5.11  Übler Franziskanerpapst

Der römische Klerus wird im Frühjahr 3163 n. Chr. einen Franziskaner-Minoriten zum Papst wählen. Er wird ein bösartiger Pontifex sein, noch schlimmer als sein mittelalterlicher Ordensbruder Sixtus IV. (1471-1484) es war. Wegen des Ehrgeizes dieses Pontifex wird jemand sterben. Und zwar dann, wenn in Südwestfrankreich Perpignans Gnade verraten werden wird. Um für seine Sünden Buße zu tun, will der üble Franziskanerpapst in den nordfranzösischen Marienwallfahrtsort Boulogne-sur-Mer pilgern. Auf der Hin- oder Rückreise gelangt er in das Gebiet von Rennes. Bei Nacht wird er in Begleitung eines braungewandeten Ordensmannes durch den Wald von Rennes fahren und dabei überfallen und misshandelt werden. Dies zu einem Zeitpunkt, wenn der Krieg, den dieser Papst verursachen wird, schon halb ausgebrochen ist.


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10/91 - 8/22 - 8/53 - 9/20 - 6/65


10/91 (3163/64 n. Chr.)

[1] Clergé Romain l’an mil six cens & neuf1),
[2] Au chef2) de l’an feras election3)
[3] D’vn gris4) & noir5) de la Compagne6) yssu7),
[4] Qui onc ne feut si maling8).9)

[1] Römischer Klerus [des] Jahres 16091),
[2] zu Beginn2) des Jahres wirst [du die] Wahl durchführen.3)
[3] [Die] eines Grauen4) und Schwarzen5), [der] aus der Gemeinschaft6) stammt7) [und]
[4] der so bösartig8) [sein wird, wie es noch] nie [einer zuvor] war.9)

1) Nur wenige Strophen enthalten konkrete Jahreszahlen. Dazu gehören 1/49 (Jahr "1700"), 3/77 (Jahr "1727"), 6/2 (die Jahre "580" und "703"), 6/54 (Jahr "1607"), 8/71 (ebenfalls Jahr "1607"), 10/72 (Jahr "1999") und 10/91 (Jahr "1609"). Fassen wir diese Angaben als Jahre n. Chr. auf, wäre damit der Nachweis erbracht, dass die Prophezeiungen des Nostradamus falsch sind. Denn in den Jahren 1607, 1609, 1700, 1727 und 1999 n. Chr. geschah nichts, was zu den Voraussagen unseres Sehers passen würde. Die Jahre 580 und 703 n. Chr. lägen zudem bereits aus der Sicht des Nostradamus in ferner Vergangenheit. Natürlich ließen sich die beiden letztgenannten ergänzen, zu 1580 und 1703. Doch auch diese "Lösungen" würde die Weissagungen falsifizieren - die entsprechenden Voraussagen passen nicht zum historischen Geschehen der Jahre 1580 und 1703 n. Chr. Da gemäß Vorwort an Cäsar Nostradamus die Prophezeiungen bis ins Jahr "3797" reichen, erhielten "580" und "703" allerdings noch je zwei weitere Chancen: 2580 und 2703 bzw. 3580 und 3703 n. Chr. Aber eben nur, falls unser Seher sich in seinen prophetischen Texten auf die übliche christliche Zeitrechnung bezieht. Doch tut er das?
          Die beiden Vorworte sind eindeutig mit 1. März 1555 und 27. Juni 1558 n. Chr. datiert. In der zweiten Vorrede, die König Heinrich II. gewidmet ist, liefert Nostradamus zwei sich widersprechende Übersichten über die biblische Geschichte seit Erschaffung der Welt. Dabei gibt er in der zweiten - zwar falsch, aber wortwörtlich - den Zeitraum an, der seit der Schöpfung bis zur Geburt Christi vergangen ist: rund 4173 Jahre, 8 Monate (richtig: 4092 Jahre). D. h. auch hier steht der Beginn der christlichen Ära an bedeutender Stelle. Allerdings handelt es sich bei den beiden Vorwörtern grundsätzlich nicht um prophetische Texte, auch wenn sie (besonders das an Heinrich II. gerichtete) durchaus solche Passagen enthalten. Sie sind v. a. dazu gedacht, zusätzliche Informationen über die Entstehungsgründe und Beschaffenheit der Prophezeiungen zu liefern. Und zwar für zwei Adressaten, die Zeitgenossen unserers Sehers waren (Cäsar Nostradamus und König Heinrich II.). Und in diesem Zusammenhang macht nur eine Datierung im Anno-Domini-Stil Sinn. Ob die christliche Ära aber auch in den Zenturien verwendet wurde, lässt sich aufgrund der beiden Prosatexte nicht sagen. Somit ist die Annahme einer anderen Zeitrechnung grundsätzlich möglich. Verzichten wir im Fall der beiden Jahreszahlen "580" und "703" auf eine (unsichere) Ergänzung der Jahrtausende, wäre die Existenz einer anderen verwendeten Ära sogar zwingend.
          Doch wie sähe eine solche aus? 6/54/4 ließe sich alternativ auch folgendermaßen übersetzen: "[im] Jahr 1607 der Liturgie". Doch gibt es keine "liturgische Zeitrechnung". Und die Entwicklungsgeschichte der (katholischen) Liturgie bis 1555/57 liefert m. E. auch kein Datum, das sich als Beginn einer eigenen prophetischen Zeitrechnung aufdrängen würde. Nach meinem Dafürhalten handelt es sich bei der Formulierung von 6/54/4 vielmehr um eine bewusst gelegte falsche Spur. GRUBER, S. 284f., hält die Stelle jedoch im Gegenteil für eine von unserem Seher eingefügte Bestätigung, dass er in seinen Zenturienstrophen eben doch die übliche christliche Zeitrechnung verwendet habe. Eine etwas unbefriedigende Erklärung, da die christliche Ära mit der Geburt Christi beginnt und nicht mit dem letzten Abendmahl, als das Messopfer (der Kern der Messe) eingesetzt wurde. CLÉBERT, S. 738f., sieht ebenfalls die christliche Zeitrechnung gemeint und vermengt diese mit dem liturgischen Kalender, der allerdings bloß die Liturgie innerhalb des Kirchenjahres organisiert.
          Wichtig erscheint mir eine Stelle im ersten, Cäsar Nostradamus gewidmeten Vorwort zu sein. Nostradamus schreibt zu seinen Zenturienstrophen: "& sont perpetuelles vaticinations, pour d’yci à l’an 3797" (Und [es] sind andauernde Weissagungen für [die Zeit] von jetzt an bis zum Jahr 3797). Doch ob "3797" als Jahr n. Chr. aufzufassen ist, steht nirgends. Zudem schreiben alle Ausgaben von 1557 und 1568 statt "an" (Jahr) interessanterweise "annee", was neben "Jahr" v. a. auch die bloße Zeitspanne eines Jahres (zwölf Monate) meinen kann. Sollte diese frühe Korrektur (vielleicht von Nostradamus selber vorgenommen?) mehr als lediglich eine stilistische Variante sein, ließe sie sich so verstehen, dass unser Seher damit hat ausdrücken wollen, dass es sich um 3797 Jahresspannen zu je zwölf Monaten handelt und nicht um das Jahr 3797 n. Chr. Und zwar um 3797 Jahresspannen, die zu einem konkreten Zeitpunkt ("d’yci" = von jetzt an) ihren Anfang nehmen. Mit "jetzt" dürfte Nostradamus dabei am ehesten den 1. März 1555 gemeint haben ("ce j. de Mars 1555") - das Datum des Vorworts. Ein Tag, der sich für den Anfangspunkt einer eigenen Ära ("Anno Nostradami") besonders eignet und deshalb wohl kaum rein zufällig gewählt wurde: Es handelt sich beim 1. März nämlich passenderweise um den altrömischen Jahresanfang, der teilweise auch noch zur Zeit unserers Sehers verwendet wurde (in Venedig bis 1797).
          Das Jahr "1609" aus 10/91/1 entspricht somit nach meinem Dafürhalten der Zeit vom 01.03.3163 bis 29.02.3164 n. Chr. im julianischen Kalender. Umgerechnet in den heute gebräuchlichen gregorianischen Kalender wäre das der Zeitraum vom 23.03.3163 bis 22.03.3164.
2) Da das mittelfranzösische "chef" u. a. auch "Ende, Schluss" bedeuten kann, wäre es allerdings ebenfalls denkbar, dass Nostradamus hier an das Jahresende gedacht hat.
3) Die Zeile scheint eine Silbe zu wenig zu enthalten. Verteilt man "election" jedoch auf vier statt drei Silben ("e-lec-ti-on"), würde das Versmaß wieder stimmen.
4) Das Attribut "grau" taucht in 1/100/1, 6/65/1, 8/22/4, 9/20/3, 10/38/4 und 10/91/3 auf. Im kirchlich-religiösen Bereich verweist der Farbton Grau auf die Franziskaner-Minoriten (OFMConv) oder auch die Zisterzienser, die ein graues Gewand trugen bzw. tragen (vgl. die mittelfranzösischen Ausdrücke "moine gris" und "ordre gris").
franziskanerhabit
Quelle: https://de.slideshare.net/sophianavarre/die-franziskaner (Abgerufen am 30.07.2017)
5) Nostradamus könnte hier beim Farbton Schwarz einmal mehr an das lat. "niger" (schwarz) gedacht haben, das im übertragenen Sinne auch "boshaft, tückisch, böse" bedeutet.
6) Die 1568er-Ausgaben von Grasse und Stockholm schreiben "Compagnie". Eine "Compagn(i)e" ist grundsätzlich eine "Gemeinschaft". Mit Blick auf den Kontext dürfte hier am ehesten eine religiöse Gemeinschaft gemeint sein, vgl. auch GRUBER, S. 285, und CLÉBERT, S. 1157. Den Begriff "Compagne" im geografischen Sinne zu verstehen wäre zwar möglich, etwa als "Campagne [Romaine]", das Latium, aber meines Erachtens nicht naheliegend oder gar zwingend.
7) "Yssu" (so in allen 1568er-Ausgaben) reimt sich nicht auf das "neuf" aus Zeile eins. PRÉVOST, S. 98, schlägt vor, das "neuf" ohne das Schluss-f vorzulesen und das "yssu" zu "ysseu" zu korrigieren, was den Reim wieder herstellen würde. Eine dichterische Freiheit, die man Nostradamus zur Not zugestehen könnte. Die Stelle "Compagne yssu" wurde auch schon als Anspielung auf den Jesuitenorden verstanden, der 1534 gegründet wurde und auf Französisch Compagnie de Jésus heißt (vgl. GRUBER, S. 286, und CLÉBERT, S. 1157). Da die Jesuiten oft in Schwarz gekleidet sind, würde dies zum "Schwarzen" aus Zeile drei passen, aber nicht zum dort ebenfalls erwähnten "Grauen".
8) "Moralisch schlecht, böse, hinterhältig" im weitesten Sinne.
9) Die Zeile ist nur verstümmelt überliefert. Ihr fehlen drei Silben, und sie sollte sich auf das "election" aus Zeile zwei reimen.
Der römische Klerus wird im Frühjahr 3163 n. Chr. einen Papst wählen. Es wird sich um einen grauen Mönch, einen Franziskaner-Minoriten handeln. Doch dieser Pontifex wird so bösartig sein, wie es noch nie ein Kirchenoberhaupt zuvor war - auch Sixtus IV. (1471-1484) nicht, der aus demselben Orden stammte.

In den ersten beiden Zeilen wendet sich Nostradamus direkt an den römischen Klerus des Jahres "1609", d. h. nach meinem Dafürhalten des Zeitraumes vom 23. März 3163 bis 22. März 3164 n. Chr (vgl. Anmerkung 1). Dieser Klerus wird zu Beginn jener Jahresfrist eine Wahl durchführen.

Wie mit Blick auf die anderen Vierzeiler der vorliegenden Strophengruppe zu vermuten ist, dürfte es sich dabei um eine Papstwahl handeln. Interessant ist nun, dass unser Seher sich konkret nur an den römischen Klerus wendet. Das könnte heißen, dass anders als heute (oder schon zur Zeit des Nostradamus) nicht das international zusammengesetzte Wahlgremium der Kardinäle (Konklave) den Pontifex wählt, sondern bloß Kleriker aus Rom. Oder die römischen Kleriker könnten unter den Wählenden eine absolute Mehrheit besitzen, so dass ihre Stimmen alleine für die Wahl des Kirchenoberhauptes entscheidend sind.

Im zweiten Teil der Strophe 10/91 erfahren wir mehr über den neugewählten Papst. Es wird sich um einen Ordensmann handeln, der sich aber als so bösartig erweisen wird, wie es noch nie ein Papst (oder Ordenspapst?) zuvor war. Bis zur Zeit des Nostradamus gab es 25 Päpste (inkl. einen Gegenpapst), die einem Orden angehörten. Davon waren zwei Franziskaner (Nikolaus IV. 1288-92 (OFM = brauner Franziskaner), Sixtus IV. 1471-84 (OFMConv = grauer Franziskaner) und vier Zisterzienser (Eugen III. 1145-53, Lucius III. 1181-85, Cölestin IV. 1241, Benedikt XII. 1334-42). Unter den hier erwähnten sticht Sixtus IV. klar hervor. Dieser Papst aus Ligurien betrieb eine ausufernde Vetternwirtschaft innerhalb und außerhalb der Kirche und war in zahlreiche politische Händel verstrickt. So billigte Sixtus etwa die gescheiterte Pazzi-Verschwörung in Florenz, bei der die führenden de’ Medici ermordet und durch Verwandte des Papstes ersetzt werden sollten. Gemäß Nostradamus wird nun der künftige Franziskanerpapst seinen mittelalterlichen Ordensbruder Sixtus in Sachen Bösartigkeit noch übertreffen.

sixtus iv
Sixtus IV. 1471-1484
Quelle: https://de.wikipedia.org/...
(Abgerufen am 30.07.2017)







8/22

[1] Gorsan1), Narbonne2) par le sel3) aduertir
[2] Tucham4), la grace5) Parpignan6) trahye,
[3] La ville rouge7) n’y vouldra consentir.
[4] Par haulte vol8) drap10) gris9) vie faillie11).

[1] Coursan1) [und] Narbonne2) [werden] mit dem Siegel3)
[2] Tuchan4) [warnen, dass] die Gnade5) [von] Perpignan6) verraten [worden ist].
[3] Villerouge7) wird damit nicht einverstanden sein.
[4] Durch [den] Ehrgeiz8) [der] grauen9) Kutte10) [wird das] Leben beendet11) [werden].

1) In allen 1568er-Ausgaben so. Lies Coursan, vgl. LEONI, S. 355, und CLÉBERT, S. 863. Aufgrund des Kontextes ist wohl Coursan rund 7 km nordöstlich von Narbonne gemeint. Es gäbe allerdings noch ein Coursan-en-Othe in der Champagne, das hier aber mit ziemlicher Sicherheit ausscheidet. GRUBER, S. 266f., vermutet dagegen Gruissan wenige Kilometer südöstlich von Narbonne an der Küste.
2) Narbonne wird in 1/5/4, 1/72/3, 1/99/4, 2/59/4, 3/92/4, 4/94/4, 6/56/1, 8/22/2, 9/34/4, 9/38/4, 9/63/2 und 9/64/2 erwähnt. Die Stadt nahe der südwestfranzösischen Mittelmeerküste wurde 118 v. Chr. von den Römern als Colonia Narbo Martius gegründet. Seit 22 v. Chr. war Narbonne die Hauptstadt der Provincia Narbonensis, die von den Pyrenäen bis zu den Alpen reichte. Durch einen Brand 145 n. Chr. zum großen Teil zerstört, wurde die Stadt 15 Jahre später von Kaiser Antoninus Pius wieder aufgebaut. Die Westgoten übernahmen Narbonne im Jahre 462 und machten die Stadt zu Beginn des 6. Jh. sogar kurz zu ihrer Hauptstadt. Die aus Spanien kommenden Araber eroberten Narbonne im Jahr 719, das Hauptstadt einer ihrer Provinzen wurde. In den nächsten vier Jahrzehnten diente die Region um Narbonne den Muslimen als Ausgangspunkt für mehrere Raubzüge nach Gallien, wobei sie nach Aquitanien, ins Rhonetal und bis ins Burgund vorstießen. 759 eroberten die Franken unter Pippin dem Kurzen Narbonne. Die muslimischen Bewohner verließen die Stadt in den kommenden Jahrzehnten, aus den islamisch beherrschten Gebieten gab es aber bis ins 11. Jh. immer wieder Raubzüge nach Norden. 859 wurde Narbonne von den Wikingern geplündert. Ab dem 9. Jh. entwickelte sich die Stadt zu einem kulturellen und religiösen Zentrum in Südfrankreich. Im Kampf gegen die Albigenser (Katharer) von 1208 bis 1229 war Narbonne - seit dem 3. Jh. Bischofssitz - ein Zentrum der Katholiken. Das 14. Jahrhundert brachte den Abstieg der Stadt, der bis zur Zeit des Nostradamus anhielt. Hauptgrund dafür war der Umstand, dass die Aude ihren Lauf änderte und den vorhandenen Kanal zum Meer nicht mehr wie bisher mit Wasser versorgte. Mit einschneidenden Folgen etwa für Handel und Wirtschaft. Zudem wurde die Stadt 1348 schwer von der Pest heimgesucht. Sieben Jahre später belagerten die Engländer die Stadt, allerdings nur kurz und vergeblich.
3) Mit "sel" (Salz) könnte das Meer gemeint, vgl. griech. "hals" (u. a. "Salz; Salzflut, Meer") und lat. "sal" (u. a. ebenfalls "Salz; Salzflut, Meer"). Dann wäre die Stelle mit "durch das Meer hindurch" zu übersetzen. Allerdings liegt Tuchan, das hier gewarnt wird, nicht einmal in der Nähe des Meeres. CLÉBERT, S. 863, schlägt hier für "sel" die Lesart "seel, scel (= sceau)" vor. "Seel" bedeutet "Siegel".
4) In allen 1568er-Ausgaben so. Tuchan liegt etwa 40 km südwestlich von Narbonne und rund 26 km nordwestlich von Perpignan, im gebirgigen Hinterland namens Corbières, auf 136 m Seehöhe.
5) Die 1568-Ausgaben von Méjanes und Perugia schreiben hier "grande" (groß, Große). "Grace" bedeutet neben "Gnade" u. a. auch "Gunst".
6) Perpignan taucht in 6/56/3, 8/22/2, 8/24/2, 9/15/1 (?) und 10/11/4 auf. Die Stadt liegt nahe der südwestfranzösischen Mittelmeerküste, 55 km südwestlich von Narbonne und nur wenige Kilometer von der spanischen Grenze entfernt. Perpignan wurde wahrscheinlich anfangs des 10. Jh. gegründet. Gegen Ende des 10. Jh. machten die Grafen des Roussillon die Stadt zu ihrer Residenz. Mit dem Aussterben der Grafen kam Perpignan 1172 zu Aragon. Unter einem Seitenzweig des Hauses Aragon war Perpignan von 1276 bis 1344 die Hauptstadt des Königreichs Mallorca, das neben den Balearen das Roussillon u. a. Gebiete umfasste. 1346 wurde die Stadt schwer von der Pest heimgesucht. Ende 1408 bis Anfang 1409 hielt Gegenpapst Benedikt XIII. in Perpignan ein Gegenkonzil ab. Der römisch-deutsche König Sigismund, der König von Aragon und Gegenpapst Benedikt XIII. trafen sich im Herbst 1415 in der Stadt, wobei Sigismund vergeblich versuchte, Benedikt zum Rücktritt zu bewegen. 1463 eroberte Frankreich Perpignan. Die Stadt erhob sich zehn Jahre später, musste sich 1475 aber dem französischen König ergeben. Allerdings erhielt Perpignan von den Königen von Aragon den Ehrentitel "Fidelissima villa de Perpinyà" (Allertreueste Stadt Perpignan). 1493 übergab Frankreich die Stadt an das inzwischen entstandene Spanien. 1542 belagerten die Franzosen Perpignan erneut, allerdings erfolglos. Französisch wurde die Stadt erst im 17. Jh. (1642).
7) Oder: "die rote Stadt". Es gibt einen Ort namens Villerouge (seit 1962 Villerouge-Termenès) mit einer gleichnamigen Burg, etwa 41 km nordwestlich von Perpignan und etwa 15 km nordwestlich von Tuchan gelegen. Villerouge-Termenès gehört zum Erzbistum Narbonne. 1321 wurde in Villerouge Wilhelm Belibaste, der letzte "Vollkommene" (Wanderasket, "Geistlicher") der Katharer auf dem Scheiterhaufen verbrannt, nachdem er einen Hirten im Streit erschlagen hatte. Ein Weiler namens Villerouge-la-Crémade (einst auch Villerouge-la-Panouse genannt) existiert auf dem Gebiet der Gemeinde Fabrezan, 16 km nordöstlich von Villerouge-Termenès). Ansonsten käme als "rote Stadt" vielleicht Perpignan infrage, für das u. a. die lat. Bezeichnungen Rosciliona und Ruscino existieren. Vgl. lat. "rosans" (rosenrot), "russus" (rot) bzw. franz. "roux, rousse" (fuchsrot). Zu Perpignan vgl. auch LEONI S. 698.
8) In allen 1568er-Ausgaben so. Lies aber wohl "haulte volée". Mit diesem (wörtlich übersetzt) "hohen Flug" könnte Nostradamus auf den Ausdruck "voler haut" (hochfliegen) anspielen, der im übertragenen Sinn auch "ehrgeizig sein" bedeutet (vgl. 8/53/3).
9) Vgl. 10/91, Anmerkung 4.
10) "Drap" bedeutet u. a. "Stoff, Tuch; Kleidung, Tracht".
11) Oder u. a. auch "gescheitert".
In Südwestfrankreich werden die Städte Coursan und Narbonne Tuchan warnen, dass die Gnade von Perpignan verraten worden ist. Damit wird aber Villerouge-Termenès nicht einverstanden sein. Durch den Ehrgeiz des üblen Franziskanerpapstes wird dann jemand das Leben verlieren.

Karte zu 8/22Leere Karte: http://histgeo.ac-aix-marseille.fr/carto/france/france12.odg (Abgerufen am 04.08.2016). Bearbeitet von Jean-Claude Pfändler am 24.07.2017.

In der vierten Zeile taucht mit aller Wahrscheinlichkeit wieder der üble Franziskanerpapst auf. Wir dürften hier erfahren, dass er sehr ergeizig sein wird - eine Parallele zu 8/53/3. Und dass dieser Ehrgeiz jemandem das Leben kosten wird. Laut 9/20/4 wird dieser Pontifex "Sturm", "Feuer" und "Schneide", d. h. gewaltsame Auseinandersetzungen verursachen. In 8/22/4 könnte aber vielmehr der Tod einer konkreten Person gemeint sein. Doch wessen Tod?

Die ersten drei Zeilen schildern Vorgänge in Südwestfrankreich. Ob oder wie diese Vorgänge direkt mit dem Ehrgeiz des Franziskanerpapstes zusammenhängen, ist allerdings nicht ersichtlich.

In der zweiten Zeile erfahren wir, dass Perpignan jemandem oder etwas Gnade oder eine Gunst gewähren wird. Doch wem? Möglicherweise Tuchan. Doch in welcher Beziehung stehen die beiden Ortschaften zueinander?

Weiter ist zu lesen, dass diese Gnade bzw. Gunst verraten werden wird. Doch von wem? Ändert Perpignan vielleicht seine Meinung und belässt Tuchan im Irrglauben, die Gnade oder Gunst bestände weiterhin?

Jedenfalls wissen Narbonne und Coursan von diesem Verrat und warnen Tuchan mit einem "Siegel" (vermutlich einem Schriftstück mit Siegel), vgl. Zeilen eins und zwei.

Doch wie wir in Zeile drei erfahren, wird Villerouge-Termenès "nicht damit einverstanden sein". Wahrscheinlich nicht mit der Warnung an Tuchan. Da Villerouge-Termenès zwischen Coursan und Narbonne einerseits und Tucham andererseits liegt, wäre es weiter denkbar, dass es etwa einen Kurier mit der ge- oder versiegelten Warnung abfängt.


8/53

[1] Dedans Bolongne1) vouldra lauer ses fautes2),
[2] Il ne pourra au temple du soleil3),
[3] Il volera4) faisant choses si haultes5),
[4] En hierarchie6) n’en fut oncq vn pareil.

[1] In Boulogne-sur-Mer1) wird [er] seine Sünden2) wegwaschen wollen.
[2] Er wird [das] nicht im Tempel der Sonne3) [tun] können.
[3] Er wird ehrgeizig sein4) [und] außerordentlich hochmütige5) Dinge tun.
[4] In der Hierarchie6) gab es nie einen Gleichen.

1) Die 1568er-Ausgaben aus Dresden und Paris schreiben "Bologne". Ein "Bolo(n)gne" taucht in 5/94/2, 8/53/1 und 9/13/3 auf. In 5/94/2 ist damit am Ehesten Boulogne-sur-Mer am Ärmelkanal gemeint, in 9/13/3 wohl das italienische Bologna. In Frankreich gibt es zudem einige weitere Orte, die den Namensbestandteil Boulogne oder Bologne tragen. Was für Boulogne-sur-Mer spricht, ist der Umstand, dass die Stadt seit dem Mittelalter mit der "Vierge de Boulogne" (Jungfrau von Boulogne) eines der bekanntesten Wallfahrtsziele in Europa war. Und eine Bußwallfahrt nach Boulogne-sur-Mer würde gut zum "Wegwaschen der Fehler" aus Zeile eins passen. 1330 wurde für die Gläubigen, die nicht nach Boulogne pilgern konnten, nahe Paris eine Kirche errichtet, die der Jungfrau von Boulogne geweiht war. Um dieses Heiligtum herum entwickelte sich eine Siedlung, das heutige Boulogne-Billancourt, ein weiterer möglicher Kandidat.
2) Neben "Fehler" bedeutet "faute" im Mittelfranzösischen u. a. auch "Sünde".
3) Die Sonne steht bei Nostradamus für das Christentum, das den Sonntag (lat. "dies Solis" = Tag der Sonne) feiert. CLÉBERT, S. 900, erinnert in Zusammenhang mit dem "Tempel der Sonne" an die "Sonnenstadt" aus 1/8/1 und 5/81/1, mit der Rom, das Zentrum des (katholischen) Christentums gemeint sein dürfte. Bei AGRIPPA VON NETTESHEIM, Buch 2, Kapitel 14, wird die Sonne aber indirekt auch dem Apostel Petrus zugeordnet. Dort wird der Apostelfürst u. a. dem Tierkreiszeichen Löwe beigesellt, das bekanntlich von der Sonne regiert wird. Und in Rom existierte schon zur Zeit des Nostradamus der Petersdom, dessen Grundstein bereits 1506 gelegt, der aber erst 1626 vollendet wurde. Somit müsste mit dem "Tempel der Sonne" konkret Sankt Peter im Vatikan (it. Basilica di San Pietro in Vaticano) gemeint sein. Allerdings gäbe es noch eine ganze Reihe von weiteren Kathedralen und Kirchen, die dem hl. Petrus geweiht sind und seinen Namen tragen. Etwa die Kathedrale San Pietro in Bologna oder die Kathedrale Saint-Pierre in Rennes.
4) Wörtlich übersetzt: "(hoch-) fliegen". Dieses "(hoch-) fliegen" ist wohl als "nach oben/nach Macht streben" zu verstehen, vgl. "voler haut", das im übertragenen Sinne auch "ehrgeizig sein" bedeutet. Vgl. 8/22/4.
5) Oder u. a. aber auch: "große; edle".
6) "Hierarchie" bedeutet eigentlich "heilige Herrschaft" und bezeichnet im Speziellen die Machtstruktur innerhalb der Kirche.
Der üble Franziskanerpapst wird ehrgeizig sein und hochmütige Dinge tun. Doch dann will er seine Sünden durch eine Bußwallfahrt wegwaschen. Da eine Pilgerreise in den Petersdom in Rom für ein Kirchenoberhaupt keinen Sinn ergibt, will er ins nordfranzösische Marienheiligtum von Boulogne-sur-Mer fahren.

In Zeile vier erfahren wir, dass es in der "Hierarchie" vorher nie jemanden gegeben hat wie die Person, um die es hier geht. Wie in Anmerkung 6 erwähnt, wird mit "Hierarchie" - wörtlich der "heiligen Herrschaft" - im Speziellen die Machtstruktur innerhalb der katholischen Kirche bezeichnet. Die Aussage, dass es nie zuvor in der Hierarchie einen derartigen Menschen gegeben hat, verweist uns auf 10/91/4, wo ähnlich formuliert von einem üblen Franziskanerpapst die Rede ist, der so bösartig sein wird, wie es nie zuvor einer war.

Interessant ist in diesem Zusammenhang Zeile drei. Es ist von einem Mann die Rede, der - wörtlich übersetzt - "(hoch-) fliegen", d. h. durch einen großen Ehrgeiz gekennzeichnet sein wird. Nostradamus’ Ausdrucksweise erinnert hier wohl nicht zufällig an 8/22/4, wo vom Ehrgeiz (wörtlich "hohen Flug") eines üblen Franziskanerpapstes gesprochen wird.

Nach meinem Dafürhalten ist es somit äußerst wahrscheinlich, dass in der zweiten Hälfte von Strophe 8/53 ebenfalls vom erwähnten üblen Franziskanerpapst die Rede ist.

In Zeile drei erfahren wir, dass der große Ehrgeiz diesen Pontifex auch zur Begehung außerordentlich arroganter Taten verleiten wird. Worum es sich dabei genau handelt, erfahren wir hier allerdings nicht.

Hochmut ist aber eine Sünde, sogar eine Hauptsünde (Todsünde). Und dies führt uns zur ersten Zeile.

In 8/53/1 ist von einem "Bolongne" die Rede, wo sich der üble Franziskanerpapst von seinen Sünden reinwaschen will. Das klingt nach einer Bußwallfahrt, denn das übliche Bußsakrament ist bekanntlich die Beichte, die ortsunabhängig ist. In 9/20 erfahren wir, dass sich dieser Pontifex in Frankreich (Varennes) und dabei vermutlich im nördlichen Teil des Landes aufhalten wird. Das deutet meines Erachtens auf Boulogne-sur-Mer oder alternativ Boulogne-Billancourt hin, vgl. Anmerkung 1. Das würde insofern passen, als dass die beiden erwähnten Boulognes Marienwallfahrtsorte sind. Und die Gottesmutter wird bekanntlich u. a. wegen ihrer tiefen Demut dem Willen Gottes gegenüber verehrt. Eine Demut, die dem Hochmut Satans aber auch dem Ehrgeiz dieses Kirchenoberhauptes diametral gegenübersteht.

Karte zu 08/053
Leere Karte: http://www.schulatlas.com/2014/menue/stummekarte/eu/EUR_ACD.pdf (Abgerufen am 08.01.2017).
Bearbeitet von Jean-Claude Pfändler am 10.08.2017

Zur Zeit des Nostradamus existierten die Wallfahrtsziele Lourdes (1858) oder Fatima (1917) noch nicht. Warum der üble Franziskanerpapst aber ausgerechnet nach Boulogne-sur-Mer (oder Boulogne-Billancourt) pilgert und nicht etwa nach Loreto (14. Jh.) oder Einsiedeln (14. Jh.), ist unklar. Interessant ist aber, dass die hl. Jungfrau von Boulogne in einem Boot stehend (oder sitzend) verehrt wird. Dies weil der Überlieferung zufolge im Jahr 636 ein von Engeln gestoßenes unbemanntes Boot mit einer Marienstatue an Bord in Boulogne-sur-Mer gelandet sein sein soll. Dabei soll die hl. Jungfrau, die sich dabei als Fürsprecherin der Sünder bezeichnet hatte, den Bau einer Kirche verlangt haben. Für einen Papst wäre eine Wallfahrt zu Maria in einem Boot nun passend, da er selber Lenker eines Bootes, des Fischerbootes Petri ist.

Vierge de Boulogne
Eine Statue der Vierge de Boulogne in der Kathedrale Notre-Dame-de-Boulogne-sur-Mer. Die alte Kirche wurde während der Französischen Revolution zerstört. Die jetzige Kathedrale wurde in der Jahren 1827-1866 errichtet. Quelle:  http://www.amis-hom-arts.com/2015/10/la-basilique-
notre-dame-de-boulogne-sur-mer-
visite-guidee-n-1.html (Abgerufen am 07.08.2017).

In der zweiten Zeile erfahren wir, dass der Sünder, um den es in dieser Strophe geht, seine Schuld nicht im "Tempel der Sonne" - wohl Sankt Peter im Vatikan - wird wegwaschen können. Doch warum? Vielleicht weil eine Pilgerfahrt in den Petersdom für den reuigen Sünder gar nicht möglich ist, da er sich dort oder in dessen Nähe ohnehin dauernd aufhält? In diesem Fall wäre Zeile zwei als ein verklausulierter Hinweis aufzufassen, dass es sich hier um einen Papst handelt.


9/20

[1] De nuit viendra par la forest de Reines1),
[2] Deux pars2) vaultorte3) Herne4) la pierre blanche6),
[3] Le moine noir7) en gris8) dedans Varennes9)
[4] Esleu cap.10) cause tempeste feu, sang tranche.

[1] In der Nacht wird [man] durch den Wald von Rennes1) kommen,
[2] über2) Vautorte3), Ernée4) [und5)] La Pierre Blanche6).
[3] ["Man" - das ist] der schwarze7) Mönch in Grau8) in Varennes9).
[4] [Das] gewählte Ornat10) verursacht Sturm, Feuer [und] Schneide.

1) In Frankreich gibt es eine Handvoll Orte namens Rennes. Um herauszufinden, welche Lokalität bzw. welcher Wald hier gemeint ist, muss man auf die Quelle zurückgreifen, aus der Nostradamus beim Verfassen der Strophe ganz offensichtlich geschöpft hat. Es handelt sich dabei um den Reiseführer von Charles ESTIENNE (vgl. PRÉVOST, S. 26f. und GRUBER, S. 256f.). Den "forest de Reines" finden wir als "forest de Renes" bei ESTIENNE auf S. 129. Er ist Teil der Route von Mayenne nach Rennes (ebd., S. 128f.). Diese lautet: "Mayenne la Iuzest" (Mayenne[-la-Juhel, vgl. S. 114]) - "Sainct George" (Saint-George-Buttavent) - "Vaultortu" (Vautorte) - "Heruee" (Ernée) - "Lande, au milieu de laquelle a un orme, ou y a un estendart, faisant separation du Maine & Bretaigne." (Heide, in deren Mitte eine Ulme steht, wo es eine Standarte gibt, die den Maine und die Bretagne voneinander trennt) - "Fougeres" (Fougères) - "Sainct Aulbin du Cormier, Autresfois uille. Landes, ou fut la bataille sainct Aulbin." (Saint-Aubin-du-Cormier, einst eine Stadt. Heideland, wo die Schlacht von Saint-Aubin stattfand [Am 28.07.1488 besiegten dort die Franzosen die Bretonen]) - "Loffray, Forest de Renes" (Liffré, der Wald von Rennes) - "Renes" (Rennes). Hier ist also der auch heute noch existierende "Forêt domaniale de Rennes" bei Liffré gemeint.
2) Unklar. "Deux pars" lässt sich verschieden übersetzen: "zwei Paar, zwei Partner, zwei Seiten" u. a. GRUBER, S. 257, könnte durchaus recht haben, wenn er "deux pars" als "de par" liest.
3) Vgl. Anmerkung 1. Die 1568er-Ausgaben von Dresden und Paris schreiben "voltorte".
4) Vgl. Anmerkung 1.
5) Unklar, vielleicht auch "bis nach". Siehe Kommentar.
6) La Pierre Blanche finden wir bei ESTIENNE auf S. 131. Die Lokalität ist Teil der Route von Rennes nach Montfort auf S. 130f. Wir lesen dort: "Renes" (Rennes) - "Vesin" (Vezin-le-Coquet) - "L’hermitage" (L’Hermitage) - "La pierre blanche" (La Pierre Blanche) - "Montfort" (Montfort-sur-Meu). La Pierre Blanche ist dabei ein Weiler etwa 4 km nordwestlich von L’Hermitage, das seinerseits rund 10 km nordwestlich von Rennes liegt. Er gehört zur Gemeinde Saint-Gilles. Allerdings gäbe es noch einen Menhir (Hinkelstein) namens La Pierre Blanche bei Pocé-les-Bois, der nur wenig südwestlich von Vitré steht. Diese Erklärung würde zu den in 9/20/2 ebenfalls erwähnten Vautorte und Ernée passen. Denn diese Orte tauchen bei ESTIENNE auch als Teil der Route vom normannischen Alençon nach Vitré auf (S. 127f.).
7) Vgl. 10/91, Anmerkung 5.
8) Vgl. 10/91, Anmerkung 4.
9) Es gibt in Frankreich Dutzende Orte dieses Namens. U. a. auch Varennes-en-Argonne, 27 km nordwestlich von Verdun, wo Ludwig XVI. samt Familie am 21. Juni 1791 auf der Flucht erkannt und gestoppt wurde. Dies hat dazu geführt, dass man in der (populären) klassischen Nostradamusliteratur die Strophe 9/20 bzw. deren Auslegung fälschlicherweise sehr oft an die Geschehnisse während der französischen Revolution "angepasst" hat. Dazu vergleiche man die Ausführungen bei PRÉVOST, S. 25-29, GRUBER, S. 253-257, und CLÉBERT, S. 972. Obwohl Nostradamus mit Sicherheit etwas ganz Anderes im Sinn hatte, hat aber diese Missinterpretation obiger Strophe zum (zweifelhaften) Ruhm des Sehers nach 1791 wesentlich beigetragen.
          Bei ESTIENNE taucht auf S. 117 und 129 ein Varennes als Teil der Route von Orléans nach Angers bzw. nach Rennes auf. Es handelt sich dabei um Varennes-sur-Loire, etwa 53 km südöstlich von Angers. Interessant ist auch das Château de Varennes-l’Enfant, etwa 2,5 km östlich von Épineux-le-Seguin gelegen, das seinerseits 66 km südöstlich von Vitré bzw. 34 km südöstlich von Laval liegt.
10) In allen 1568er-Ausgaben mit Punkt, nur bei Gregorio ohne. Cap(.)" taucht in 7/37/4, 9/20/4, 9/30/3 und 9/64/4 auf. Als Abkürzung mit Punkt (oder selten: Komma) wird der Begriff in 9/20/4, 9/30/3 (alle außer Dresden, Paris u. Gregorio) und 9/64/4 (alle außer Dresden, Paris u. Gregorio) geschrieben. In 7/37/4 erscheint das Wort nirgends als Abkürzung. Das mittelfranzösische "cap" heißt dabei "Kopf, militärischer Anführer, Kap". Ich vermute allerdings, dass es überall "cap." (mit Punkt) heißen sollte. Doch welches Wort könnte Nostradamus hier abgekürzt haben? Auch hierzu habe ich einen Verdacht. Unser Seher verwendet in 4/11/1, 5/78/4, 8/19/1 und 9/26/2 den Begriff "cappe" (Ornat eines Geistlichen, das über den Rang seines Trägers Auskunft gibt). Dabei legt besonders 5/78 nahe, dass es sich dabei wohl um das Papstornat bzw. den Papst handelt. Ich vermute nun, dass mit dem "cap(.)" - dem "Ornat" - ebenfalls das Kirchenoberhaupt gemeint ist. Alternativ käme vielleicht noch "capelan" (ein bedürftiger, oft auch verachteter Geistlicher) als Lösung in Betracht (vgl. PFÄNDLER, 1997, S. 656), was aber nicht recht zu einem Papst passen würde. Außer der Pontifex wäre von seiner Herkunft her ein Bettelmönch, eben etwa ein Franziskaner (vgl. Anmerkung 8).
Der üble Franziskanerpapst reist vom Château de Varennes-L’Enfant über Vautorte, Ernée und den Menhir La Pierre Blanche in Richtung Rennes. Dabei durchquert er den Wald von Rennes zur Nachtzeit. Dieser Papst wird gewaltsame Auseinandersetzungen, vielleicht sogar einen Krieg verursachen.

Karte zu 9/20
Leere Karte: http://histgeo.ac-aix-marseille.fr/carto/france/france12.odg (Abgerufen am 04.08.2016). Bearbeitet von Jean-Claude Pfändler am 18.08.2017.

In der dritten Zeile erfahren wir, dass der üble Franziskanerpapst, den wir u. a. aus 10/91 kennen, sich in Varennes aufhalten wird. Um welches Varennes es sich dabei handelt, erfahren wir nicht. Mit Blick auf die ersten beiden Zeilen der Strophe kommen dafür aber wohl in erster Linie Varennes-sur-Loire und das Château de Varennes-L’Enfant infrage. Wie der Franziskanerpapst nach Varennes gelangt und was er dort will, erfahren wir allerdings nicht.

Zeile vier ist allerdings zu entnehmen, dass der zum Papst gewählte Franziskaner (das "gewählte Ornat") Sturm, Feuer und Schneide (wohl: Schwert) verursachen (heraufbeschwören) wird. Damit dürften gewaltsame Auseinandersetzungen, womöglich sogar ein Krieg gemeint sein. Wie er das macht, erfahren wir hier allerdings nicht.

Die ersten beiden Zeilen beschreiben eine Reiseroute. Jemand wird nachts den Wald etwas nordöstlich von Rennes durchqueren. Doch in welche Richtung? Richtung Rennes oder von der Stadt weg? Dazu erfahren wir in Zeile zwei, dass sich dieser Jemand wahrscheinlich von Ost nach West (von Vautorte nach Ernée) bewegen wird. Das legt den Verdacht nahe, dass die Reise auch im Wald von Rennes in westliche Richtung, in Richtung Stadt geht.

Doch was machen wir mit der Erwähnung von La Pierre Blanche ("der weiße Stein") in derselben Zeile zwei? Die einfachste Erklärung wäre, dass der oder die Reisenden über Vautorte, Ernée und den Wald von Rennes in die Hauptstadt der Bretagne ziehen, diese dann aber hinter sich lassen und in den (heute) unbedeutenden Weiler La Pierre Blanche gehen. Doch was will man dort?

Eine andere Erklärung bestände darin, dass die Reiseroute von Vautorte über Ernée nach Süden über Vitrée und den in der Nähe befindlichen Menhir La Pierre Blanche Richtung Westen in den Wald von Rennes und schließlich nach Rennes selber führen wird. Als Endziel einer Reise wäre die Hauptstadt der Bretagne jedenfalls einleuchtender als der kleine Flecken La Pierre Blanche etwas westlich von Rennes.

Wer sich hier auf den Weg macht, ist nicht ersichtlich. Es könnte der üble Franziskanerpapst sein, der sich zunächst entweder in Varennes-sur-Loire oder - vielleicht wahrscheinlicher - dem Château de Varennes-L’Enfant aufhält. Dann würde sich aber die Frage stellen, weshalb er nicht die direktere Route Varennes(-L’Enfant)-Laval-Vitré (mit dem Menhir La Pierre Blanche)-Liffré-Wald von Rennes-Rennes(-La Pierre Blanche) nimmt sondern den Bogen über die nördlicher gelegenen Ortschaften Vautorte und Ernée macht.

Und warum reist man nächtens (!) durch den Wald von Rennes? Will man nicht gesehen werden? Oder eilt es derart, dass man keine Zeit verlieren darf? Möglicherweise ist der Umweg über Vautorte und Ernée der Grund für die Reise in der Nacht. Es könnte z. B. sein, dass dieser Umweg nicht geplant war. Ein Umweg, der aber soviel Zeit in Anspruch nimmt, dass man die verlorene Zeit mit einer nächtlichen Fahrt wieder aufzuholen versucht.

Wie aus 8/53 zu schließen ist, will der üble Franziskanerpapst eine Bußwallfahrt nach Boulogne-sur-Mer (oder Boulogne-Billancourt)  machen. Ob er seinen Willen in die Tat umsetzen kann, d. h. ob er tatsächlich nach Boulogne gelangt, ist dabei nicht zu entscheiden. So oder so, wie kommt das Kirchenoberhaupt dabei aber in das Gebiet östlich von Rennes? Dieser Raum liegt abseits des Weges von Rom nach Boulogne. Und befindet sich der Pontifex zu diesem Zeipunkt noch auf dem Weg nach Norden oder bereits auf der Rückreise?


6/65

[1] Gris1) & bureau2) demie ouuerte guerre,
[2] De nuict seront assaillis & pillez3):
[3] Le bureau prins passera par la4) serre5),
[4] Son temple ouuert, deux au plastre6) grillez7).

[1] [Der] Graue1) und [das] braune Gewand2) [werden im erst] halb eröffneten Krieg
[2] bei Nacht angegriffen und misshandelt3) [werden].
[3] Das ergriffene braune Gewand wird in die4) Gefangenschaft5) gehen.
[4] Sein Tempel [wird] offen [und] zwei [werden] "im Gips"6) eingesperrt7) [sein].

1) Vgl. 10/91, Anmerkung 4.
2) Das mittelfranzösische "bureau" bezeichnet u. a. ein armseliges Gewand aus braunem Wollstoff, das dessen Träger tieferen sozialen Schichten zuordnete. Daneben aber auch eine braune Wolltischdecke bzw. den dazugehörenden Tisch. Im religiösen Bereich könnte das braune Gewand für einen Angehörigen des franziskanischen Ordens der Minderen Brüder (OFM) oder einen Kapuziner (OFMCap) stehen.
3) Neben "plündern, ausrauben" bedeutet das mittelfranzösische "piller" auch "misshandeln".
4) In der 1557er-Ausgabe aus Budapest/Moskau fehlt das "la".
5) Das mittelfranzösische "serre" bedeutet u. a. "Gefängnis, Unterwerfung" aber auch "Säge", vgl. lat. "serra".
6) Unklar. Hier könnte ein Ortsname gemeint sein. Das griech. "gypsos" bzw. das lat. "gypsum" könnte z. B. auf "Gypsaria" (Honaïn an der algerischen Mittelmeerküste, 60 km nordwestlich von Tlemcen) verweisen. In Zentralfrankreich gibt es einen Ort namens Gipcy, 50 km nordwestlich von Vichy. In Italien (it. "gesso" = Gips) finden wir innerhalb des sizilianischen Messina ein Gesso. In Piemont einen Fluss namens Gesso, der durch Cuneo fließt. In Zola Predosa (11 km westlich von Bologna) existiert ein weiteres Gesso. Im Mittelfranzösischen bezeichnet "plastre" aber auch einfach einen Boden ("sol") mit Gipsbelag. Fassen wir das Wort "sol" lateinisch auf, erhalten wir als Übersetzung "Sonne". Von einem "Tempel der Sonne" ist in 8/53/2 die Rede, von der "Sonnenstadt" (wohl Rom) in 1/8/1 und 5/81/1.
7) Neben "rösten, grillen; verbrennen" bedeutet das mittelfranzösische "griller" auch "hinter einem Rost einsperren".
Der üble Franziskanerpapst, der von einem braunen Franziskaner oder Kapuziner begleitet wird, wird bei Nacht angegriffen und misshandelt werden. Vermutlich auf seiner Reise durch den Wald von Rennes (vgl.  9/20). Zutragen wird sich das, wenn der Krieg, den der Papst auslösen wird (vgl. 9/20) schon halb im Gange ist. Der braune Ordensmann wird gefangen werden und seine Kirche wird offenstehen.

In der ersten Zeile ist von einem "Grauen" die Rede, womit wahrscheinlich der uns bereits bekannte üble Franziskanerpapst (OFMConv) gemeint sein dürfte. Doch in derselben Zeile erwähnt Nostradamus auch ein "braunes Gewand". In 10/91/3 ist von einem "Grauen und Schwarzen (= Bösartigen)" die Rede, womit dort aber ein und derselbe Kuttenträger gemeint ist. Da liegt die Vermutung nahe, dass unser Seher in 6/65/1 ebenfalls nur von einer einzigen Person spricht. Doch ein Blick auf die Zeilen zwei bis vier besagter Strophe lässt es meines Erachtens klar werden, dass hier von zwei verschiedenen Ordensleuten die Rede ist (Verwendung des Plurals in 6/65/2, die alleinige Erwähnung des "braunen Gewandes" in Zeile drei und das Auftauchen von zwei Eingesperrten in 6/65/4). Das "braune Gewand" könnte ein brauner Franziskaner (OFM) oder ein Kapuziner (OFMCap) sein. Vielleicht ist es ein brauner Ordensmann, der in der Kirche eine besondere Stellung (etwa als Kardinal) innehat? Oder handelt es sich um eines der beiden Ordensoberhäupter, den Generalminister OFM bzw. den Generalminister OFMCap?

Laut Zeilen eins und zwei werden der graue Papst und der braune Ordensmann angegriffen und misshandelt werden. Doch wann, wo und warum?

In Zeile zwei ist zu lesen, dass die beiden "bei Nacht" attackiert werden. Das erinnert an 9/20/1, wo "man" bei Nacht durch den Wald von Rennes kommen wird. Das würde passen.

In 6/65/1 wird ein "halb eröffneter Krieg" erwähnt. Dies wäre eine Übereinstimmung mit 9/20/4, wo wir erfahren, dass das "gewählte Ornat" (der Papst) "Sturm", "Feuer" und "Schneide (Schwert)" heraufbeschwören wird. Doch was ist mit einem "halb eröffneten" Krieg gemeint? Möglicherweise eine sehr angespannte Krisensituation, in der es schon zu vereinzelten gewaltsamen Übergriffen kommt ohne dass diese bereits Teil etwa eines großangelegten Feldzuges wären. Der Angriff auf den Papst und seinen braunen Begleiter im Wald von Rennes könnte genau so eine Aktion sein.

Noch unklar sind die letzten beiden Zeilen von 6/65. Der braune Ordensmann, der den grauen Papst begleitet, scheint in Gefangenschaft zu gehen. Doch wer sperrt ihn wo ein? "Sein Tempel", d. h. die Kirche des braunen Kuttenträgers, wird "offen" stehen. Wird sie geplündert werden? Und um welche handelt es sich? Franziskaner (OFM)- bzw. Kapuzinerkirchen gäbe es viele.

In Zeile vier erfahren wir, dass zwei Personen "im Gips" eingesperrt werden (vgl. Anmerkungen 6 und 7). Das könnten der graue Franziskanerpapst und sein brauner Begleiter sein. Doch wo ist "im Gips"? In Rom (vgl. Anmerkung 6)? Dann würden sie im Wald von Rennes ergriffen und in die Ewige Stadt überführt - ein weiter Weg. Oder der Überfall nahe Rennes hat nichts mit den Geschehnissen in Rom zu tun, die zu einem anderen Zeitpunkt stattfinden.

In Rom gäbe es eine Franziskanerkirche (OFM), an die Nostradamus beim "offenen Tempel" gedacht haben könnte: Santa Maria in Aracoeli al Campidoglio (1517 geweiht).

CLÉBERT, S. 749f. versteht die letzte Zeile dahingehend, dass die beiden lebendig verbrannt ("grillez") und ihre Überreste dann mit ungelöschtem Kalk ("chaux vive") beseitigt werden.


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(Letzte Änderung dieser Seite: 24.09.2017)