5.4  Nostradamus und das Jahr 2000

  

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Wir stehen kurz vor einem seltenen Ereignis, einem Jahrtausendwechsel. 1999, das letzte Jahr christlicher Zeitrechnung mit einer Eins an der Tausenderstelle, hat begonnen, es folgen ihm die "magische" Zahl 2000 und der Beginn des neuen Millenniums am 1. Januar 2001. Obwohl erfreulicherweise keine allgemeine Weltuntergangsstimmung in der Luft liegt, gibt es doch da und dort selbsternannte Unheilspropheten und Schwarzseher, die Endzeitsängste schüren und mit ihren apokalyptischen Vorhersagen unter Umständen labileren Charakteren gefährlich werden können. Als Hauptquellen dieser Kreise dienen oft die biblischen Prophezeiungen, so die Offenbarung des Johannes, aber auch Daniel oder andere Stellen der Schrift. Daneben werden jedoch ebenso außerbiblische Weissagungen späteren Datums herangezogen, zum Beispiel die Prophezeiungen des französischen Pestarztes und Sehers Michel de Nostredame, besser bekannt unter seinem Pseudonym Nostradamus. Ein sehr dankbarer Steinbruch für allerlei Vorhersagen, da dieses Werk nicht gleichermaßen wissenschaftlich untersucht wird wie etwa die Bibel und man sich folglich nicht mit ganzen Fakultäten von Theologen auseinander setzen muss, die einem mit Leichtigkeit Paroli bieten könnten. Zudem genießt Nostradamus bereits eine gewisse Reputation und ist praktischerweise auch seit über vierhundert Jahren tot …

Im Folgenden soll nun versucht werden, der Frage nachzugehen, ob Nostradamus für die Zeit um das Jahr 2000 tatsächlich einen Weltuntergang angekündigt hat oder nicht. Weiter soll untersucht werden, was es mit dem oft zitierten Vers Nr. 72 aus der zehnten Zenturie (also Vers 10/72) auf sich hat, in dem expressis verbis das Jahr "1999" genannt wird.

 
Eine kleine Bestandesaufnahme

Die Prophezeiungen des Nostradamus umfassen 942 Vierzeiler, gegliedert in zehn "Zenturien" zu je 100 Versen (wobei die siebte Zenturie allerdings nur 42 Stück enthält). Dazugesellen sich zwei Vorworte, wovon Nostradamus das erste seinem Sohn Cäsar und das zweite dem französischen König Heinrich II. (1547 - 1559) gewidmet hat. Veröffentlicht wurden die Prophezeiungen nach und nach in den Jahren 1555 bis 1568.

Daneben existieren noch weitere 168 Vier- und 58 Sechszeiler, deren Authentizität aber teilweise umstritten ist. (Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass den 58 Sechszeilern eine Widmung an den französischen König Heinrich IV., 1589 - 1610, vorausgeht, die von Vincent Seve, einem Enkel des Nostradamus, stammt). Veröffentlicht wurden die gesamthaft 226 zusätzlichen Verse zwischen 1555 und 1643, teils noch von Nostradamus selber, teils von seinen Erben (der Seher starb 1566).

 

Der chronologische Rahmen von Nostradamus’ Prophezeiungen

Betrachten wir nun den Zeitraum, den Nostradamus mit seinen Prophezeiungen abdecken will. Analysieren wir sämtliche Verse, so fällt auf, dass davon nur recht wenige explizit eine Jahreszahl beinhalten; von den 942 Zenturienversen gerade einmal sieben Stück. Es sind dies Vers 1/49 (Jahr "1700"), 3/77 (Jahr "1727"), 6/2 (die Jahre "580" und "703"), 6/54 (Jahr "1607"), 8/71 (ebenfalls Jahr "1607"), 10/72 (Jahr "1999") und 10/91 (Jahr "1609"). Mit großer Wahrscheinlichkeit sind verschiedene Zahlenangaben in einigen weiteren Zenturienversen gleichfalls als Jahreszahlen zu verstehen, doch da dies im Einzelnen noch nicht restlos geklärt ist, sollen diese Vierzeiler hier nicht berücksichtigt werden.

In den beiden Vorworten werden ebenfalls einige Jahreszahlen ausdrücklich genannt. Das Cäsar Nostradamus gewidmete, das mit dem 1. März 1555 datiert ist, führt dabei das Jahr "3797" auf - das Jahr, bis zu dem die Prophezeiungen reichen sollen.

In den 226 zusätzlichen Versen sind Jahreszahlen häufiger anzutreffen. Der zusätzliche hundertste Vers der zehnten Zenturie spricht mit großer Wahrscheinlichkeit vom Jahr "1660". Die Sechszeiler strotzen nur so vor Jahreszahlen, sollen hier aber ausgeklammert bleiben, da bei diesen zuerst die Frage der Authentizität ausführlich diskutiert werden müsste, was den Rahmen des vorliegenen Beitrages jedoch sprengen würde.

Kehren wir also zu den eigentlichen Zenturien sowie den dazugehörenden Vorworten zurück und betrachten wir die oben genannten Jahresangaben. Bei diesen fällt auf, dass alle bis auf zwei Ausnahmen ("1999" und "3797") von heute aus gesehen in der Vergangenheit zu liegen scheinen. Die Angaben aus 6/2 ("580" und "703") sogar Jahrhunderte vor Nostradamus’ eigener Geburt (1503)! Bei "gewöhnlichen" frühneuzeitlichen Quellen wäre es für erfahrene Historiker und Paläografen einigermaßen klar, die Zahlen "580" und "703" zu "1580" bzw. "1703" zu ergänzen. Doch da es sich bei Nostradamus’ Werk um eine ausgefeilte Denksportaufgabe handelt und eben nicht um eine "gewöhnliche" Quelle, könnte sich diese ansonsten vernünftige Interpretation als Fehler erweisen - doch dazu später mehr.

Wenn wir nun die prophetischen Texte, die zu allen scheinbar vergangenen Daten gehören, aufmerksam lesen, stellen wir etwas sofort fest: die beschriebenen Vorgänge passen in keiner Weise zu den erwähnten Jahreszahlen! 3/77 berichtet etwa davon, dass im Oktober "1727" der "König von Persien" von "Leuten aus Ägypten" gefangen genommen wird. In Tat und Wahrheit wurde nie ein persischer Herrscher von Ägyptern gefangen gesetzt, schon gar nicht 1727 n.Chr., als die Perser gerade einen wichtigen Sieg über die Osmanen (die Ägypten beherrschten) errungen hatten. Da die anderen eindeutig datierten Prophezeiungen ebenso "falsch" sind, oder wenigstens zu sein scheinen, könnte man schnell einmal zum Schluss gelangen, dass dies der endgültige Beweis dafür sei, dass die Voraussagen des Nostradamus eben gesamthaft falsch sind und dass der Seher nichts weiter als ein Scharlatan war. Doch gibt es da ein kleines Problem. Stillschweigend wurde nämlich bisher (wie oben demonstriert) oft angenommen, dass die Jahresangaben bei Nostradamus der üblichen christlichen Zeitrechnung entsprächen. In der Folge wurden, wie gezeigt, sogar die Daten aus 6/2 einfach dahingehend "ergänzt", dass sie in der christlichen Zeitrechnung als prophetische Angaben Sinn machen ("580" als "1580", "703" als "1703"). Und dies, obwohl Nostradamus sich gar nie ausdrücklich auf die christliche Zeitrechnung als Rahmen zu seinen prophetischen Texten berufen hat.

Zur Frage der verwendeten Zeitrechnung gibt es im Vorwort an Cäsar eine interessante Stelle. Nostradamus schreibt dort über seine Prophezeiungen: "& sont perpetuelles vaticinations, pour d’yci à l’an 3797." Datiert ist dieses ganz am Anfang des Werkes stehende Vorwort mit dem 1. März 1555 (hier allerdings tatsächlich nach christlich-julianischem Kalender, da es sich bei der Schlusspassage des Vorworts eindeutig nicht um einen prophetischen Text handelt). Wenn unser Seher also schreibt, dass seine Weissagungen "jetzt" ihren Anfang nehmen, ist damit mit hoher Wahrscheinlichkeit der 1. März 1555 n.Chr. gemeint. Es sei daran erinnert, dass es sich beim 1. März um den altrömischen, vorcäsarischen Jahresbeginn handelt, der auch zur Zeit des Nostradamus noch teilweise verwendet wurde (in Venedig bis 1797). Da es sich bei Nostradamus’ Prophezeiungen um ein typisches Renaissance-Werk handelt, in dem es von Anleihen aus der antiken Mythologie und Geschichte nur so wimmelt, wäre ein solcher Rückgriff auf den 1. März als Jahresanfang auch alles andere als ungewöhlich.

Widmen wir uns noch der Frage nach dem Endpunkt der Prophezeiungen. Nostradamus schreibt in der zitierten Stelle dazu, dass dieser im Jahre "3797" läge, allerdings ohne sich zur verwendeten Zeitrechnung zu äußern. Meines Erachtens nun verwendet unser Seher dazu ein eigenes System, das (nach Vorbild des damaligen julianischen Kalenders) am 1. März 1555 n.Chr. mit dem Jahr "1" einsetzt. Der Vorteil dieses Erklärungsmodells liegt u.a. darin, dass damit die Angaben aus 6/2 (und ähnlichen, hier nicht erwähnten Versen) plötzlich einen Sinn bekommen, ohne erst vorher "korrigiert" werden zu müssen. Des weiteren bekämen die scheinbar "falschen" Daten aus den eingangs erwähnten Vierzeilern wieder eine "zweite Chance" - für Nostradamus-Anhänger eine Frohbotschaft, für Skeptiker ein Ärgernis.

Tragen wir nun noch einmal einige der erwähnten Jahresangaben aus den Prophezeiungen zusammen und berechnen wir sie nach dem vorgeschlagenen System neu:

 
Jahre bei Nostradamus            Jahre n.Chr. (julianischer Kalender)
6/2                           "580" =           1. März 2134 - 28. Februar 2135
6/2                           "703" =           1. März 2257 - 28. Februar 2258
3/77                        "1727" =           1. März 3281 - 28. Februar 3282
10/72                      "1999" =           1. März 3553 - 28. Februar 3554
Vorwort an Cäsar     "3797" =           1. März 5351 - 29. Februar 5352

Wie schon angedeutet, liegen die Daten von 6/2 nun klar in der Zukunft (aus der Sicht des Nostradamus wie auch aus unserer). 3/77, wo wir eine Gefangennahme des persischen Herrschers durch Ägypter vorhergesagt finden, wird in eine ferne Zukunft verlegt, ins Jahr 3281/82 n.Chr. Das Ende der Prophezeiungen wäre im Jahr 5351/52 n.Chr. zu erwarten.

 

Vers 10/72: Entwarnung für 1999 n.Chr.

Sollte die von mir vorgeschlagene Zeitrechnung zutreffen, hätten wir auch 10/72 neu zu datieren. Da dieser Vers zu Unrecht oft für die Ankündigung einer kosmischen Katastrophe oder gar des Weltunterganges im Jahr 1999 n.Chr. gehalten wird, soll hier aus aktuellem Anlass näher auf ihn eingegangen werden. Er lautet:
 
 
 L’an mil neuf cens nonante neuf sept mois,  [Im] Jahr 1999, [im] siebten Monat,
 Du ciel viendra vn grand Roy d’effraieur  wird vom Himmel ein großer König des Schreckens kommen,
 Resusciter le grand Roy d’Angolmois.  [um] den großen König des Angoumois wieder auferstehen [zu] lassen.
 Auant apres Mars regner par bon heur.  Vor [und] nach [einem] Krieg [wird der Franzose] mit Erfolg regieren. *)

 
*) Nach: PFÄNDLER, Jean-Claude: NOSTRADAMUS - Seine Prophezeiungen. Die Urtexte neu übersetzt und kommentiert von Jean-Claude Pfändler. Chieming: Laredo-Verlag, 1997, S. 775f.

 

In der ersten Zeile finden wir das Datum, das, wie erläutert, nach meinem Verständnis mit September 3553 n.Chr. (im julianischen Stil) wiederzugeben wäre. Viele Interpreten haben hier bisher allerdings den Juli 1999 n.Chr. (ebenfalls im julianischen Stil) herausgelesen, was uns im vertrauten gregorianischen Kalender den Zeitraum zwischen dem 14. Juli und 13. August 1999 liefern würde. Und da am 11. August des gegenwärtigen Jahres über Europa tatsächlich eine totale Sonnenfinsternis stattfinden wird, wurde der "vom Himmel" kommende "König des Schreckens" der zweiten Zeile bisher leider allzu häufig mit dieser identifiziert. Doch würde dies - unter Vernachlässigung der Datierungsproblematik - einer kritischen Überprüfung standhalten? Eine Sonnenfinsternis spielt sich zwar am Himmel ab, kommt aber wohl kaum vom Himmel, um auf der Erde irgendwie einzugreifen. Vom Himmel könnte höchstens ein Meteorit kommen, der irgendwo einschlägt, doch wie sollte so ein Impakt den "großen König des Angoumois" (Westfrankreich) wieder auferstehen lassen? Außerdem passt die Umschreibung "Roy d’effraieur" nicht recht zu einem Meteoriten oder auch nur Kometen, - Nostradamus verwendet hier gewöhnlich eher Bezeichnungen wie "estoille en barbe" (5/59), "astre crinite" (2/15), "estoyle cheuelue" (2/43) usw. Der ganze Vers ähnelt zudem Présage 73, einem der zusätzlichen Vierzeiler, wo ebenfalls jemand "vom Himmel" nach Frankreich kommt, was kriegerische Auseinandersetzungen impliziert. Es würde hier zu weit führen, Vers 10/72 vollständig auslegen und seine Begleitverse ausfindig machen zu wollen, doch soll wenigstens versucht werden, den Ausdruck "vom Himmel" noch kurz zu erhellen. Dazu muss zunächst vorausgeschickt werden, dass Nostradamus in großem Umfang mit Wortspielen und Andeutungen arbeitet, um seine Texte zu verschleiern und deren Verständnis zu erschweren. So umschreibt er etwa in 10/30 den Papstnamen eines zukünftigen irischen Kirchenoberhauptes folgendermaßen: "Mit dem Übernamen stützt er Bögen und das Dach". Damit ist offensichtlich ein Pfeiler oder eine Säule gemeint, was im Französischen der Renaissance u.a. "colombe" bedeutet. Und dieses "colombe" dürfte wiederum auf den Namen "Columbanus" anspielen, den zwei irische Heilige trugen, denen sich dieser Papst vielleicht geistig verpflichtet sehen wird. Betrachten wir nun wieder den Ausdruck "vom Himmel", so wäre etwa folgendes Wortspiel denkbar: Das (mittel-) lateinische "coelum" (Himmel) ähnelt verdächtig dem lateinischen "Coele", dem Namen eines nahöstlichen Gebietes zwischen dem Libanon und dem Antilibanon. Unter Berücksichtigung von Présage 73 hätten wir dann in diesem Vers wohl den Angriff eines Orientalen aus dem Nahen Osten auf Frankreich vor uns. Etwas, das angesichts der Tatsache, dass Nostradamus mehrere Kriege zwischen orientalischen und abendländischen Mächten klar vorhersagt, ziemlich gut in den Gesamtkontext passen würde.

Fassen wir zum Schluss noch einmal die wichtigsten Ergebnisse zusammen. Nostradamus hat in keiner Weise einen Weltuntergang um das Jahr 2000 n.Chr. vorhergesagt. Seine Voraussagen erstrecken sich vielmehr bis ins "Jahr 3797", was nach meinem Verständnis dem Jahr 5351/52 n.Chr. entspricht. Daraus folgt logischerweise, dass Vers 10/72, der "1999" (d.h. 3553 n.Chr.) in Erfüllung gehen soll, kaum das Ende der Welt ankündigen kann. Eine auch nur rudimentäre Analyse des besagten Vierzeilers zeigt zudem, dass hier ebenfalls nicht von einer kosmischen Katastrophe die Rede sein dürfte. Wer immer also in nächster Zeit Menschen mit eschatologischen Horrorvisionen Angst einflößen will, kann dies nicht mit Berufung auf Nostradamus tun.

 
Jean-Claude Pfändler

 

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