5.43  Der Anfang der Prophezeiungen
 

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Zusammenfassung
 

Die beiden Einleitungsverse 1/1 und 1/2 sprechen davon, wie Nostradamus zu seinen Informationen über die Zukunft gekommen ist. Er hat antike Weissagungstechniken angewendet, um überirdische Informationsquellen anzapfen zu können. Schon im Vorwort an seinen Sohn Cäsar hat er davon gesprochen, dass er das Wissen aus jahrhundertealten Büchern für diesen Zweck verwendet hat. Bücher, die er nach Abschluss seiner Arbeit jedoch verbrannt hat, weil er u.a. befürchtete, dieses Wissen könnte in falsche Hände gelangen. Aus diesem Grund findet sich in den Zenturien selbstverständlich auch keine "Gebrauchsanweisung", mit deren Hilfe der Leser selber einen Blick in die Zukunft werfen könnte. So sind denn die Verse 1/1 und 1/2 auch keine genauen Beschreibungen davon, wie Nostradamus vorgegangen ist. Sie bleiben vage und vermischen verschiedene Sehertraditionen. Zudem hat Nostradamus, wie man heute weiß, diese Vierzeiler unter Verwendung der vorhandenen Literatur verfasst (GRUBER, S. 74-76), gehören also in den Bereich der literarischen Tradition. Konkret dienten die "Commentarii de honesta disciplina" des italienischen Humanisten Petrus Crinitus (Buch 20) als Vorlage, die wir schon im Zusammenhang mit der Legis Cantio kennen gelernt haben (siehe 5.42). In 1/1 beschreibt sich Nostradamus als Nachfolger der Pythia aus dem Orakel von Delphi, in 1/2 bezieht er sich auf das Orakel von Didyma bei Milet in der heutigen Westtürkei. Die Bezüge zu diesen beiden griechischen Orakeln streichen zum einen die humanistische Bildung des Nostradamus heraus. Andererseits dient diese Vermischung allgemein bekannter Motive dem Verwischen von Spuren, die vielleicht Rückschlüsse auf die tatsächlich angewandten Praktiken zulassen könnten. Ob in den beiden Vierzeilern tatsächlich einige Elemente von Nostradamus’ Weissagungspraktiken beschrieben sind, ob er etwa eine Rute in der Hand hatte oder auf einem bronzenen Sitz in einem Bottich gesessen hat, wissen wir nicht.

Beiden Orakelstätten gemeinsam war, dass die Seherinnen ihre Informationen von Apollo bekamen. Apollo war der Sohn von Göttervater Zeus und der Titanin Leto sowie Zwillingsbruder der Artemis. Er war der Gott des Lichts, der Musik, der Heilkunst, der Weissagung und der Wahrheit. Als solcher konnte Apollo nicht lügen. Nostradamus dürfte mit seinem Rückgriff auf die Apollo-Orakel u.a. ausdrücken, dass seine Prophezeiungen der Wahrheit entsprechen und eintreffen werden, was er in 1/1 ja auch in klaren Worten beteuert.

In 1/2 wird die reale Anwesenheit eines Weissagungsgeistes beschrieben: eine Stimme ertönt und ein "göttliches Wesen" erscheint. Mit "göttlich" meint Nostradamus wahrscheinlich, dass die Alten ein solches Wesen als Gottheit betrachtet hätten bzw. haben. Nostradamus schreibt jedenfalls nichts von einem Engel oder gar vom dreieinigen Gott. Und dennoch hat er im Vorwort für Cäsar festgehalten, dass letzlich alles von Gott komme. Ist Vers 1/2 lediglich eine literarische Konvention ohne Anspruch auf Wahrheitsgehalt? Falls nein, wie erklärt sich dann dieser Widerspruch? Es wäre denkbar, dass Nostradamus jenes Geistwesen beschworen hat, dass in der Antike als Apollo verehrt wurde. Und da es gemäß antiker Tradition nicht lügen kann, dient es nolens volens der Wahrheit und somit Gott. In der Apostelgeschichte des neuen Testaments gibt es in diesem Zusammenhang eine interessante Episode. In Kapitel 16, Verse 16-18 wird berichtet, wie der Apostel Paulus und seine Begleiter in Philippi auf eine Magd trafen, die von einem Wahrsagegeist besessen war und als dessen unfreiwilliges Medium ihrer Herrschaft viel Geld einbrachte. Als ihr Paulus und seine Begleiter begegneten, lief sie ihnen nach und schrie: "Diese Menschen sind Diener des höchsten Gottes; sie verkünden euch den Weg des Heils!" Das tat sie viele Tage lang, bis Paulus ärgerlich wurde und ihr den Wahrsagegeist mit den Worten "Ich befehle dir im Namen Jesu Christi: Verlass diese Frau!" austrieb. Aus dieser kleinen Begebenheit lernen wir erstens, dass es offenbar wahrsagende Geistwesen gibt, die die Wahrheit erkennen und diese auch verkünden. Zweitens ist interessant, dass Paulus der besessenen Magd diesen Geist erst ausgetrieben hat, nachdem sie ihm viele Tage gefolgt war. Man könnte das so interpretieren, dass es Paulus eine Zeit lang durchaus recht war, für seine Mission eine "Bestätigung aus unabhängiger Quelle" bei sich zu haben. Und so beließ er diesen Geist vielleicht in der Frau, weil sie seiner Sache und somit Gott dienlich war. Und wenn wir den Grund betrachten, weshalb er der Magd schließlich doch noch den Wahrsagegeist ausgetrieben hat, so finden wir nur einen Apostel, der wegen des Geschreis der Frau mit den Nerven am Ende war. Er hat ihr jedenfalls nicht den Geist ausgetrieben, um sie von der Macht dieses doch üblen Wesens zu befreien; in diesem Fall hätte Paulus wohl kaum viele Tage damit gewartet. Wenn wir also annehmen, dass sogar ein Wesen Gott dienlich sein kann, das einem Menschen (der Magd) seine Freiheit raubt, warum nicht auch "Apollo", der nicht einmal von Nostradamus Besitz ergriffen hat sondern von diesem erst gerufen werden musste? Vielleicht ist zudem der von Nostradamus beschworene Geist weder gut noch böse sondern bloß ein Vermittler von Informationen, die in einer "jenseitigen Datenbank" gespeichert sind, die mit entsprechenden Kenntnissen von jedermann angezapft werden könnte? Einer "Datenbank", die möglicherweise zu Gottes Schöpfung gehört wie die Elektrizität, die Schwerkraft oder die DNS?

In 1/15 scheint Nostradamus eine Kurzzusammenfassung seiner Prophezeiungen zu liefern. Sie betreffen Kirche und Welt. Im weltlichen Bereich zählt Nostradamus 70 Kriege, die allein Frankreich ("uns") heimsuchen werden. Was die Kirche angeht, so sieht er gute und schlechte Zeiten für den Klerus voraus, was an sich keine außergewöhnlich originelle Vorhersage wäre. Allerdings werden laut Nostradamus die Feinde der Kirche stärkere Machtschwankungen hinnehmen müssen als die Kirche selber. Somit scheint das Boot Petri alles in allem sicherer unterwegs zu sein als seine Feinde, die schutzlos den sturmgepeitschten Gewässern der Geschichte ausgeliefert sind. An dieser Stelle sollten wir uns die Prophezeiung Jesu über die Kirche Petri in Erinnerung rufen, in der er vorhersagt bzw. verspricht,  dass die Mächte der Unterwelt sie nicht überwältigen werden (Matthäus 16, 18).
 

1/1
 
ESTANT assis de nuit secret estude, [Ich] sitze [in] der Nacht [bei] geheimer Beschäftigung.
Seul repousé sus la selle d’ærain, [Ich bin] allein [und habe] auf dem Sitz aus Bronze Platz genommen.
Flambe exigue sortant de solitude, [Eine] kleine Flamme steigt aus der Einsamkeit empor
Fait proferer qui n’est à croire vain. [und] lässt [das] zum Vorschein kommen, [an] das zu glauben nicht vergeblich ist.

1/2
 
Laverge en maî mise au milieu de BRANCHES1) [Ich habe] die Rute in der Hand, [die] im Reich des Branchus1) verwendet [wird].
De l’onde il moulle & le limbe & le pied.2) Mit der Welle benetzt er sowohl den Saum [meines Gewandes] als auch [meinen] Fuß.2)
Vn peur3) & voix fremissent par les manches4), Dampf3) und [eine] tönende Stimme zwischen den Ärmeln4).
Splendeur diuine. Le diuine prés s’assied. Göttlicher Glanz. Das Göttliche lässt sich nahe [bei mir] nieder.
1) Branchus von Milet erhielt der Sage nach von Apollo die Gabe der Prophetie geschenkt. Die Seherinnen dieses Kultes benutzen für ihre Künste einen Stab, wie Nostradamus anscheinend auch.
2) Die schon erwähnten Seherinnen der Branchusschule empfingen die Gottheit dadurch, dass sie zuvor neben anderen Vorbereitungen auch ihre Füße nässten.
3) Hier könnte ein Druckfehler vorliegen und "Vapeur" (Dampf) gemeint sein (GRUBER, S. 75); denn bei Crinitus heißt es im 20. Buch, Kapitel 1: "... vel ignis vaporem ex undis haurit, ...".
4) Unklare Zeile. Vielleicht beschreibt sich Nostradamus wie er mit ausgestreckten Armen steht oder sitzt und vor ihm ("zwischen seinen Ärmeln") Dampf aufsteigt und die Stimme des beschworenen Geistes ertönt.
 

1/15
 
Mars nous menasse par sa force bellique Mars bedroht uns mit seiner kriegerischen Gewalt.
Septante foys fera le sang espandre: Siebzig Mal wird [er] das Blut vergießen lassen.
Auge1) & ruyne de l’Ecclesiastique [Während dieser Zeit erlebt] der Klerus Aufstieg1) und Niedergang
Et plus ceux qui d’eux2) riêvoudrõt entendre. und noch mehr jene, die von ihnen2) nichts wissen wollen werden.
1) Lat. "augere" (wachsen, vermehren usw.).
2) Hier sind die Kleriker gemeint.
 
 

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