] Faux le rendant au peuple10) seducteur.

[1] [Das] Leben, [das] Schicksal1) [und der] Tod des GOLDES [sind] hässlich2) [und] unwürdig.
[2] [Es] wird aus Sachsen3) keinen neuen Kurfürsten4) geben.5)
[3] Aus Braunschweig6) wird [man7) ein] Zeichen der Liebe8) herbeirufen9).
[4] [Der] Falsche wird es den Verführer-Leuten10) liefern.

1) "Sort" ist im Mittelfranzösischen der Regel männlich, kann aber wie hier gelegentlich auch weiblich sein.
2) Oder u. a. auch "schlecht, böse".
3) Das Kurfürstentum Sachsen-Wittenberg wird auch in 6/15/4 erwähnt. Es umfasste nicht nur das heutige Sachsen sondern auch Teile des südlichen Sachsen-Anhalts und Brandenburgs.
4) Das römisch-deutsche Reich kannte sieben Kurfürsten, denen das Recht zustand, den deutschen König bzw. Kaiser zu wählen. Dem Rang nach geordnet waren dies: 1.) der Erzbischof von Mainz (der aber als letzter abstimmte, um bei einem Patt die entscheidende Stimme abgeben zu können), 2.) der Erzbischof von Trier, 3.) der Erzbischof von Köln, 4.) der König von Böhmen, 5.) der Pfalzgraf bei Rhein, 6.) der Herzog von Sachsen-Wittenberg und 7.) der Markgraf von Brandenburg.
5) Unklar. Hier könnte auch wieder vom "Gold" aus der ersten Zeile die Rede sein. Dann wäre Zeile zwei etwa so zu verstehen: "[Das Gold] wird nicht der neue Kurfürst aus Sachsen sein."
6) Das Herzogtum Braunschweig-Lüneburg (1235-1269) zerfiel 1269 in das Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel (1269-1807) und das Fürstentum Lüneburg (1269-1705). Die beiden Fürstentümer bildeten aber zusammen nach wie vor das Herzogtum Braunschweig-Lüneburg. Das Wappen des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg war zweigeteilt, wobei die heraldisch rechte Seite zwei goldene Löwen auf rotem Grund (Braunschweig) und die heraldisch linke Seite einen blauen Löwen auf goldenem Grund, umgeben von acht roten Herzen zeigte. Die Seite mit dem blauen Löwen und den acht roten Herzen repräsentierte dabei Lüneburg, das im eigenen Wappen allerdings ursprünglich nur sieben Herzen aufwies. Zu Lebzeiten des Nostradamus regierten als "Herzog zu Braunschweig und Lüneburg und Fürst von Braunschweig-Wolfenbüttel" Heinrich I. (1503-1514) und Heinrich II. (1514-1568). Die Fürsten von Lüneburg waren den Herzögen untergeordnet.
Aus dem Fürstentum Calenberg[-Göttingen-Grubenhagen] (1432-1692), das Teil von Braunschweig-Lüneburg war, entwickelt sich erst lange nach Nostradamus’ Tod das Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg (1692-1814), das aber nicht mit dem gleichnamigen Herzogtum identisch war.
7) Oder: "er/sie".
8) Oder: "Zuneigung". Hier könnte konkret die "Zuneigung" innerhalb einer Familie, d. h. die Hilfeleistung eines Verwandten gemeint sein. Oder Nostradamus hat bei seinem "Zeichen der Liebe" an das Herz gedacht, das schon zu seiner Zeit mit "Liebe" assoziiert wurde oder diese symbolisieren konnte. Das Herz wird dem Tierkreiszeichen Löwen sowie der Sonne zugeordnet. AGRIPPA VON NETTESHEIM, Buch 1, Kapitel 23, können wir entnehmen, was dem astrologischen Herz-Planeten sonst noch angehört. Wir finden darunter u. a. den "König der Tiere", den Löwen, oder den "König der Vögel", den Adler, vgl. dazu auch Ebd., Buch 2, Kapitel 14. Analog dürfte hier wohl ebenfalls ein Herrscher oder oberster Fürst gemeint sein. Konkret wohl am ehesten ein Herzog von Braunschweig-Lüneburg, der in seinem Wappen u. a. auch rote Herzen trägt, vgl. Anmerkung 6.
9) Oder u. a. auch: "schicken, entsenden".
10) Das mittelfranzösische "peuple" kann neben "Volk" im Sinne von "Bevölkerung", "Nation", "einfache Leute" u. a. auch noch "Untertanen", "Truppen, Kriegsvolk", "Leute" meinen.
Der mit französischem Geld und Gold gemachte deutsche Herrscher führt ein hässliches und unwürdiges Leben. Aus Sachsen wird es keinen neuen Kurfürsten mehr geben. Von Braunschweig-Lüneburg wird man Hilfe anfordern. Hilfe, die der falsche Gesandte aus 8/20/1 den "Verführer-Leuten" (den Sachsen?) beschaffen wird.

10/46 ist inhaltlich und sprachlich nicht ganz einfach zu verstehen. In der zweiten Zeile ist indirekt vom Herzog von Sachsen-Wittenberg die Rede. Von jenem Kurfürsten also, der gemäß 6/15/4 den spanischen König bei der Wahl zum deutschen Kaiser hintergehen wird. 10/46/2 spricht dabei von einem "neuen" Kurfürsten, den es aus diesem Herzogtum nicht mehr geben wird. Eine Formulierung, die die Frage nach dem "alten" Kurfürsten aufwirft.

In 8/20 erfahren wir, dass in der Wahlkapelle Blut fließt. Es ist denkbar oder naheliegend, dass dabei der verräterische Sachsenherzog getötet wird. Falls dem so sein sollte, scheint 10/46/2 auszusagen, dass im Wahlgremium die freie Stelle des sächsischen Kurfürsten vakant bleibt. Doch wieso? Eigentlich müsste doch der rechtmäßige Erbe des sächsischen Throns (zur Zeit des Nostradamus ein Herzogenthron) auch seinen Platz in Frankfurt einnehmen.

In 10/46/1 spricht Nostradamus von jemandem, dem er die Bezeichnung "Gold" gibt. Es wird jemand sein, dessen Leben, Schicksal und Tod "hässlich" und unwürdig sein werden. Damit könnte der getötete Kurfürst aus Sachsen gemeint sein, der mit französischem Gold und Geld bestochen werden wird. Oder unser Seher knüpft vielmehr an 5/19/1 an, wo er möglicherweise auch von einem "Königlichen aus Gold" spricht. In diesem Fall wäre das "Gold" mit dem neuen König bzw. Kaiser zu identifizieren, der dank französischem Gold und Geld zum deutschen Herrscher gewählt wird, aber dabei eine problematische Persönlichkeit zu sein scheint.

Vom Herzogtum Braunschweig-Lüneburg ist wohl in 10/46/3 die Rede. Aus diesem Herzogtum wird ein "Zeichen der Liebe" kommen (dritte Zeile). Das könnte ein Herzog, das Oberhaupt ("Herz") dieser Herrschaft sein, vgl. Anmerkung 8. Doch wohin sollte ein Herzog von Braunschweig-Lüneburg gehen und warum (vgl. weiter unten)?

In der letzten Zeile erfahren wir, dass ein "Falscher" (auch im Sinne von "Betrügerischer", "Hinterhältiger") ein solches "Zeichen der Liebe" liefern (kommen lassen) wird. Der vom spanischen König aus Rache getötete betrügerische Herzog von Sachsen-Wittenberg (6/15) würde als "Falscher" infrage kommen. Aber etwa auch der "falsche Gesandte" aus 8/20/1. Erhalten werden dieses "Zeichen" die "Verführer-Leute", d. h. wohl Leute, die zu einer "Verführer-Nation" gehören, vgl. Anmerkung 10. Doch welche "Nation" - oder hier vielleicht besser: "Landsmannschaft" - ist damit gemeint?

Da der Herzog von Sachsen-Wittenberg mit französischem Gold und Geld bestochen wird, sind die Franzosen ein möglicher Kandidat für die "Verführer-Leute". Möglicherweise hat Nostradamus hier aber eher an Sachsen-Wittenberg (seit 1356 Teil des Kurfürstentums Sachsen) gedacht. Sachsen war die Wiege der Reformation unter Martin Luther (1483-1546), dessen Sache von Kurfürst Friedrich dem Weisen (1486-1525) sowie den Nachfolgern Johann dem Beständigen (1525-1532) und Johann Friedrich I. (1532-1547/54) nachhaltig unterstützt wurde. In Sachsen beginnend, breitete sich die reformatorische Bewegung in weiten Teilen Europas aus und erreichte u. a. auch Frankreich. Aus katholischer Sicht können die Leute aus Sachsen bzw. Sachsen-Wittenberg also durchaus als Nation oder Landsmannschaft bezeichnet werden, wo die Verführung zum protestantischen Abfall von der Kirche ihren Anfang genommen hat.

Der Vollständigkeit halber sei hier aber auch noch auf 1/96/3 (5.99) verwiesen, wo ebenfalls von "Sachsen" die Rede sein könnte, die (erneut) vom Katholizismus abfallen und Irrlehren folgen.

Falls der "Falsche" aus 10/46/4 mit dem "falschen Gesandten" aus 8/20/1 identisch sein sollte, wird er durch die Stadt Frankfurt laufen. Doch wohin? Ich vermute zum Herzog von Braunschweig-Lüneburg, der sich anlässlich der Kaiserwahl - wie wohl viele hohe Aristokraten - ebenfalls in oder nahe der Mainmetropole aufhalten dürfte. Und der Auftrag des falschen Gesandten? Möglicherweise besteht die Furcht, der betrogene spanische König könnte sich auch an der herrenlos gewordenen sächsischen Delegation rächen bzw. von ihr das Geld zurückfordern, das zuvor an den getöteten Kurfürsten geflossen ist (zum Geld vgl. 3/53). Der falsche Gesandte könnte nun versuchen, den Braunschweiger dazu zu bewegen, für die Sicherheit der Sachsen zu garantieren. Steht der Herzog von Braunschweig vielleicht in einem speziellen Verhältnis zum Ibererkönig, das den Norddeutschen für diese Aufgabe prädestiniert?


3/53

[1] Quand le plus grand emportera le pris1)
[2] De Nurêberg d’Auspurg, & ceux de Basle2)
[3] Par Aggripine3) chef Francqfort4) repris5)
[4] Transuerserõt par Flamans6) iusques en Gale7).

[1] Wenn der Größte den Preis1) davontragen wird,
[2] [den] von Nürnberg, Augsburg und denen aus Basel,2)
[3] [wird] von Agrippina3) [das] Oberhaupt [von] Frankfurt4) beschuldigt5).
[4] [Sie] werden durch [das Gebiet der] Flamen6) bis nach Gallien7) vordringen.

1) Oder u. a. auch: "Lohn, Belohnung; Wert".
2) Nürnberg wird in 3/53/2 und 6/15/2 erwähnt, Augsburg in 3/53/2, 5/12/3 sowie 7/4/3 und Basel in 3/53/2 und eventuell in 7/3/3. Diese drei zur Zeit des Nostradamus deutschen Städte haben einige Gemeinsamkeiten: Die Einführung der Reformation (Nürnberg 1525, Augsburg 1534/37, Basel 1529) und ihre wirtschaftliche Bedeutung. Dabei ist besonders auf das Augsburg der Fugger und Welser zu verweisen (Jakob Fugger der Reiche finanzierte u. a. die Kaiserwahl und Kriege Karls V.). Nürnberg (1219) und Augsburg (1276) waren zudem Reichsstädte. Basel brachte es trotz faktischer Souveränität seit Ende des 14. Jh. nicht zu diesem Status. Erst im 16. Jh. (Reformation 1529) wurden die letzten Kompetenzen des Bischofs endgültig beseitigt und Basel zur Freien Stadt.
3) Es gab mehrere historische Persönlichkeiten, die den Namen Agrippina trugen, v. a. aus dem julisch-claudischen Kaiserhaus des alten Roms: Agrippina die Ältere (14 v. Chr.-33 n. Chr.), Agrippina die Jüngere (15 n. Chr. in Köln-59) und Vipsania Agrippina (33 v. Chr.-20 n. Chr.). Daneben wäre zudem noch die heilige Agrippina von Mineo (?-262) zu nennen. Aufgrund des Kontexts ist hier aber wohl die Stadt Köln gemeint (lat. Colonia Claudia Ara Agrippinensium oder auch Colonia Agrippina). Köln taucht in den Zenturien wohl in 3/53/3, 5/43/3, 5/94/4 und 6/40/3 auf. Zur Zeit des Nostradamus gehörte der Erzbischof von Köln zu den sieben Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.
4) Frankfurt (am Main) wird in 3/53/3 und 6/87/1 genannt. Die heutige Mainmetropole wurde 1220 Freie Reichstadt. Nachdem dort seit 1147 bereits die meisten Königswahlen stattgefunden hatten, wurde die Stadt 1356 auch offiziell zur Wahlstätte der deutschen Könige und Kaiser bestimmt. Ort der Königswahl war dabei die Wahlkapelle des Kaiserdoms St. Bartholomäus. Ab 1562 wurde der deutsche Kaiser auch in Frankfurt gekrönt.
5) Das mittelfranzösische "reprendre" bedeutet u. a. "(wieder) ergreifen, mitnehmen; wiederfinden; reparieren, verbessern; tadeln, widersprechen; anklagen, beschuldigen; im Gegensatz zu etwas stehen, etwas zuwiderlaufen".
6) In den 1568er-Ausgaben lesen wir "Flamant".
7) Unklar. Das mittelfranzösische "gale" bedeutet "Fröhlichkeit, Vergnügung, Spaß, Scherz, Freude", "galle" hingegen "Eichapfel (pflanzliche Wucherung); Hornhaut, Schwiele, Verdickung". Hier scheint konkret ein geografischer Begriff gemeint zu sein. Das französische "(Pays des) Galles" wäre Wales (so BRIND’AMOUR, S. 402f.). Für den "Spaß" (gale) kämen z. B. die französischen Orte Liessies (lat. Laet(it)iae, nahe der belgischen Grenze), Joué-lès-Tours (lat. Jocundiacum, direkt südlich von Tours), Jouac (lat. Jocundiacum, 75 km südöstlich von Poitiers), Joyeuse (lat. Gaudiosa, 72 nordwestlich von Nîmes), Jouy-sur-Morin (lat. Gaudiacus, 68 km östlich von Paris) oder Saint-Gaudens (lat. Gaudentii Oppidum, 50 km südwestlich von Toulouse) infrage. In Südholland wäre noch Gouda (lat. Gaudanum) zu nennen. Weniger Möglichkeiten gibt es für die "Schwiele". Das entsprechende griech. "tyle" bzw. "tylos" könnte vielleicht mit Theil-sur-Vanne (lat. Tillum, 11 km südöstlich von Sens), Tiel (lat. u. a. Tillium, ca. 30 km südöstlich von Utrecht) oder Teglio (lat. u. a. Tilium, ca. 20 km östlich von Sondrio) in Verbindung gebracht werden. Das lat. "callum" (Schwiele) mit Cagli (lat. Callium, ca. 80 km westlich von Ancona). Schließlich könnte "Gale" aber auch bloß eine reimbedingte Anpassung von "Gaule" (Gallien) an "Basle" sein, vgl. etwa CLÉBERT, S. 401. Mit Blick auf den geografischen Kontext in 3/53/4 wurde hier der letztgenannten Lösung Platz eingeräumt. Allerdings macht diese nur Sinn, wenn Gallien mit dem Frankreich des 16. Jh. gleichgesetzt wird, da Flandern bereits innerhalb der Grenzen des antiken Galliens liegt.
Einer der beiden Thronkandidaten (der unterlegene Spanier?) wird das Geld aus Nürnberg, Ausgsburg und Basel an sich nehmen und forttragen. Zu diesem Zeitpunkt klagt Köln den neuen römisch-deutschen Kaiser an, wohl (auch) wegen dessen üblem Lebenswandel. Man wird diesen Monarchen stürzen und Richtung Frankreich vertreiben.

In der ersten Zeile ist von einem "Größten" die Rede. Er wird einen "Preis" davontragen. Einen "Preis", der von den Leuten aus Nürnberg, Augsburg und Basel stammt (zweite Zeile). Der Augsburger und Baseler Preis dürfte wahrscheinlich aus Geld bestehen, vgl. Anmerkung 2. Vor diesem Hintergrund ist es nun fraglich, ob der Preis der Frankenmetropole mit den Reichskleinodien identisch ist, wie ein Blick auf 6/15/2 vermuten lässt. Es wäre auch möglich, dass die gemeinsame Nennung Nürnbergs mit Augsburg und Basel als Hinweis darauf zu verstehen ist, dass alle drei Städte hier dasselbe - Geld - bereitstellen.

Doch wer ist der "Größte"? Wie aus 6/15 sowie 5/19 und 2/87 hervorgeht, konkurrieren hier zwei Fürsten um den römisch-deutschen Thron. Der eine ist der König von Spanien und der andere wohl ein Verwandter des französischen Königs. Und beide werden von verschiedenen Geldgebern unterstützt. Letzterer dürfte bei seinen Bemühungen Geld aus Frankreich erhalten und sich dank diesem auch durchsetzen (5/19, 10/46). Somit müsste das Geld aus Nürnberg, Augsburg und Basel an den spanischen König fließen.
          Das Attribut "groß" kann bei Nostradamus auch für "französisch" stehen, vgl. 4/8 u. a. (5.23). Demzufolge würde die Bezeichnung "Größter" eher zu einem Franzosen passen, hier konkret zum Verwandten des französischen Königs, der zudem noch mit französischem Geld unterstützt wird. Doch wie sollte der erfolgreiche Kandidat der Franzosen an das Geld gelangen, das für den Spanier gedacht war? Zum Iberer würde die Bezeichnung der "Größte" deswegen ebenso gut passen, weil er von den beiden Bewerbern um den römisch-deutschen Thron der rangmäßig "Größte" ist, - man sollte hier vielleicht besser "Größere" übersetzen. Es handelt sich beim Spanier immerhin um einen regierenden Monarchen und nicht "nur" um einen Angehörigen einer Herrscherfamilie.

Dass der Spanier das Geld von Nürnberg, Augsburg und Basel "davontragen" wird, könnte so verstanden werden, dass er es weder den Kurfürsten noch den drei Städten überlässt bzw. zurückgibt sondern an sich nimmt. Und zwar vielleicht als "Trostpreis" oder "Aufwandsentschädigung". Doch ist dies mit den drei Städten abgesprochen? Falls nein, wie würden Nürnberg, Augsburg und Basel wohl auf dieses dann eigenmächtige Vorgehen reagieren?

In Zeile drei erfahren wir, dass Agrippina das Oberhaupt von Frankfurt beschuldigen wird. Mit Agrippina ist wahrscheinlich Köln gemeint, dessen Erzbischof einer der sieben Kurfürsten war (oder wieder sein wird), vgl. Anmerkung 3. Das "Oberhaupt von Frankfurt" müsste der neugewählte Herrscher sein. Dass Köln nun den Wahlsieger beschuldigt, könnte darauf hindeuten, dass sein Kurfürst gegen den neuen Herrscher gestimmt haben wird. Doch worin besteht wohl die Anklage?

Gemäß 10/46/1 wird der neue römisch-deutsche Herrscher von Frankreichs Gnaden ein "hässliches und unwürdiges Leben" führen. Da es sich beim Kurfürsten von Köln um einen Kirchenmann handelt, könnte dies zur Verurteilung wenigstens beitragen.

Laut Zeile vier wird "man" - wohl von Deutschland aus - durch Flandern bis nach Frankreich (Gallien) vordringen. Doch wer genau und wozu? Ich könnte mir vorstellen, dass man nach einer gewissen Zeit des neuen römisch-deutschen Kaisers überdrüssig wird, ihn stürzt und in Richtung Frankreich vertreibt. Dem Land, dem er seinen Thron überhaupt verdankt.

Gemäß 10/46/1 wird auch der Tod dieses römisch-deutschen Kaisers "hässlich und unwürdig" sein. Kann man den nach Frankreich Fliehenden vielleicht stellen und erschlägt ihn dann einfach?








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(Letzte Änderung dieser Seite: 20.01.2016)