5.9 "Polyneikes"
Zurück / Zurück zur Startseite
Zusammenfassung
Ein jüngerer Königssohn hat ein Auge auf eine bestimmte Frau geworfen. Es handelt sich dabei wahrscheinlich um eine Kurtisane seines Vaters - des Königs. Diese Kurtisane könnte möglicherweise bereits mit dem König ein inzestuöses Verhältnis pflegen, da Nostradamus sie als "leibliche" Kusine (lies: Kurtisane) bezeichnet. Um ihr beiwohnen zu können, verkleidet sich der Königssohn als Frau und betritt so die Gemächer der Kurtisane. Doch beim Weggehen wird der Prinz von einer nicht genannten Person aus dem Maine getötet.10/17 dürfte beschreiben, wie die Schwester des getöteten Königssohns von dessen Hinscheiden erfährt und dabei einen Schock erleidet. Die Ermordung ihres Bruders könnte, wie sich aus dem Vers ableiten ließe, in Angoulême stattfinden. Interessant ist, dass ihre Mutter Königin "Ergaste" genannt wird, was meines Erachtens ein Hinweis auf Jokaste, Mutter und Ehefrau des Ödipus, ist. Bleiben wir bei dieser Analogie, wäre der ermordete Sohn mit Polyneikes (Sohn von Ödipus und Jokaste) gleichzusetzen, der nach der Vertreibung seines Vaters Ödipus im Kampf um die Herrschaft fiel. Die "totenblasse Tochter" der Ergaste entspräche Antigone, einer der Töchter des Ödipus. Antigone bestattete im Mythos ihren gefallenen Bruder Polyneikes gegen den Willen ihres Onkels und wurde dafür zum Tode verurteilt. In der vierten Zeile bemerkt Nostradamus, dass dem Bruder die Heirat - wohl durch seine Ermordung - verwehrt sei. Das ist wohl so zu verstehen, dass "Polyneikes" ernsthaft geplant hat, die Kurtisane seines Vaters zu ehelichen. Und dies könnte der eigentliche Grund dafür sein, weshalb er ermodet wird.
Unklar bleibt hier aber u.a. noch die genaue Rolle von Ergaste bei dem Ganzen (im Mythos erhängte sich Jokaste). Und warum gab Nostradamus ihr diesen Namen und nicht direkt "Jokaste"?
Quellen
10/35
1) Vgl. lat. "flagrans" (u.a. erregt, leidenschaftlich).
Puysnay royal flagrand1) d’ardant libide2), [Der] königliche Jüngere [ist] erregt1) von brennender Lust2). Pour se iouyr de cousine germaine3) [Um] sich der "leiblichen Kusine"3) zu erfreuen, Habit de femme au temple d’Arthemide4): [ist er] als Frau verkleidet im Tempel der Artemis4). Allant murdry par incognu du Marne5). [Beim] Gehen [wird er] getötet vom Unbekannten aus dem Maine5).
2) Lat. "libido" (Lust, Wollust; Willkür, Zügellosigkeit).
3) Vgl. lat. "germanus" (u.a. leiblich). Es wäre aber auch möglich, daß hier "germanisch" (= deutsch) gemeint ist. Das mittelfranzösische "cousine" bezeichnet daneben aber auch eine Kurtisane, was zum nachfolgenden "Tempel der Artemis" gut passen würde.
4) Artemis (= röm. Diana) ist die Tochter des Zeus (Jupiters) und der Lato. Sie ist die Göttin des Mondes, der Fruchtbarkeit und des Todes, die Herrin der Herden und der Jagd, Führerin der Nymphen. Die Zwillingsschwester des Apollo war auch die Göttin der Reinheit. Sie wurde bei den Römern u.a. auch mit der Trivia gleichgesetzt (Mond- und Zaubergöttin).
Mit dem "Tempel der Artemis" ist hier vielleicht das Château d’Anet gemeint, das Heinrich II. für seine Mätresse Diane de Poitiers zwischen 1544 und 1555 bauen ließ. (Diana = Artemis, Tempel = geheiligte Stätte zu Ehren von...). Anet liegt etwa 70 km westlich von Paris.
5) Für diese Stelle gibt es eine Textvariante: "du Maine", vgl. LE PELLETIER und LEONI. Aus Gründen des Reims ist diese wahrscheinlich die Richtige. Der Maine ist eine ehemalige französische Provinz südlich der Normandie.
10/17
1) Griech. "ergastes" (hart arbeitend, fleißig).
La royne Ergaste1) voiant sa fille blesme, Die fleißige1) Königin sieht ihre Tochter totenblaß [werden] Par vn regret dans l’estomach encloz, wegen eines Kummers, [der in ihrem] Herzen eingeschlossen [ist]. Crys2) lamentables seront lors d’Angolesme3), Klägliche Schreie2) werden dann aus Angoulême3) kommen. Et au germain4) mariage fort clos5). Und dem Bruder4) [wird die] Heirat verwehrt 5) [sein].
2) Oder auch: "Bekanntmachungen".
3) Stadt im zentralen Westfrankreich, etwa 105 km nordöstlich von Bordeaux.
4) Möglicherweise auch "Germane" = Deutscher.
5) "Fort clos" dürfte eine Verschreibung von "forclos" (verwirkt, verwehrt) sein.
Zurück / Zurück zur Startseite