5.42 Die Schlussstrophe der Prophezeiungen: die Legis Cantio
(6/100). Ein Bannspruch aus dem ršmischen Zwšlftafelgesetz, der sich hier gegen
tšrichte Kritiker der Zenturien richtet.
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6/100
6/1001) [0] Legis4)
cantio3) contra ineptos criticos.2) [1] Quos legent hosce versus matur5) censunto6), [2] Profanum7)
vulgus & inscium ne attrectato: [3] Omnesq; Astrologi8) Blenni, Barbari9) procul sunto, [4] Qui aliter facit, is rit, sacer esto.10) [0] Des Gesetzes4) Bannspruch3), gerichtet gegen
tšrichte Kritiker.2) [1] [Die Kritiker,] die diese
Verse hier lesen, sollen [sie] in gereiftem5) Zustand beurteilen6)! [2] Der profane7)
und unwissende Pšbel soll nicht angelockt werden! [3] Und alle Astrologen8),
Tšlpel [und] Barbaren9) sollen sich [von diesen Versen] fernhalten. [4] Wer dem entgegengesetzt
handelt, soll in feierlicher Form verflucht sein.10) 1) Die ursprŸnglich nicht nummerierte Legis Cantio erscheint das erste
Mal in der Utrechter Ausgabe von 1557. Ihre logische Nummer 6/100 trŠgt in
den beiden 1605er-Ausgaben eine všllig neue Strophe, der die "Legis
Cautio" (!) unnummeriert folgt. 2) Die Vorlage fŸr diesen Bannspruch stammt aus dem Werk "Commentarii de Honesta
Disciplina" (1504), verfasst von Petrus CRINITUS (Pietro Del
Riccio Baldi, 1475-1507), einem italienischen Humanisten. Dieses Werk Ÿber
verschiedene Bereiche der antiken Kultur gliedert sich in 25 BŸcher. Das letzte
umfasst zwšlf Kapitel plus eine Ermahnung an die Leser. Und in dieser
Ermahnung findet sich folgender Vierzeiler (vgl. GRUBER, S. 277):
Legis
cautio contra ineptos criticos : Quoi
legent hosce libros mature censunto,
Profanum
volgus et inscium ne attrectato;
Omneisque
legulei, blenni, barbari procul sunto.
Qui aliter
faxit, is rite sacer esto.
Abgesehen von einigen orthografischen Abweichungen unterscheidet sich
NostradamusÕ Bannspruch darin, dass er in der ersten Zeile von
"versus" (Versen) statt von "libros" (BŸchern) und in der
dritten Zeile von "astrologi" (Astrologen) statt von
"legulei" (GesetzeskrŠmern, trockenen Juristen) spricht. 3) In der Vorlage des CRINITUS und den 1568er-Zenturien-Ausgaben von
Dresden, Paris und Gregorio steht an dieser Stelle statt "cantio"
(u. a. Zauberformel) "cautio" (u. a. Vorsichtsma§regel). Es ist
sehr gut mšglich, dass hier lediglich ein Druckfehler vorliegt ("n"
statt "u") und Nostradamus tatsŠchlich "cautio" gemeint
hat. Allerdings passt dieser "Fehler", so er einer ist, recht gut
in den Gesamtzusammenhang der Strophe (siehe Kommentar). 4) Mit diesem "Gesetz" ist wahrscheinlich das altršmische
Zwšlftafelgesetz gemeint, nach dem die vierte Zeile formuliert wurde, vgl.
Anmerkung 10. Das Zwšlftafelgesetz (lex oder leges duodecim tabularum) wurde
um etwa 450 v. Chr. in der Zeit des StŠndekampfes zwischen Plebejern und
Patriziern niedergeschrieben und veršffentlicht. Es war das erste und lange
Zeit das einzige schriftlich niedergelegte Gesetzbuch Roms. Es enthielt einen
gro§en Teil des Privat-, Straf-, und Sakralrechts jener Zeit. 5) Oder auch: "tauglich, ausgebildet". 6) Nostradamus hat hier einen grammatikalischen Fehler des CRINITUS
kopiert: Es sollte "censento" statt "censunto" hei§en
(vgl. GRUBER, S. 277). 7) Auch im Sinne von "nicht eingeweiht, ruchlos, gottlos". 8) "Astrologus" bezeichnet im Lateinischen sowohl Astrologen
im heutigen Sinne wie auch Astronomen. Da Nostradamus in seinem Werk aber
gelegentlich selber astronomische Konstellationen zur Zeitangabe verwendet,
dŸrfte er hier vielmehr die Astrologen gemŠ§ heutigem Sprachgebrauch meinen,
die in den Gestirnen u. a. auch die Zukunft vorhersehen wollen. 9) Nach antikem VerstŠndnis ist ein "Barbar" ein Nichtgrieche
bzw. Nichtršmer. CRINITUS dŸrfte hier wohl an jene gedacht haben, die
sprachlich und kulturell keinen Zugang zur abendlŠndischen Antike besitzen.
Bei Nostradamus kommt dem Begriff des "Barbaren" aber noch ein
weiterer Aspekt hinzu. NŠmlich der des Orientalen, besonders wenn es sich um
einen Nichtchristen (namentlich Muslimen) handelt. Dabei schwingt sicher auch
ein abwertender Gedanke mit, vgl. CLƒBERT, S. 784. Doch hinter der Wortwahl
unseres Sehers stehen wohl auch rein sprachliche GrŸnde, etwa die Anspielung
auf die Barbareskenstaaten, die vom 16. bis zum 19. Jahrhundert zwischen
Marokko und €gypten existierten. Oder das Anagramm
"barbare"-"arabe" (Barbar-Araber), das allerdings etwa
auch Muslime anderer Ethnien umfassen dŸrfte. In den Zenturien tauchen
"Barbaren" etliche Male auf. Die orientalische Spur scheint mir
dabei v. a. in folgenden Strophen sichtbar zu sein: 5/13 (5.47), 5/78 (5.23),
5/80 (5.187), 6/21 (5.16) und 9/60 (5.8). 10) In dieser Zeile spielen Nostradamus bzw. CRINITUS wahrscheinlich auf
das ršmische Zwšlftafelgesetz an, genauer auf das 21. Gesetz der achten
Tafel. Es lautet: "Patronus si clienti fraudem fecerit, sacer esto." (Ein
Patron soll, falls er einem Klienten Schaden zufŸgt, verflucht sein.) Ein
Patron war in der ršmischen Gesellschaft der einflussreiche Schutzherr seiner
Klienten, ein Klient ein kleiner Gefolgsmann des Patrons. Die in diesem
Gesetz angedrohte Strafe ist nun anders als bei anderen Gesetzen der Duodecim
Tabularum eindeutig religišser Natur; es wird ein Bannfluch angedroht.
Nostradamus bzw. CRINITUS verdeutlichen diesen Aspekt noch durch die
EinfŸgung von "is rite" (feierlich; religišs und gesetzlich
gŸltig). Die erwŠhnte Stelle des Zwšlftafelgesetzes finden wir im
Aeneiskommentar des Maurus SERVIUS HONORATUS (6,609) zitiert. |
Ein Bannspruch aus dem ršmischen Zwšlftafelgesetz, der sich hier gegen
tšrichte Kritiker richtet. Die Legis Cantio (6/100) ist ein Spezialfall innerhalb der Zenturien.
Sie ist die einzige lateinische Strophe, sie ist ursprŸnglich nicht
nummeriert, besitzt dafŸr aber einen eigenen Titel. Die Legis Cantio hat
Nostradamus fast wortwšrtlich aus einem Werk des italienischen Gelehrten
Petrus CRINITUS entnommen, siehe Anmerkung 2. Das besagte Werk ("Commentarii de
Honesta Disciplina"), das sich mit verschiedenen Aspekten und
Bereichen der antiken Kultur befasst, umfasst 25 BŸcher. Das letzte Buch
besteht dabei aus zwšlf Kapiteln plus einer Ermahnung an die Leserschaft. In
dieser Ermahnung findet sich auch die Vorlage der Legis Cantio des
Nostradamus. Dieses vierzeilige Gedicht ist ein Verbot, das es
unqualifizierten Lesern untersagt, sich mit dem Werk zu befassen. Bei der
Formulierung hat sich CRINITUS wohl an das altršmische Zwšlftafelgesetz
angelehnt, vgl. Anmerkungen 4 und 10. Und zwar konkret an ein Gesetz, das dem
Zuwiderhandelnden eine Verfluchung religišser Natur androht. Dies wohl auch
aus dem praktischen Grund, weil es CRINITUS unmšglich gewesen wŠre, etwa eine
Geldstrafe zu verhŠngen bzw. diese bei einem Versto§ auch einzutreiben. Das
besagte altršmische Gesetz (Nr. 21 aus der achten Tafel) lautet: "Ein
Patron soll, falls er einem Klienten Schaden zufŸgt, verflucht sein."
Ersetzen wir nun "Patron" durch "(unqualifizierten)
Leser" und den Klienten durch das Werk des CRINITUS, erfahren wir zudem
den Sinn dieses Verbotes. Das Werk soll davor geschŸtzt werden, dass ihm
Schaden zugefŸgt wird. Schaden, der z. B. dadurch entsteht, dass
unqualifizierte Leser Inhalte falsch verstehen, ihre "Erkenntnisse"
verbreiten und damit das Werk in Verruf bringen. NostradamusÕ Legis Cantio unterscheidet sich in drei Punkten von der
Vorlage des CRINITUS. Erstens ist die Strophe als "Legis cantio
[...]" betitelt und nicht als "Legis cautio [...]" wie bei der
Vorlage, zweitens spricht Nostradamus in der ersten Zeile von
"Versen" und nicht von "BŸchern" und drittens wendet er
sich in Zeile drei gegen Astrologen und nicht gegen GesetzeskrŠmer wie noch
CRINITUS. Bei der Variante "cantio" (u. a. Zauberformel) statt
"cautio" (u. a. Vorsichtsma§regel) kann es sich gut und gern um
einen simplen Druckfehler handeln. Interessanterweise macht dieser
"Fehler" aber durchaus Sinn. Schlie§lich handelt es sich bei der
angedrohten Strafe ja um eine Verfluchung bzw. einen Bannspruch aus dem
Arsenal der heidnischen ršmischen Religion. Aus diesem Grund soll hier bis
auf Weiteres "cantio" der Vorzug gegeben werden. Dass Nostradamus in der ersten Zeile von Versen und nicht von BŸchern
spricht, macht Sinn. Sein Werk gliedert sich in Zenturien und Vierzeiler und
nicht in BŸcher wie bei CRINITUS. In der ersten Zeile teilt uns unser Seher
weiter mit, dass zur Beurteilung seiner Strophen eine gewisse Reife bzw.
Ausbildung unabdingbar ist. In der zweiten Zeile mšchte Nostradamus, dass sich der
"profane", d. h. sowohl ungebildete wie gottlose "Pšbel"
von seinen Prophezeiungen fernhŠlt. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass zum
VerstŠndnis seines Werkes neben einer entsprechenden Ausbildung auch ein
entsprechender Zugang zur Religion, zum Christentum erforderlich ist. In Zeile drei will unser Seher alle "Astrologen",
"Tšlpel" und "Barbaren" von seinen Vorhersagen
fernhalten. Die "Tšlpel" sind wohl Leute, denen es an Geschick oder
"Esprit" im Umgang mit seinen Texten mangelt, obwohl sie vielleicht
sogar klassisch gebildet und mit einem christlichen Hintergrund ausgestattet
sind. Interessanter ist aber wohl der Ausschluss der "Astrologen"
und "Barbaren" aus dem Kreis jener, die sich mit diesen
Weissagungen befassen sollen. Nostradamus hat selber auch als Astrologe gewirkt, doch in seinem
Bannspruch nennt er die Sternendeuter in einem Atemzug mit
"Tšlpeln" und "Barbaren". Der scharfe Tonfall in dieser
Zeile ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Zenturien gerade aus dem
Bereich der Astrologie teilweise recht harter Kritik ausgesetzt waren. Doch
es steckt hier wohl mehr dahinter. Aus NostradamusÕ AusfŸhrungen, v. a. im
Vorwort an seinen Sohn CŠsar und den beiden ersten Vierzeilern, geht klar
hervor, dass seine Vorhersagen nicht in erster Linie auf der Kunst der
Astrologie beruhen. Vielmehr hat unser Seher anscheinend eine
Weissagungstechnik angewandt, bei der er sich in Trance versetzte und so
Botschaften gšttlichen Ursprungs empfangen konnte. Erst spŠter hat
Nostradamus dann die Visionen mit astrologisch-astronomischen Berechnungen in
Einklang gebracht, etwa um Hinweise auf den Zeitpunkt ihres Eintreffens zu
geben. Da nun aber die Prophezeiungen nur zu einem Teil direkt mit der
Sternenkunde zu tun haben, laufen Astrologen zwangslŠufig Gefahr, zu
FehlschlŸssen zu gelangen, wenn sie sie nur aus ihrem Blickwinkel betrachten. Zum Ausschluss der "Barbaren" gilt es festzuhalten, dass
damit bei Nostradamus auch Orientalen nichtchristlicher (namentlich
muslimischer) Herkunft gemeint sein dŸrften, vgl. Anmerkung 9. Zu beachten
ist in diesem Zusammenhang Strophe 5/53 (5.239). Ihr ist wohl zu entnehmen,
dass sich einst sowohl das Christentum wie auch der Islam auf die
Prophezeiungen des Nostradamus beziehen werden, allerdings in beiden FŠllen
ohne sie - wenigstens zunŠchst - richtig zu verstehen. Doch warum werden in
6/100 nur gerade die "Barbaren" und nicht etwa auch die Kirche oder
die Christen explizit genannt? Das kšnnte damit zusammenhŠngen, dass gerade
die Muslime mit den vorliegenden Weissagungen enorme Probleme haben werden.
Ihnen prophezeit Nostradamus nŠmlich nicht nur etwa eine entscheidende
Niederlage im Kampf um das Abendland (vgl. das "CHYREN"-Thema in
5.23) sondern sogar den Zerfall ihrer Religion, siehe 3/95 (5.60). Es ist
menschlich sehr verstŠndlich, dass AnhŠnger von Muhammads Glauben Vorhersagen
derartigen Inhalts nicht einfach werden akzeptieren kšnnen. Als
"Lšsungen" fŸr dieses Problem bieten sich nun verschiedene
Strategien an. Erstens: man verwirft die Prophezeiungen des Nostradamus in
Bausch und Bogen als Scharlatanerie. Zweitens: man akzeptiert diese Voraussagen
einfach nur soweit, wie sie den eigenen Vorstellungen entsprechen und
deklariert den ungenehmen Rest als "FŠlschung" (Šhnlich wie viele
Muslime sogar die Bibel als ein von Juden und Christen
"verfŠlschtes" Wort Gottes betrachten). Oder drittens: man "Ÿbersetzt"
und interpretiert die Weissagungen so lange um, bis das Ergebnis zu den
eigenen Vorstellungen passt - auch wenn dabei Fisch zu Vogel oder wei§ zu
schwarz werden muss. Diese dritte Mšglichkeit ist aber wohl jene, die den
Zenturien am meisten Schaden zufŸgen kann. Und um diesen Schaden abzuwenden,
mšchte unser Seher wohl die "Barbaren" von seinen Texten
fernhalten. Was ihm, wie aus 5/53 (5.239) zu schlie§en ist, allerdings nicht
gelingen wird. Die Legis Cantio dŸrfte aufgrund ihres speziellen Inhalts auch an
einem besonderen Platz innerhalb der Zenturien stehen. Sollte Nostradamus,
wie schon an anderer Stelle vermutet, ursprŸnglich zwšlf Zenturien zu je
hundert Vierzeilern geplant haben, befŠnde sie sich schon jetzt an einer
besonderen Stelle. Sie wŠre zur Zeit die sechshundertste der angenommenen
zwšlfhundert Strophen, stŸnde also genau in der Mitte des Werkes. Doch wo
gehšrt sie wirklich hin? Sinnvoll wŠre es, sie als Warnung bzw.
"TorwŠchterin" ganz an den Anfang der Prophezeiungen zu setzen. Betrachten
wir allerdings die Vorlage des CRINITUS, werden wir auf das Ende verwiesen.
Wie schon erwŠhnt, steht diese Strophe dort am Schluss des Werkes, im 25. und
letzten Buch, nach den darin vorhandenen zwšlf Kapiteln. Ich vermute deshalb,
dass bei NostradamusÕ Zenturien diese Warnung ebenfalls an das Ende des
Werkes gehšrt. |
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