5.48 Die Apokalypse des Nostradamus.
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2/75
La voix1) ouye de l’insolit2) oyseau3),
Sur4) le canon5) du respiral estaige6),
Si haut viendra9) du froment8) le boisseau7),
Que l’hõme d’hõme sera Anthropophage.10)
1) "Voix" bedeutet daneben auch "Lärm; Ruf, Renommee" u. a.
Die Stimme1) des ungewöhnlichen2) Vogels3) [wird] gehört [werden],
über4) dem Bereich5) der unteren Luftschicht6).
So hoch wird [der Preis für] den Scheffel7) Weizen8) sein9),
dass der Mensch dem Menschen [ein] Menschenfresser sein wird.10)
2) Oder auch: "fremd, fremdartig".
3) Mit Blick auf das lat. "avis" könnte auch "Vorzeichen, Wahrzeichen" gemeint sein. In der Widmung an König Heinrich II. gibt es eine entsprechende Stelle, die zur biblischen Apokalypse gehört, genauer in die Zeit vor Satans letztem Aufstand: "& auant iceux aduenemens, aucuns oyseaux insolites crieront par l’air 'Huy, huy', & seront apres quelque temps esuanouys" (Und vor diesen Ereignissen werden einige ungewöhnliche Vögel in der Luft "heute, heute" schreien und nach einiger Zeit verschwunden sein). Konsultieren wir die Bibel, stellen wir fest, dass dieser Vierzeiler zeitlich sogar noch früher eingeordnet werden muss. Er dürfte zur Einleitung der gesamten Apokalypse gehören, vgl. Kommentar rechts.
4) Oder auch: "bei".
5) Griech. "kanon" (u. a. abgemessenes Gebiet, Bezirk).
6) Lat. "respirare" (u. a. zurückwehen, entgegenblasen) und mittelfranz. "estaige" (Wohnung, Wohnstätte; Stockwerk). Mit dem "wehenden Stockwerk" ist wohl die "Aer" gemeint, die untere Luftschicht, in der es auch die wehende ("respiral") Luft, den Wind gibt. Über der "Aer" befand sich nach antiker Vorstellung der "Aither" (Äther), die obere Luftschicht, der Himmel und, da der Olymp in den Äther ragte, auch der Wohnsitz der Götter. "Canon du respiral etaige" wurde auch schon als Kamin ("Lüftungsrohr") gedeutet, vgl. BRIND’AMOUR, S. 300 und CLÉBERT, S. 309. Inhaltlich macht das allerdings keinen großen Unterschied, es geht immer um die gleiche untere Luftschicht.
7) Der Boisseau ist altes französisches Hohlmaß und entspricht etwa 12,7 Litern.
8) Oder auch: "Getreide".
9) Oder: "So hoch wird der Scheffel Weizel [zu stehen] kommen".
10) Vgl. lat. "Lupus est homo homini […]" (Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf […] - in: PLAUTUS, Asinaria 495.) Die bekannte Wendung "homo homini lupus" stammt von Erasmus von Rotterdam (1500), wurde aber erst später durch Thomas Hobbes’ Werk Leviathan (1651) berühmt.
Das dritte Siegel der Apokalypse: Der dritte apokalyptische Reiter bringt eine massive Verteuerung des Getreides und eine schreckliche Hungersnot.
In den ersten beiden Zeilen erfahren wir, dass ein offensichtlich ungewöhnlicher "Vogel" sich über der "unteren Luftschicht", also in himmlischen Sphären befindet und seine Stimme erklingen lässt (vgl. Anmerkung 6). Das ist eine Parallele zu einer Stelle in der Widmung an König Heinrich II., was den Vierzeiler der biblischen Apokalypse zuordnet, vgl. Anmerkung 3.
Wie wir in der Widmung an Heinrich II. erfahren, wird der in 2/75 erwähnte "Vogel" einer von mehreren sein. Diese "Vögel" wiederum dürften mit den vier geflügelten Lebewesen identisch sein, die wir in der einleitenden Himmelsvision der Offenbarung des Johannes finden:
"[…] Und ich sah: Ein Thron stand im Himmel; […]. Und in der Mitte, rings um den Thron, waren vier Lebewesen voller Augen, vorn und hinten. Das erste Lebewesen glich einem Löwen, das zweite einem Stier, das dritte sah aus wie ein Mensch, das vierte glich einem fliegenden Adler. Und jedes der vier Lebewesen hatte sechs Flügel, außen und innen voller Augen. Sie ruhen nicht, bei Tag und Nacht, und rufen: Heilig, heilig, heilig ist der Herr, der Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung; er war, und er ist, und er kommt. […]" (Offb 4,1-11).
Bei Johannes folgt dann die Öffnung des Buches mit den sieben Siegeln durch das Lamm, d. h. Christus (Offb 6). Beim Öffnen der ersten vier Siegel ruft jedes der vier Lebewesen je einen der vier apokalyptischen Reiter herbei. Diese bringen der Welt die messianischen Wehen der nun angebrochenen Endzeit: "[...] Und ihnen wurde die Macht gegeben über ein Viertel der Erde, Macht, zu töten durch Schwert, Hunger und Tod und durch die Tiere der Erde" (Offb 6,8).
In den letzten beiden Zeilen von 2/75 ist von einer massiven Verteuerung des Weizens und einer damit einhergehenden gewaltigen Hungersnot die Rede. Einer Hungersnot, die so schlimm sein wird, dass sie die Menschen sogar zum Kannibalismus treibt. Nostradamus schildert hier das Brechen des dritten Siegels:
"Als das Lamm das dritte Siegel öffnete, hörte ich das dritte Lebewesen rufen: Komm! Da sah ich ein schwarzes Pferd; und der, der auf ihm saß, hielt in der Hand eine Waage. Inmitten der vier Lebewesen hörte ich etwas wie eine Stimme sagen: Ein Maß Weizen für einen Denar und drei Maß Gerste für einen Denar. Aber dem Öl und dem Wein füge keinen Schaden zu!" (Offb 6,5f.).
Ein Arbeiter verdiente zu neutestamentarischen Zeiten etwa einen Denar am Tag (vgl. Matthäus 20,2). Damit konnte er sich normalerweise einen Scheffel Weizen und mindestens zwei Scheffel Gerste kaufen (Quelle: ZÜRCHER BIBEL, Anhang, Nr. 104). Je nach Angabe entsprach der Scheffel damals etwa 8 bis 11 Maß, wobei das Maß etwa 1,1 Liter beinhaltete. Also galt:
1 Denar ≈ 8 bis 11 Maß Weizen oder mindestens 16 bis 22 Maß Gerste.
Gemäß Offb 6,5f. werden aber die Preise für Weizen und Gerste einmal so stark steigen, dass Folgendes gelten wird:
1 Denar = 1 Maß Weizen oder 3 Maß Gerste.
Die Preise der beiden Getreidesorten werden also förmlich explodieren. Beim Weizen etwa um das Acht- bis Elffache, bei der Gerste um mehr als das Fünf- bis Siebenfache.
Interessanter als die wohl nie zu eruierenden genauen Preis- und Mengenverhältnisse ist der Hinweis, dass der dritte apokalyptische Reiter dem Öl und dem Wein keinen Schaden zufügen soll. Das könnte z. B. so verstanden werden, dass das Getreide - wenigstens der Weizen und die Gerste - von artspezifischen Krankheiten oder Schädlingen heimgesucht werden wird.
Man darf sich nun fragen, ob Nostradamus auch die anderen drei Siegel mit einem eigenen Vierzeiler bedacht oder ob er das dritte stellvertretend für alle vier ausgewählt hat.
1/84
Lune obscurcie aux profondes tenebres,
Son frere1) passe de couleur ferrugine2):
Le grand caché long temps sous les latebres3),
Tiedera5) fer4) dans la plaie sanguine.
1) "Bruder" kann im Mittelfranzösischen wie im Lateinischen u. a. auch "Bundesgenosse", "Bündnispartner", "Freund" bedeuten.
[Der] Mond [ist] in den tiefsten Finsternissen verdunkelt,
sein Bruder1) verlässt die dunkle2) Farbe.
Der Große [wird] lange Zeit unter den Schlupfwinkeln3) versteckt [sein],
[und dann ein] Eisen4) in der blutigen Wunde wärmen5).
2) Lat. "ferrugin(e)us" (rostfarbig; dunkelfarbig, schwärzlich).
3) Lat. "Latebra" (Verborgenheit, Versteck, Schlupfwinkel). In der Lyoner Ausgabe von 1555 wird "latebres" verwendet, in späteren aber "tenebres" (Finsternisse).
4) Im Mittelfranzösischen bedeutet "fer" (Eisen) u. a. auch "(eiserne) Waffe".
5) D. h. das Eisen steckt dann in der Wunde und wird so von Fleisch und Blut gewärmt. Möglicherweise sollte es hier aber auch "tiendra" (halten) heißen.
Das erste und das zweite Tier der Apokalypse halten sich zunächst lange Zeit verborgen. Dann erscheint das erste Tier, das von einer Waffe verwundet werden wird.
In den ersten beiden Zeilen geht es um zwei Akteure, die sich beide zunächst in der tiefsten Dunkelheit, d. h. wohl sich im Verborgenen aufhalten. Es scheint sich um zwei Geschwister (bzw. Verwandte) oder Bündnispartner zu handeln. Der eine ist der "Mond" (im Französischen und Lateinischen weiblich). Der andere könnte mit Blick auf die antike Mythologie die Sonne sein (im Französischen und Lateinischen männlich), vgl. das Geschwisterpaar Diana - Apollo. Gemäß Zeile drei wird der grammatikalisch Männliche der Beiden ein Eisen (eine eiserne Waffe) in eine blutige Wunde stecken oder in einer blutigen Wunde stecken haben, vgl. Anmerkung 5.
Das passt allerdings nicht recht zur antiken Mythologie. Ein anderer Ansatz scheint mir hier deswegen vielversprechender zu sein. Blicken wir nämlich auf die biblische Apokalypse, macht dieser seltsame Vierzeiler Sinn.
Zunächst zum Mond: In der christlichen Tradition gibt es das bekannte Bild der Muttergottes, die auf der Mondsichel steht. Diese Darstellung geht auf eine Stelle in der Offenbarung des Johannes zurück. Dort lesen wir: "Dann erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt" (Offb 12,1). Weiter wird eine bekannte Passage aus der Genesis seit jeher mit der Muttergottes in Verbindung gebracht, die als erklärte Feindin Satans gilt: "Da sprach Gott, der Herr, zur Schlange: [...] Feindschaft setze ich zwischen dich und die Frau, zwischen deinen Nachwuchs und ihren Nachwuchs. Er trifft dich am Kopf und du triffst ihn an der Ferse" (Gen 3,14f.), wobei die "Schlange" Satan meint und die "Frau" als Verweis auf Maria interpretiert wird. Wenn wir die beiden Stellen verbinden, lässt sich das Bild aus der Apokalypse dahingehend deuten, dass der Mond für Satan oder dessen "Nachwuchs" steht, der von der glorreichen Muttergottes und Himmelskönigin Maria (die mit zwölf Sternen gekrönte Frau) besiegt, d. h. "unter die Füße" gebracht wird. Maria gehört dabei als Mensch und Frau zum Nachwuchs der Eva.
Gemäß Zeilen eins und zwei von 1/84 soll sich der "Mond" zusammen mit seinem "Bruder" zunächst in den tiefsten Finsternissen befinden, bevor Letzterer die Dunkelheit verlässt und ans Tageslicht tritt. Da Satan und seine Dämonen vom Himmel in die Tiefen der Hölle gestürzt worden sind, ist es stimmig, dass der satanische "Mond" und dessen Bruder sich zunächst in den "tiefsten Finsternissen" befinden. Doch wer ist nun dieses Geschwisterpaar genau?
Der Offenbarung des Johannes gemäß werden zwei "Tiere" auf die Erdoberfläche steigen. Über das erste lesen wir:
"Und ich sah: Ein [erstes] Tier stieg aus dem Meer, mit zehn Hörnern und sieben Köpfen. [...] Und der Drache [Satan] hatte ihm seine Gewalt übergeben, seinen Thron und seine große Macht. Einer seiner Köpfe sah aus wie tödlich verwundet; aber die tödliche Wunde wurde geheilt. Und die ganze Erde sah dem Tier staunend nach. Die Menschen warfen sich vor dem Drachen nieder, weil er seine Macht dem Tier gegeben hatte; und sie beteten das Tier an und sagten: Wer ist dem Tier gleich und wer kann den Kampf mit ihm aufnehmen?" (Offb 13,1-4).
Das erste apokalyptische Tier ist mit dem "Bruder" des "Mondes" aus 1/84 identisch! Der "Bruder", der ein Eisen in der Wunde stecken hat. Das Eisen (die eiserne Waffe), die die tödliche Wunde verursacht, finden wir später bei Offb 13,14 (siehe unten). Doch wer ist der "Mond"?
Johannes spricht von einem zweiten Tier:
"Und ich sah: Ein anderes [zweites] Tier stieg aus der Erde herauf. Es hatte zwei Hörner wie ein Lamm, aber es redete wie ein Drache. Die ganze Macht des ersten Tieres übte es vor dessen Augen aus. Es brachte die Erde und ihre Bewohner dazu, das erste Tier anzubeten, dessen tödliche Wunde geheilt war" (Offb. 13,11f.)
und:
"Es verwirrte die Bewohner der Erde durch die Wunderzeichen, die es im Auftrag des [ersten] Tieres tat; es befahl den Bewohnern der Erde, ein Standbild zu errichten zu Ehren des [ersten] Tieres, das mit dem Schwert erschlagen worden war und doch wieder zum Leben kam" (Offb 13,14).
Wir können also zusammenfassen, dass Satan seine gesamte Macht zunächst dem ersten Tier (dem "Bruder" aus 1/84) übergeben wird. Das erste Tier wird diese erhaltene Macht dann auf das zweite Tier übertragen. Dabei scheint das zweite dann im Auftrag des ersten zu agieren. Zwischen Satan und den beiden apokalyptischen Tieren muss also eine große Nähe, ein großes Vertrauen herrschen. Ein Verhältnis, das an eine Familie erinnert. Der "Mond" und sein "Bruder" könnten also der "Nachwuchs" der Schlange sein (siehe oben). Der "Mond" dürfte dabei dem zweiten Tier der Apokalypse entsprechen. Dass der "Mond" mit Satan selber identisch ist, scheint mir unwahrscheinlich zu sein. Gemäß Johannes redet das zweite Tier wie ein Drache, ist aber nicht mit dem Drachen (Satan) gleichzusetzen. Dagegen spricht aber v. a. 1/56, wo der mächtige "Mond" selber von einem Engel (Satan) geführt wird.
Doch ist es möglich, dass Satan tatsächlich Nachkommen, Kinder hat? Satan ist seiner Natur nach ein gefallener Engel. Gemäß Genesis 6,1f. u. 4 sollen die "Gottessöhne" (hier wohl Engel) einst mit Menschenfrauen Kinder gezeugt haben. Diese riesenhaften Mischwesen (Nephilim) wurden aber in der Sintflut vernichtet. Satan könnte also vielleicht zwei dieser Nephilim geretten haben, möglicherweise weil sie seine eigenen Nachkommen waren. Denkbar wäre auch, dass der Teufel nachträglich eigens für die Apokalypse zwei "Kinder" (er-) zeugt. Oder bei den beiden apokalyptischen Tieren handelt es sich vielleicht um zwei Dämonen, die in einem speziellen, kinderartigen Verhältnis zum Höllenfürsten stehen.
4/24
Ouy sous1) terre saincte d’ame3), voix fainte2),
Humaine flamme4) pour diuine voyr luire,
Fera des seuls de leur sang terre tainte
Et les saints têples pour les impurs destruire.
1) Nach lat. "sub" (u. a. "in"). Möglich wäre jedoch auch "in der Nähe von, unterhalb (südlich)".
Gehört [werden wird] im1) Heiligen Land [die] nachgemachte2) Stimme [der] Seele3).
[Die] menschliche Flamme4) wird [in ihrem] Leuchten als göttlich betrachtet [werden].
[Man] wird von den Alleinstehenden, von deren Blut, [die] Erde gefärbt [sein lassen],
und die heiligen Tempel für die Unreinen zerstören.
2) Oder auch: "vorgetäuscht, falsch; schwach".
3) Im Mittelfranzösischen bedeutet "ame" neben "Seele" auch einfach "Person, Individuum" usw. Hier ist wohl einfach ein Mensch gemeint.
4) Neben verschiedenen Lichterscheinungen (Flamme, Feuer, Blitz, Licht usw.) bedeutet "flamma" im Lateinischen u. a. auch "der Verderber".
Der falsche Prophet der Apokalypse tritt auf, und das erste apokalyptische Tier, der Antichrist, wird angebetet. Priester und Ordensleute werden getötet und Kirchen zerstört.
In der ersten Zeile erfahren wir, dass man im oder beim Heiligen Land (vgl. Anmerkung 1) die "nachgemachte" Stimme einer Person hören wird. Mit "terre saincte" ist hier wohl Israel/Palästina gemeint und nicht die "geweihte Erde" eines Friedhofes wie etwa BRIND’AMOUR, S. 494f., vermutet. Nostradamus hat hier mit der Formulierung "sous terre saincte" wahrscheinlich bewusst eine falsche Fährte gelegt.
Die zweite Zeile berichtet von einer "menschlichen Flamme", die in ihrem "Leuchten" für göttlich gehalten werden wird. Wir haben hier also entweder einen Menschen - vielleicht einen Verderber, vgl. Anmerkung 4 - oder das Werk eines Menschen vor uns. Und wegen dem, was dieser Mensch oder dessen Werk tut (das "Leuchten") wird dieser Mensch oder das Werk vergöttlicht werden. D. h. man wird diesen Menschen oder dessen Werk für Gott oder einen Gott halten bzw. dementsprechend verehren.
Auch die dritte und vierte Zeile haben ein religiöses Thema. Man wird die "Alleinstehenden", d. h. wohl die unter dem Zölibat Stehenden (Priester, Ordensleute) blutig verfolgen und die Kirchen ("heilige Tempel") für die "Unreinen" zerstören. Mit den "Unreinen" sind entweder "unreine" Bauten bzw. Kultbauten oder "unreine" Menschen gemeint. "Unrein" meint in diesem Zusammenhang wohl "dämonisch, teuflisch", vgl. etwa Markus 5,1-13:
"Sie kamen an das andere Ufer des Sees, in das Gebiet von Gerasa. Als er [Jesus] aus dem Boot stieg, lief ihm ein Mann entgegen, der von einem unreinen Geist besessen war. [...] Als er Jesus von weitem sah, lief er zu ihm hin, warf sich vor ihm nieder und schrie laut: Was habe ich mit dir zu tun, Jesus, Sohn des höchsten Gottes? Ich beschwöre dich bei Gott, quäle mich nicht! Jesus hatte nämlich zu ihm gesagt: Verlass diesen Mann, du unreiner Geist! Jesus fragte ihn: Wie heißt du? Er antwortete: Mein Name ist Legion; denn wir sind viele. Und er flehte Jesus an, sie nicht aus dieser Gegend zu verbannen. Nun weidete dort an einem Berghang gerade eine große Schweineherde. Da baten ihn die Dämonen: Lass uns doch in die Schweine hineinfahren! Jesus erlaubte es ihnen. Darauf verließen die unreinen Geister den Menschen und fuhren in die Schweine und die Herde stürzte sich den Abhang hinab in den See. Es waren etwa zweitausend Tiere und alle ertranken."
Die Zerstörung von Kirchen zugunsten von Menschen oder Bauwerken, die in Zusammenhang mit dämonisch-teuflischen Kulten stehen, die blutige Verfolgung von Priestern oder Ordensleuten, die gleichzeitige Erwähnung des Heiligen Landes und eines Menschen bzw. eines Menschenwerkes, das auf die gleiche Stufe wie Gott gestellt wird, ordnen diesen Vierzeiler meines Erachtens der biblischen Apokalypse zu.
Satan hat einst den Frevel begangen, sich als Geschöpf auf die gleiche Stufe zu stellen wie Gott. So erstaunt es denn auch nicht, dass er in seiner Vermessenheit Gott imitiert oder nachäfft. Luther soll ihn deswegen sogar einst als "Affe Gottes" bezeichnet haben. Dieses fast schon kindisch anmutende Verhalten finden wir nun wahrscheinlich auch in der Apokalypse wieder.
Wenn Satan in der Hölle sich mit Gott-Vater im Himmel gleichsetzt, benötigt er aber auch einen menschgewordenen Sohn, der Jesus Christus entspricht. Das dürfte das erste apokalyptische Tier sein, bei dem es sich also um einen Menschen handeln muss. Um einen Menschen allerdings, der gleichzeitig Satan ist, so wie Jesus sowohl Mensch wie auch die inkarnierte zweite Person Gottes (der "Sohn") ist. Wie Satan dieses Analogieproblem lösen wird, ist unklar. Vielleicht durch eine Art von Besessenheit? Jedenfalls wird dieses erste Tier ebenfalls getötet und wieder zum Leben erweckt werden, vgl. 1/84. Unterstützt werden wird das erste Tier durch ein zweites Tier. Dieses Tier könnte auch nichtmenschlicher Natur und vielleicht ein Dämon sein, vgl. 4/31. Das zweite apokalyptische Tier ist wohl das Pendant zum Heiligen Geist. Doch es dürfte noch mehr Parallelen geben.
Angekündigt wurde Jesus von Johannes dem Täufer, dem größten Propheten des alten Bundes. In der Bibel lesen wir über ihn u. a.:
"Er war es, von dem der Prophet Jesaja gesagt hat: Eine Stimme ruft in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg! Ebnet ihm die Straßen!" (Mt 3,3),
"Es begann, wie es bei dem Propheten Jesaja steht: Ich sende meinen Boten vor dir her; er soll den Weg für dich bahnen. Eine Stimme ruft in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg! Ebnet ihm die Straßen! So trat Johannes der Täufer in der Wüste auf und verkündigte Umkehr und Taufe zur Vergebung der Sünden" (Mk 1,2-4),
"[...] Da erging in der Wüste das Wort Gottes an Johannes, den Sohn des Zacharias. Und er zog in die Gegend am Jordan und verkündigte dort überall Umkehr und Taufe zur Vergebung der Sünden. (So erfüllte sich,) was im Buch der Reden des Propheten Jesaja steht: Eine Stimme ruft in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg! Ebnet ihm die Straßen! Jede Schlucht soll aufgefüllt werden, jeder Berg und Hügel sich senken. Was krumm ist, soll gerade werden, was uneben ist, soll zum ebenen Weg werden. Und alle Menschen werden das Heil sehen, das von Gott kommt" (Lk 3,2-6)
"Dies ist das Zeugnis des Johannes: Als die Juden von Jerusalem aus Priester und Leviten zu ihm sandten mit der Frage: Wer bist du?, bekannte er und leugnete nicht; er bekannte: Ich bin nicht der Messias. Sie fragten ihn: Was bist du dann? Bist du Elija? Und er sagte: Ich bin es nicht. Bist du der Propheta)? Er antwortete: Nein. Da fragten sie ihn: Wer bist du? Wir müssen denen, die uns gesandt haben, Auskunft geben. Was sagst du über dich selbst? Er sagte: Ich bin die Stimme, die in der Wüste ruft: Ebnet den Weg für den Herrn!, wie der Prophet Jesaja gesagt hat. Unter den Abgesandten waren auch Pharisäer. Sie fragten Johannes: Warum taufst du dann, wenn du nicht der Messias bist, nicht Elija und nicht der Prophet? Er antwortete ihnen: Ich taufe mit Wasser. Mitten unter euch steht der, den ihr nicht kennt und der nach mir kommt; ich bin es nicht wert, ihm die Schuhe aufzuschnüren. Dies geschah in Betanien, auf der anderen Seite des Jordan, wo Johannes taufte" (Joh 1,19-28).
a) Mit dem "Propheten" ist hier ein mosesähnlicher Prophet gemeint, dessen Erscheinen in der Endzeit erwartet wurde.
In der ersten Zeile von 4/24 taucht nun wohl die nachgeäffte satanische Entsprechung zu Johannes dem Täufer auf. In der Bibel wird Johannes der Täufer mehrfach als die "Stimme" bezeichnet (vgl. oben). Somit ist es nur folgerichtig, dass Nostradamus von dessen satanischem Pendant als der "nachgemachten Stimme" spricht. Auftreten wird der falsche Prophet im Heiligen Land oder dessen Nähe (vgl. Anmerkung 1). Johannes der Täufer wirkte östlich des Jordans (vgl. oben), also ebenfalls in der Nähe des Gelobten Landes.
Die "nachgemachte Stimme" ist der Prophet des ersten apokalyptischen Tieres, so wie Johannes derjenige Jesu war. Zum falschen Propheten vgl. 4/31.
Mit der "menschlichen Flamme" der zweiten Zeile ist meines Erachtens das erste Tier der Apokalypse gemeint, der Anti-Jesus bzw. Antichrist. Zu diesem würde auch die Deutung der "Flamme" als Verderber passen, vgl. Anmerkung 4. Obwohl die "Flamme" menschlich ist, wird sie aufgrund ihres "Leuchtens" als göttlich betrachtet werden. Dieses "Leuchten" könnten die Taten des Antichristen meinen, vgl. oben. Oder noch grundlegender: die bloße Existenz, das Leben bzw. das erneute Leben dieser Person:
"[...] Und der Drache hatte ihm seine Gewalt übergeben, seinen Thron und seine große Macht. Einer seiner Köpfe sah aus wie tödlich verwundet; aber die tödliche Wunde wurde geheilt. Und die ganze Erde sah dem [ersten] Tier staunend nach. Die Menschen warfen sich vor dem Drachen [Satan] nieder, weil er seine Macht dem [ersten] Tier gegeben hatte; und sie beteten das [erste] Tier an und sagten: Wer ist dem [ersten] Tier gleich und wer kann den Kampf mit ihm aufnehmen?" (Offb 13,2-4).
In der dritten und vierten Zeile wird beschrieben, dass Priester und Ordensleute verfolgt und die Kirchen zerstört werden. Das dürften die Folgen des satanischen Kultes um das erste Tier sein. In der Offenbarung des Johannes lesen wir:
"Das [erste] Tier öffnete sein Maul, um Gott und seinen Namen zu lästern, seine Wohnung und alle, die im Himmel wohnen. Und es wurde ihm erlaubt, mit den Heiligen zu kämpfen und sie zu besiegen" (Offb 13,6f.).
1/50
De l’aquatique triplicité naistra
D’vn1) qui fera le ieudy pour sa feste:
Son bruit, loz, regne, sa puissance croistra,
Par terre & mer aux orients2) tempeste3).
1) Lies: "un", vgl. BRIND’AMOUR, S. 120.
Aus der Dreiergruppe des Wasser wird [er] geboren werden,
einer1), der den Donnerstag zu seinem Feiertag machen wird.
Sein Ruhm, [sein] Renommee, [seine] Herrschaft [und] seine Macht werden wachsen.
Auf dem Land und auf dem Meer [wird es] in den Morgenländern2) Sturm3) [geben].
2) Oder auch: "im Orient, im Osten". Im Französischen wird gelegentlich die Mehrzahl "orients" verwendet ("die Oriente", "die Osten"), was sich etwa mit "Morgenländern" übersetzen lässt.
3) Auch im Sinne von: "Unruhe, Verwirrung, Streit, heftiger Kampf, Zerstörung".
Das erste Tier der Apokalypse macht den Donnerstag zu seinem Feiertag und dehnt im Orient seinen Herrschaftsbereich gewaltsam aus.
In der zweiten Zeile erfahren wir, dass jemand den Donnerstag zum Wochenfeiertag machen wird. Das ordnet den Vierzeiler der biblischen Apokalypse zu, vgl. 2/28.
Gemäß Zeile eins wird dieser Mann aus der "Dreiergruppe des Wassers" geboren werden. Das scheint auf den ersten Blick auf die Astrologie zu verweisen, in der die zwölf Tierkreiszeichen in vier Gruppen (Trigone) eingeteilt werden, die ihrerseits den vier klassischen Elementen (Feuer, Wasser, Erde, Luft) zugeordnet sind. Das Wassertrigon umfasst dabei die Tierkreiszeichen Krebs, Skorpion und Fische.
Wenn wir den Vierzeiler jedoch vor dem Hintergrund der Bibel betrachten, lässt sich diese "Dreiergruppe des Wassers" ganz anders verstehen.
Nostradamus lehnt sich bei dieser "Dreiergruppe des Wassers" (bzw. "aus dem Wasser") wahrscheinlich an die Offenbarung des Johannes sowie an das Buch Daniel an.
In der Offenbarung des Johannes lesen wir:
"Und der Drache [Satan] trat an den Strand des Meeres. Und ich sah: Ein Tier stieg aus dem Meer, mit zehn Hörnern und sieben Köpfen. Auf seinen Hörnern trug es zehn Diademe und auf seinen Köpfen Namen, die eine Gotteslästerung waren. Das Tier, das ich sah, glich einem Panther; seine Füße waren wie die Tatzen eines Bären und sein Maul wie das Maul eines Löwen. Und der Drache hatte ihm seine Gewalt übergeben, seinen Thron und seine große Macht" (Offb 12,18-13,2).
Dieses erste apokalyptische Tier mit der Macht Satans ist also zusammengesetzt (oder mit Nostradamus: "geboren") aus drei anderen Tieren. Es gleicht einem Panther, hat die Tatzen eines Bären und das Maul eines Löwen. Hier greift Johannes auf die Vision des alttestamentarischen Propheten Daniel zurück, der von vier Tieren berichtet, die aus dem Meer steigen. Bei den ersten drei handelt es sich um einen geflügelten Löwen, ein Tier, das einem Bären ähnelt und eine Art geflügeltem Panther:
"Ich hatte während der Nacht eine Vision: Die vier Winde des Himmels wühlten das große Meer auf. Dann stiegen aus dem Meer vier große Tiere herauf; jedes hatte eine andere Gestalt. Das erste war einem Löwen ähnlich, hatte jedoch Adlerflügel. [...] Dann erschien ein zweites Tier; es glich einem Bären und war nach einer Seite hin aufgerichtet. [...] Danach sah ich ein anderes Tier; es glich einem Panther, hatte aber auf dem Rücken vier Flügel, wie die Flügel eines Vogels; auch hatte das Tier vier Köpfe; [...]" (Dan 7,2-6).
Bei Daniel sind die drei Tiere aus dem Meer - also aus dem Wasser - emporgestiegen. Sie entsprechen somit der "Dreiergruppe des Wassers" bei Nostradamus. Aus diesen zusammengesetzt ("geboren") ist das erste Tier des Johannes, das dem vierten Tier bei Daniel entspricht. Über dieses lesen wir:
Danach sah ich in meinen nächtlichen Visionen ein viertes Tier; es war furchtbar und schrecklich anzusehen und sehr stark; es hatte große Zähne aus Eisen. [...] Auch hatte es zehn Hörner. Als ich die Hörner betrachtete, da wuchs zwischen ihnen ein anderes, kleineres Horn empor und vor ihm wurden drei von den früheren Hörnern ausgerissen; und an diesem Horn waren Augen wie Menschenaugen und ein Maul, das anmaßend redete" (Dan 7,7f.) [...] Dann wollte ich noch Genaueres über das vierte Tier erfahren, [...]. Der (Engel) antwortete mir: Das vierte Tier bedeutet: Ein viertes Reich wird sich auf der Erde erheben, ganz anders als alle anderen Reiche. Es wird die ganze Erde verschlingen, [...]. Die zehn Hörner bedeuten: In jenem Reich werden zehn Könige regieren; doch nach ihnen kommt ein anderer. Dieser ist ganz anders als die früheren. Er stürzt drei Könige, er lästert über den Höchsten und unterdrückt die Heiligen des Höchsten. Die Festzeiten und das Gesetz will er ändern. [...]" (Dan 7,19-25).
Dieses Tier, bzw. sein anmaßendes (gotteslästerliches) Horn, will die Festzeiten und das Gesetz ändern. Das ist die Einführung des Donnerstags als Wochenfeiertag in 1/50, die zusammen mit der Abänderung der göttlichen Gebote (Gesetz) vonstatten gehen dürfte. Dieses Tier stellt sich dadurch mit Gott auf eine Stufe.
Gemäß Zeile drei von 1/50 werden Macht und Ansehen des ersten apokalyptischen Tieres wachsen. In der Offenbarung des Johannes lesen wir dazu: "[...] Es wurde ihm [...] Macht gegeben über alle Stämme, Völker, Sprachen und Nationen. Alle Bewohner der Erde fallen nieder vor ihm: alle, deren Name nicht seit der Erschaffung der Welt eingetragen ist ins Lebensbuch des Lammes, das geschlachtet wurde [Jesus]" (Offb 13,7f.).
In der letzten Zeile von 1/50 erfahren wir, dass es im Orient zu Land und auf dem Meer "Sturm" (wohl Krieg, vgl. Anmerkung 3) geben wird. Dieser "Sturm" dürfte vom ersten Tier der Apokalypse verursacht werden, das seine Herrschaft in diesem Raum gewaltsam ausdehnt. Es ist anzunehmen, dass diesem "Tier" besonders der Besitz des Heiligen Landes und Jerusalems ein Anliegen sein wird. Der Stätten also, die in der Geschichte Gottes mit den Menschen einen besonderen Platz einnehmen.
8/77
L’antechrist trois bien tost annichilez,
Vingt & sept ans sang1) durera sa guerre,
Les heretiques mortz, captifs2) exilez3),
Sang corps humain4) eau rogie gresler terre.
1) Vgl. lat. "sanguis" (u. a. Blut, Blutvergießen).
Der Antichrist [erscheint, und] drei [werden] sehr bald vernichtet [werden].
27 Jahre [des] Blutvergießens1) wird sein Krieg dauern.
Die Ketzer [werden] tot [sein], [die] Verführten2) getötet3) [werden].
Blut, menschlicher Körper4), gerötetes Wasser, hageln [wird es auf die] Erde.
2) Das mittelfranzösische "captiver" bedeutet neben "gefangennehmen" u. a. auch "verführen".
3) Das mittelfranzösische "exiler" bedeuten neben "verbannen" u. a. auch "zerstören, töten".
4) Oder vielleicht auch: "corps humains" (menschliche Körper).
Der Antichrist (das erste Tier der Apokalypse) vernichtet drei Herrscher, und Gott lässt die sieben Schalen des Zorns ausgießen.
In der ersten Zeile ist von dem Antichristen die Rede, was den Vierzeiler der Apokalypse zuordnet. Der Begriff "antechrist" taucht zwar auch in 10/66 (5.37) auf, wird dort jedoch als Kategoriesierung verwendet. Nostradamus spricht dort deswegen auch nur von "einem sehr falschen Antichristen" ("vn si faux antechrist"). In der ersten Zeile von 8/77 erfahren wir, dass nach dem Erscheinen des apokalyptischen Antichristen drei sehr bald vernichtet werden. Das entspricht der Beschreibung, die wir in der Bibel finden. Das erste Tier der johanneischen Apokalypse - der Antichrist, vgl. 4/24 - entspricht dem vierten Tier in der Vision des alttestamentarischen Propheten Daniel, vgl. 1/50. Daniel schreibt:
"Danach sah ich in meinen nächtlichen Visionen ein viertes Tier; es war furchtbar und schrecklich anzusehen und sehr stark; es hatte große Zähne aus Eisen. Es fraß und zermalmte alles, und was übrig blieb, zertrat es mit den Füßen. Von den anderen Tieren war es völlig verschieden. Auch hatte es zehn Hörner. Als ich die Hörner betrachtete, da wuchs zwischen ihnen ein anderes, kleineres Horn empor und vor ihm wurden drei von den früheren Hörnern ausgerissen; und an diesem Horn waren Augen wie Menschenaugen und ein Maul, das anmaßend redete" (Dan 7,7f.)
und
"[...] Das vierte Tier bedeutet: Ein viertes Reich wird sich auf der Erde erheben, ganz anders als alle anderen Reiche. Es wird die ganze Erde verschlingen, sie zertreten und zermalmen. Die zehn Hörner bedeuten: In jenem Reich werden zehn Könige regieren; doch nach ihnen kommt ein anderer. Dieser ist ganz anders als die früheren. Er stürzt drei Könige, er lästert über den Höchsten und unterdrückt die Heiligen des Höchsten. Die Festzeiten und das Gesetz will er ändern. Ihm werden die Heiligen für eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit ausgeliefert" (Dan 7,23-25).
In der zweiten Zeile von 8/77 erfahren wir, dass der Antichrist 27 Jahre lang einen blutigen Krieg führen wird. Das scheint auf den ersten Blick ein Widerspruch zur Offenbarung des Johannes und zum Buch Daniel zu sein. Dort lesen wir etwa:
"Und es [das erste Tier] wurde ermächtigt, mit seinem Maul anmaßende Worte und Lästerungen auszusprechen; es wurde ihm Macht gegeben, dies zweiundvierzig Monate zu tun" (Offb 13,5)
und
"Von der Zeit an, in der man das tägliche Opfer abschafft und den unheilvollen Gräuel aufstellt [vgl. 10/71], sind es zwölfhundertneunzig Tage" (Dan 12,11).
sowie
"[...] Ihm werden die Heiligen für eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit ausgeliefert" (Dan 7,25), vgl. oben.
Die bei Johannes und Daniel erwähnten dreieinhalb Jahre werden mit der Schlacht von Harmageddon und der Niederlage des ersten Tieres, des Antichristen, zu Ende gehen (vgl. 2/27). Somit wird auch der 27jährige Krieg spätestens dann enden. Es ist denkbar, dass die 27 Jahre Krieg dem Antichristen dazu dienen werden, sich die nötige Macht auf der Erde zu erkämpfen, um dann diese dreieinhalb Jahre lang "in Frieden" beherrschen zu können. In einem "Frieden", der allerdings antichristlich und satanisch sein wird. Eine Zeit, in der der Antichrist Gott lästern und die Christen verfolgen wird.
Möglicherweise wird der Antichrist den 27jährigen Krieg ohne seinen Beistand, das zweite Tier, bestreiten müssen. Anders als die dreieinhalb Jahre seiner Weltherrschaft, in der das zweite Tier im Auftrag des Antichristen wirkt (vgl. 10/98, 10/71, 4/31).
In der dritten und vierten Zeile von 8/77 ist von toten Ketzern und Verführten, von Blut, dem menschlichen Körper, gerötetem Wasser und Hagel die Rede. Hier dürfte das Ende der Herrschaft des Antichristen beschrieben sein. Sie endet so, wie sie errichtet worden ist: blutig und gewalttätig.
Die toten Ketzer und Verführten sind wohl die Anhänger des Antichristen. Interessant ist, dass hier von abtrünnigen Katholiken (Ketzern) die Rede ist. Das dürften diejenigen sein, die dem vorletzten Papst, wohl dem falschen Propheten der Apokalypse, folgen werden (vgl. 4/24, 2/28, 4/31).
Bei der Formulierung der vierten Zeile hat sich Nostradamus anscheinend an die "sieben Schalen des Zorns" angelehnt, die wir in Kapitel 16 der Offenbarung des Johannes finden. Diesem ist zu entnehmen, dass nicht nur die Heere des Antichristen bei Harmageddon vernichtet sondern auch dessen Anhänger weltweit heimgesucht werden.
Das "Blut" und das "gerötete Wasser" finden wir in Offb 16,3-6:
"Der zweite Engel goss seine Schale über das Meer. Da wurde es zu Blut, das aussah wie das Blut eines Toten; und alle Lebewesen im Meer starben. Der dritte goss seine Schale über die Flüsse und Quellen. Da wurde alles zu Blut. Und ich hörte den Engel, der die Macht über das Wasser hat, sagen: Gerecht bist du, der du bist und der du warst, du Heiliger; denn damit hast du ein gerechtes Urteil gefällt. Sie haben das Blut von Heiligen und Propheten vergossen; deshalb hast du ihnen Blut zu trinken gegeben, so haben sie es verdient."
Der "menschliche Körper" dürfte sich auf Offb 16,2 beziehen:
"Der erste [Engel] ging und goss seine Schale über das Land. Da bildete sich ein böses und schlimmes Geschwür an den Menschen, die das Kennzeichen des Tieres trugen und sein Standbild anbeteten."
Und zum "Hagel" finden wir in Offb 16,21:
"Und gewaltige Hagelbrocken, zentnerschwer, stürzten vom Himmel auf die Menschen herab. Dennoch verfluchten die Menschen Gott wegen dieser Hagelplage; denn die Plage war über die Maßen groß."
8/70
Il entrera vilain1), meschant infame2)
Tyrannisant la Mesopotamie3)
Tous amys fait[s] d’adulterine4) dame.
Tertre horrible noir5) de phisonomie.
1) Oder u. a. auch: "gemein".
Er wird eindringen, bösartig1), boshaft [und] gemein2) [wie er ist, und]
Mesopotamien3) tyrannisieren.
Alle [werden zu] Freunden der verfälschten4) Dame gemacht [sein].
[Die] Anhöhe [wird ein] schrecklicher [und] bösartiger5) Anblick [sein].
2) Oder u. a. auch: "niederträchtig, unehrenhaft; erbärmlich, armselig; glücklos".
3) Das Zweistromland zwischen Eufrat und Tigris im Irak, Syrien und der Südtürkei.
4) Das mittelfranzösische "adulterin" bedeutet "unehelich; unecht, verfälscht", vgl. lat. "adulterinus". Nostradamus könnte hier aber gleichfalls auf "adultere" (ehebrecherisch) angespielt haben.
5) Vgl. lat. "niger" (u. a. schwarz; boshaft, tückisch, böse).
Während der Herrschaft der Hure Babylon stößt der Antichrist vom Iran aus nach Mesopotamien und Jerusalem vor, um dort sein Götzenbild zu errichten.
In den ersten beiden Zeilen ist von jemandem die Rede, der sehr negativ beschrieben wird. Er wird in Mesopotamien einmarschieren und das Land tyrannisieren. Zu dieser Zeit werden "alle" Menschen - oder wahrscheinlich deren größter Teil - zu Freunden einer "verfälschten Dame" gemacht sein, wie der dritten Zeile zu entnehmen ist. In der letzten Zeile ist zu lesen, dass eine Anhöhe ein schrecklicher und bösartiger Anblick sein wird.
Die Erwähnung Mesopotamiens verlegt den Vierzeiler in den Nahen Osten. Von welcher Anhöhe in der vierten Zeile die Rede ist, ist leider nicht ersichtlich. Sollte sich diese jedoch ebenfalls im Orient befinden, böte sich hier v. a. der Jerusalemer Tempelberg an, eine Anhöhe, die hinsichtlich ihrer religiösen und politischen Bedeutung ihresgleichen sucht.
In der Endzeit wird der Tempelberg einmal mehr im Zentrum des weltweiten Interesses stehen. Dort wird nämlich das wundersame Standbild des Antichristen, des ersten apokalyptischen Tieres stehen, das von den Menschen anzubeten sein wird (vgl.
10/71, 4/31 und 10/98). Dazu passen würde die Aussage aus 8/70, dass die Anhöhe ein "schrecklicher und bösartiger Anblick" sein wird, vgl. Matthäus 24,15: "Wenn ihr dann am heiligen Ort den unheilvollen Gräuel stehen seht, der durch den Propheten Daniel vorhergesagt worden ist - der Leser begreife -, dann sollen die Bewohner von Judäa in die Berge fliehen; [...]" Mit dem "heiligen Ort" ist dabei der Tempelberg gemeint, vgl. Daniel 9,27 und 11,31.
Verfolgen wir die endzeitliche Spur weiter, dürfte die "verfälschte Dame" der dritten Zeile wohl die Hure Babylon meinen. Und spätestens hier wäre nun die Anspielung von "verfälscht" (adulterine) auf "ehebrecherisch" (adultere) verständlich. Doch was bedeutet "verfälscht" in diesen Zusammenhang? Wie in 10/98 vermutet, könnte die apokalyptische Hure Babylon die von Christus abgefallene Kirche sein. Sollte dies zutreffen, bezieht sich die "Verfälschung" wohl auf die Lehre, die diese (Ex-) Kirche verkündet. Eine Lehre, die vielleicht sogar noch Elemente des Christentums beeinhalten aber wohl mindestens durch andere Elemente stark verfälscht sein wird.
Falls 8/70 zur Apokalypse gehört, ist es mehr als bloß naheliegend, im "bösartigen", "boshaften" und "gemeinen" Eindringling Mesopotamiens den Antichristen, das erste apokalyptische Tier zu erblicken. In vorliegendem Vierzeiler nicht zu erkennen ist, woher der Eroberer des Zweistromlandes kommen wird. Möglicherweise aber aus dem Osten. Bei den sieben Engeln mit den sieben Schalen des Zorns (Offb 16) lesen wir zu Nummer sechs: "Der sechste Engel goss seine Schale über den großen Strom, den Eufrat. Da trocknete sein Wasser aus, so dass den Königen des Ostens der Weg offen stand" (Offb 16,12). Da diese Könige aus dem Osten allem Anschein nach Verbündete des ersten Tieres sein werden, wäre es mindestens denkbar, dass dieses selber auch aus dem Osten kommen wird. Diese Annahme könnte eine Stelle in der Widmung an Heinrich II. bestätigen. Nostradamus schreibt dort:
"Puis le grand empyre de l’Antechrist commencera dans la Atilaa) & Zersesb) descendre en nombre grand & innumerable, tellement que la venue du sainct Esprit procedant du 48. degrezc) fera transmigrationd), deschassant à l’abomination de l’Antechrist, faisant guerre contre le royal qui sera le grãd vicaire de Iesus Christ, & contre son Eg[l]ise, & son regne 'per tempus, & in occasione temporis', [...]"
"Dann wird die große Herrschaft des Antichristen dort beginnen, wo Attilaa) [herrschte]. Und Xerxesb) [wird] mit [einer] großen und unbezifferbaren Anzahl [Truppen] heruntermarschieren. [Und zwar] dermaßen, dass die Niederlage des heiligen Geistes, ausgehend vom 48. Gradc), [eine] große Umsiedlungd) verursachen wird. Vertrieben von der Greueltat des Antichristen, [der] Krieg führt gegen den Königlichen, der der große Stellvertreter Jesu Christi sein wird, und gegen seine Kirche. Und seine Herrschaft wird 'eine gewisse Zeit und am Ende der Zeit' bestehen."
a) Der Hunnenkönig Attila (434 - 453) beherrschte ein Reich, das sich vom Kaspischen Meer bis zum Rhein erstreckte. Sein Hauptsitz befand sich im heutigen Ungarn, östlich der Donau.
b) Der persische König Xerxes I. (486 - 465 v. Chr.) schlug in seiner Herrschaft zuerst die antipersischen Aufstände in Ägypten und Babylonien nieder. In Babylon wurden der Turm von Babel und die Statue des Gottes Marduk zerstört, womit das babylonische Königtum endgültig beseitigt wurde. 480 - 479 v. Chr. griff Xerxes die Griechen an, wurde aber bei Salamis und den Thermophylen besiegt. Das "Heruntersteigen" dürfte sich auf das iranische Hochland beziehen, von wo das persische Weltreich seinen Ausgang nahm.
c) Beim 48. Breitengrad liegen z. B. Le Mans, Freiburg im Breisgau oder Baden bei Wien.
d) Lat. "transmigrare" (übersiedeln).
Im oben zitierten Ausschnitt aus der Widmung an Heinrich II. scheint Nostradamus den biblischen Antichristen mit Xerxes I. gleichzusetzen. Möglicherweise deshalb, weil der Perser das antike Babylon politisch endgültig zerstört hat, genauso wie der Antichrist die endzeitliche Hure Babylon zerstören wird (vgl. 6/19). Der Antichrist scheint dann nach Europa weiterzumarschieren und im Raum Nordungarn/Südslowakei (beim 48. Breitengrad und in der Gegend, wo sich Attilas Residenz befand) einen entscheidenden Sieg zu erringen. Einen Sieg, der ihm den Weg zur Weltherrschaft ebnen wird. Doch zunächst unterwirft der vom Iranischen Hochland herunterkommende Antichrist Mesopotamien und dürfte dann nach Jerusalem vorstoßen, um dort auf dem Tempelberg sein Götzenbild zu errichten.
8/56
La bande1) foible le tertre occupera
Ceux du hault lieu2) feront horribles crys,
Le gros trouppeau4) d’estre3) coin5) troublera,
Tombe pres D. nebro6) descouuers les escris7).
1) Oder auch: "Gruppierung" im weitesten Sinn.
Die schwache Truppe1) wird die Anhöhe besetzen.
Die vom hohen Ort2) werden schreckliche Schreie ausstoßen.
Die große zu entstehende3) Herde4) wird [den] Winkel5) in Verwirrung stürzen.
[Beim] Grab in der Nähe von Hebron6) [werden] die Schreie7) entdeckt [werden].
2) Oder auch: "edlen Ort".
3) Oder vielleicht auch im Sinne von "de l’estre" (des Wesens). Dann wäre damit wohl der Antichrist gemeint, siehe den Kommentar rechts.
4) Auch im übertragenen Sinne von "Menschenmenge".
5) Im Sinne von "Gegend, Ort".
6) Unklar. "D." könnte einfach ein Setzfehler sein und "de" meinen. "Nebro" taucht ebenfalls in 10/25 auf, wo auch vom Tajo die Rede ist. Somit könnte "Nebro" etwa den Ebro in Nordostspanien meinen. LE PELLETIER vermutet die Monti Nebrodi, ein Gebirgszug im Nordosten Siziliens, CLÉBERT das französische Embrun (lat. "Eburodunum"). In Frage kommen könnte aber auch Hebron in Palästina. David ("D."?) wurde in Hebron zum König gesalbt (2 Sam 2,4) und regierte zunächst auch in dieser Stadt. In der Nähe Hebrons liegt die "Höhle der Patriarchen", das Erzvätergrab, wo u. a. Abraham, Isaak und Jakob begraben sein sollen.
7) Oder auch denkbar: "Schriften" (escrits). Bei diesen "Schreien" könnte Nostradamus an Kriegsgeschrei gedacht haben, vgl. griech. "boe" (u. a. Schrei, Schlachtruf, Kampfgeschrei) oder lat. "clamor" (u. a. Geschrei, Kriegsgeschrei). Und da Schreie nicht entdeckt sondern gehört werden, ist zu vermuten, dass unser Seher in diesem Fall nicht die Lautäußerungen als solche sondern die zugrundeliegenden Kampfhandlungen gemeint hätte.
Die Anhängerschaft des Antichristen überzieht das Heilige Land mit Krieg und nimmt den Jerusalemer Tempelberg ein.
In der ersten Zeile ist von einer Anhöhe die Rede, die von einer "schwachen" Truppe besetzt werden wird. Der zweiten Zeile ist zu entnehmen, dass die vom "hohen" oder "edlen" Ort (vgl. Anmerkung 2) schreckliche Schreie ausstoßen werden. Welchen Ort und welche Anhöhe Nostradamus hier gemeint hat, ist leider nicht ersichtlich. In der Apokalypse taucht allerdings eine Anhöhe auf, die für den Verlauf des Geschehens wichtig ist: der Tempelberg (vgl. 8/70 und 4/31). In diesem Fall wäre mit dem "hohen" oder "edlen" Ort Jerusalem gemeint. Die Jerusalemer Altstadt liegt auf über 700 m. ü. M. und ist somit tatsächlich ein hochgelegener Ort. Der griechisch-lateinische Name der Stadt lautet "Hierosolyma", was sich als "heilige Stadt" verstehen lässt. In der Bibel wird Jerusalem u. a. tatsächlich auch als "heilige Stadt" bezeichnet, vgl. Jesaja 52,1.
In der biblischen Endzeit wird der Antichrist sich des Tempelberges bemächtigen. Somit würde die "schwache Truppe" wohl zu seinem Anhang gehören. Etwas irritierend ist der Umstand, dass die Truppe als "schwach" charakterisiert wird. Wenn die Truppe so schwach ist, weshalb stoßen dann die Bewohner Jerusalems "schreckliche Schreie" aus? Hier könnte Nostradamus "schwach" im Sinne des mittelfranzösischen "imbecile" gemeint haben, was sowohl körperlich wie auch intellektuell "schwach" (dumm) bedeutet. Und "geistesschwach" ist die Truppe wohl deshalb, weil sie dem Antichristen folgt.
Zeile drei erwähnt eine "große Herde", die den "Winkel" in Verwirrung stürzen wird. Damit müsste die Anhängerschaft des Antichristen gemeint sein, die den Nahen Osten oder das Heilige Land in Aufruhr versetzt (vgl. Anmerkungen 4 und 5). Die Herde des Antichristen scheint dabei sehr zahlreich zu werden.
Kämpfe (Kampfgeschrei) scheint es etwa bei der Höhle der Patriarchen nahe Hebron zu geben, vgl. Anmerkungen 6 und 7.
4/49
Deuant le peuple sang sera respandu
Que du haut ciel ne viendra eslogner:
Mais d’vn long temps ne sera entendu
L’esprit d’vn seul le viendra tesmoigner.
Vor dem Volk wird Blut vergossen werden,
[so] dass [der] vom hohen Himmel nicht dazu kommen wird, [sich zu] entfernen.
Aber während einer langer Zeit wird [er] nicht gehört werden.
Der Geist eines Alleinstehenden wird dazu kommen, Zeugnis für ihn abzulegen.
Dem Antichristen werden Opfer dargebracht. Ein Priester oder Ordensmann wird den dämonischen Beistand des Antichristen erblicken und bezeugen.
In der vierten Zeile ist von einem "Alleinstehenden" die Rede, der - bzw. dessen Geist - für jemanden Zeugnis ablegen wird. Mit dem "Alleinstehenden" dürfte ein Priester oder Ordensmann gemeint sein, der unter dem Zölibat steht, vgl. 4/24/3.
In den ersten drei Zeilen erfahren wir mehr über denjenigen, dessen Zeuge der Alleinstehende sein wird. Er wird anscheinend vom "hohen Himmel" kommen. Und weil man öffentlich ("vor dem Volk", vgl. lat. coram publico) Blut vergießt, wird er auch bei den Menschen bleiben. Allerdings wird er während einer langen Zeit nicht gehört werden. Wer könnte hier gemeint sein?
Im Himmel leben Gott, die Gemeinschaft der Heiligen und die Engel. Das Blutvergießen dürfte Opferhandlungen meinen, die für dieses himmlische Wesen aus 4/49 durchgeführt werden. Wie die Kirche lehrt, ist aber der Kreuzestod Christi das vollkommene und endgültige Opfer, um uns Menschen wieder mit Gott zu versöhnen. Alle weiteren Opfer, wie sie etwa im alten Bund dargebracht wurden, sind demzufolge überflüssig (vgl. etwa Hebr 10,10-18). Somit scheidet Gott als Kandidat aus. Ebenso die Engel Gottes und die Heiligen bzw. Erlösten, für die gar keine Opfer vorgesehen waren bzw. sind.
Es gibt allerdings eine Gruppe von Wesen, die hier noch nicht erwähnt worden ist. Es handelt sich um die gefallenen Engel (Satan und seine Dämonen), die nach ihrer Rebellion gegen Gott aus dem Himmel verbannt worden sind.
In der nostradamischen Apokalypse taucht eine Gestalt auf, die ein übernatürliches Wesen, ein Dämon sein könnte und die auch von ihrer Bezeichnung her tatsächlich "vom hohen Himmel" kommt: der "Mond", das zweite apokalyptische Tier (vgl. 4/31). Der Umstand, dass offenbar ein Priester oder Ordensmann ihn sehen und sich zu ihm bekennen wird (vgl. Zeile vier) passt zu 4/31/2, wo ebenfalls jemand mit einem "einsamen Verstand" den "Mond" erblicken wird.
In 4/31 ist ebenfalls von "Körpern im Feuer" die Rede, die für Menschenopfer stehen könnten, die dem ersten apokalyptischen Tier, dem Antichristen, dargebracht werden. Das würde zum öffentlich vergossenen Blut in 4/49 passen. Bei einem alttestamentarischen Brandopfer wurde das Opfertier ebenfalls zunächst mit der Klinge getötet, bevor man es den Flammen übergab.
Und so lange diese blutigen Opfer für den Antichristen dargebracht werden, wird auch dessen Schutzgeist, der "Mond", auf Erden bleiben (Zeile zwei).
In der dritten Zeile von 4/31 erfahren wir, dass "der vom hohen Himmel", der "Mond", während einer langen Zeit nicht gehört werden wird. Damit dürfte Nostradamus die Zeit des Tausendjährigen Reiches Christi meinen, in der der "Mond" - vielleicht zusammen mit den anderen Dämonen - Satan in dessen Gefängnis Gesellschaft leisten dürfte, vgl. 1/84.
4/31
La lune au plain de nuit1) sus le haut2) mont,
Le nouueau sophe3) d’vn seul4) cerueau5) la6) veu:
Par ses disciples7) estre immortel semond8)
Yeux9) au mydi. En seins10) mains, corps11) au feu.
1) Oder auch: "Mitternacht", vgl. BRIND’AMOUR, S. 508.
Der Mond [ist] mitten in der Nacht1) auf dem hohen2) Berg.
Der neue Weise3) mit einem einsamen4) Verstand5) hat ihn6) gesehen.
Durch seine Jünger7) zwingt8) [das] unsterbliche Wesen
[die] Augen9) in den Süden. Auf [den] Brüsten10) [sind die] Hände [und die11)] Körper im
Feuer.
2) Auch im übertragenen Sinne (erhaben; hochstehend).
3) "Sophe" dürfte das griech. "sophos" (der Weise, der Sophist) bzw. das lat. "sophus" (der Weise) meinen. Sophisten waren ursprünglich griechische Philosophen aus der vorsokratischen Periode, deren Philosophie durch Relativismus und skeptizistische Tendenzen gekennzeichnet war. So stellten sie etwa auch überkommene Moralvorstellungen in Frage. In einer späteren Phase mutierte ihre Art der Philosphie durch einen übersteigerten Relativismus zu einem reinen Spiel mit Worten und Begriffen, bei dem es nur noch darum ging, in einer Diskussion zu obsiegen. Zu diesem Zweck griffen sie gern auch auf Scheinargumente und rhetorische Tricks zurück. So wurde "Sophist" gleichbedeutend mit "Wortverdreher, Rabulist". Im Französischen des 16. Jahrhunderts kommt zu "sophiste" bzw. "sophistiquer" der Aspekt des generellen Betrügens, Fälschens und Verfälschens hinzu, vgl. CLÉBERT, S. 493f. Bei diesem "Weisen" könnte es sich somit um einen Irrlehrer handeln.
4) Auch im Sinne von "alleinstehend". Mit Blick auf das lat. "solus" vielleicht auch als "außerordentlich" zu verstehen.
5) Vgl. lat. "cerebrum" (Gehirn; Verstand).
6) Lies: "l’a" ("hat ihn").
7) Oder auch: "Schüler".
8) "Semondre" weist verschiedene Bedeutungen auf. U. a. "einladen, locken, reizen; zu etwas drängen, zwingen; zusammenrufen, versammeln; vorladen, einberufen, aufforden".
9) Mit Blick auf das lat. "oculum" kann "Auge" wohl auch im übertragenen Sinne als "das Vorzüglichste" verstanden werden.
10) Oder auch: "Herzen".
11) Oder auch: "der" (Einzahl).
Das zweite Tier der Apokalypse ist auf dem Tempelberg. Ein neuer Irrlehrer - ein Priester oder Ordensmann - wird ihn erblicken. Es werden Opfer dargebracht werden.
In der ersten Zeile erfahren wir, dass mitten in der Nacht der "Mond" auf dem hohen oder erhabenen Berg stehen wird. Und es wird ein "neuer Weiser" mit einem "einsamen Verstand" sein, der ihn sieht (zweite Zeile). Um zu beobachten, wie in der Mond am Nachthimmel über einem Berg steht, braucht es nicht die Fähigkeiten oder das Wissen eines Weisen (vgl. unten). Der Erdtrabant ist auch in diesem Vierzeiler mit aller Wahrscheinlichkeit sinnbildlich zu verstehen. Wie in 1/84 ausgeführt, kann der "Mond" bei Nostradamus wohl auch für das zweite apokalyptische Tier stehen, der Quatrain dürfte also zur biblischen Endzeit gehören.
Das zweite Tier, das über Satans große Macht verfügen wird, wird für das erste Tier ein wundersames Standbild errichten lassen (vgl. 10/71). Wo dies geschehen wird, ist nicht ersichtlich. Es wäre aber gut denkbar, dass der "Mond" deswegen auf dem "hohen Berg" ist, um dieses Götzenbild dort aufstellen zu lassen. In diesem Fall kommt für den "hohen" oder eher "erhabenen Berg" aber nur ein Ort in Betracht: der Tempelberg in Jerusalem. Auf Hebräisch heißt der Tempelberg "Har Ha-Bayit", der Berg des Hauses (Gottes). Es ist der Ort des alten jüdischen Tempels. Es gibt kaum einen geeigneteren Platz auf dieser Welt, wo Satan bzw. sein Gefolge das Symbol des anmaßenden Bestrebens, Gott gleich sein zu wollen, errichten könnte. Dazu würden auch die zu 10/71 zitierten Stellen aus der Bibel passen:
Daniel 9,27: "[...] Oben auf dem Heiligtum wird ein unheilvoller Gräuel stehen, bis das Verderben, das beschlossen ist, über den Verwüster kommt."
Daniel 11,31: "Er stellt Streitkräfte auf, die das Heiligtum auf der Burg entweihen, das tägliche Opfer abschaffen und den unheilvollen Gräuel aufstellen."
Daniel 12,11: "Von der Zeit an, in der man das tägliche Opfer abschafft und den unheilvollen Gräuel aufstellt, sind es zwölfhundertneunzig Tage."
Matthäus 24,15: "Wenn ihr dann am heiligen Ort den unheilvollen Gräuel stehen seht, der durch den Propheten Daniel vorhergesagt worden ist - der Leser begreife -, dann sollen die Bewohner von Judäa in die Berge fliehen; [...]"
Dass der satanische "Mond" sich "mitten in der Nacht" auf dem Tempelberg aufhalten wird, ist wohl ebenfalls sinnbildlich zu verstehen. Damit dürfte der Höhepunkt der Not, der dunklen (schlimmen) Zeit gemeint sein, in der Satan durch die beiden Tiere - besonders durch das zweite - die Welt beherrscht.
In der zweiten Zeile von 4/31 wird ein "neuer Weiser" mit einem "einsamen Verstand" erwähnt, der den "Mond" - das zweite apokalyptische Tier - "sehen" wird.
Wie in Anmerkung 3 ausgeführt, dürfte dieser "neue Weise" aber eher eine zwiespältige Gestalt sein, wahrscheinlich ein neuer Sophist, ein Irrlehrer. Doch wieso fügt Nostradamus hier das Attribut "neu" ein? Anders gefragt: wer ist denn der alte? Unser Seher könnte z. B. an Protagoras (485-415 v. Chr.), den bedeutendsten sophistischen Philosophen gedacht haben. Von Protagoras stammt der Homo-Mensura-Satz: "Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, dass sie sind, und der Nichtseienden, dass sie nicht sind." Aus dem Zusammenhang gerissen lässt sich dieser Satz dahingehend (miss-) verstehen, dass nicht mehr Gott sondern das Geschöpf - hier: der Mensch - im Mittelpunkt des Universums steht. Ein Ansatz, der gut zu den Zielen des Satanismus passt.
Dieser Irrlehrer wird einen "einsamen Verstand" besitzen. Das kann so verstanden werden, dass er über "einsame" (="außerordentliche") intellektuelle Fähigkeiten verfügen wird. Oder dieses "einsam" meint "alleinstehend, zölibatär" (vgl. Anmerkung 4). Dann wäre die Stelle so zu verstehen, dass es sich um einen Priester oder Ordensmann handelt. Gemäß 2/28 wird der vorletzte Papst den Donnerstag zum Wochenfeiertag erheben. Ein Papst, der wahrscheinlich mit dem faschen Propheten der Apokalypse identisch ist. Meines Erachtens ist der Irrlehrer aus 4/31, der einen "einsamen Verstand" besitzt - also zölibatar lebt und denkt - mit dem erwähnten vorletzten Papst gleichzusetzen. Zu dieser Annahme passen würde die Aussage in 4/31, dass der Irrlehrer "ihn" (den "Mond") sehen - erkennen oder vorhersehen - wird.
Der Umstand, dass Nostradamus explizit erwähnt, dass der Irrlehrer das zweite apokalyptische Tier "sehen" wird, könnte auch als Hinweis auf die Natur dieses Wesens verstanden werden. Das zweite Tier könnte ein übernatürliches Wesen, ein Dämon sein, der nur dann für jemanden sichtbar ist, wenn er dies wünscht. Wäre dem so, könnte das eine weitere Erklärung dafür liefern, weshalb unser Seher diesem apokalyptischen Wesen den Mond als Symbol zugeordnet hat. Ein Merkmal des Mondes ist schließlich, dass er andauernd den Grad seiner Sichtbarkeit ändert (Vollmond, Mondsichel, Neumond).
Die beiden letzten Zeilen lassen sich unterschiedlich verstehen. Falls "estre immortel" das Subjekt ist, hätten wir ein "unsterbliches Wesen" vor uns, dass durch seine Anhänger jemanden zu etwas einlädt oder zwingt. In diesem Fall wäre damit wohl der "Mond" gemeint, der wie oben ausgeführt ein Dämon, also ein unsterbliches Wesen, sein könnte.
Die andere Möglichkeit wäre, dass der Irrlehrer der zweiten Zeile, der vorletzte Papst, durch seine Anhänger die Menschen zu etwas einlädt oder zwingt. Und zwar dazu, "unsterblich zu sein bzw. zu werden" (estre immortel). Da der Irrlehrer aber ein Gefolgsmann des "Mondes" ist, dürfte ersterer ohnehin nur das tun, was dem zweiten apokalyptischen Tier gefällt, womit die Frage nach dem Subjekt in den letzten beiden Zeilen an Bedeutung verliert.
Doch wozu führt die "Einladung" konkret, die die Anhänger des "Mondes" oder des Irrlehrers ausprechen? In der vierten Zeile ist von nach Süden gerichteten Augen die Rede, von Händen, die sich auf der Brust befinden und Körpern, die im Feuer sind.
Hier könnte gemeint sein, dass die Menschen dazu verführt oder gezwungen werden, das Standbild des ersten Tieres anzubeten, dass sich auf dem Tempelberg befindet. Blickt man von Frankreich aus nach Jerusalem, blickt man in südliche Richtung. Die Hände auf der Brust könnten eine Gebetshaltung beschreiben, bei der die Arme gekreuzt werden. Die Körper im Feuer sind vielleicht Menschenopfer, die dem ersten Tier dargebracht werden.
10/71
La terre & l’air gelleront si grand eau,
Lors qu’on viendra pour ieudi venerer1),
Ce qui sera iamais ne feut si beau,
Des quatre pars3) le viendront honorer.
1) Oder: "verehren, huldigen" usw. Alternativ könnte die Stelle mit "[den] Donnerstag zu heiligen" übertragen werden. Da es hier aber offensichtlich darum geht, dass ein neuer religiöser Wochenfeiertag eingeführt wird und man an einem solchen nicht den Tag an sich sondern die dahinter stehende Gottheit oder Sache anbetet, wurde die oben stehende Übersetzung gewählt.
Die Erde und die Luft werden sehr viel Wasser gefrieren [lassen],
wenn man dazu übergehen wird, [es am] Donnerstag anzubeten1).
Das, was sein wird, - noch nie war [etwas2)] so schön -,
[zu] verehren, werden [sie] aus den vier Himmelsrichtungen3) kommen.
2) Oder: "es".
3) Eigentlich: "vier Richtungen".
In einem Winter, wenn man beginnt, den Antichristen jeweils am Donnerstag anzubeten, werden die Menschen aus der ganzen Welt zusammenströmen, um sein Standbild zu verehren.
Gemäß Zeile zwei wird man den Donnerstag zu einem religiösen Wochenfeiertag machen, an dem etwas oder jemand angebetet werden wird, vgl. Anmerkung 1. Das ordnet den Vierzeiler 2/28 zu, der seinerseits zur Apokalypse gehören dürfte.
In der ersten Zeile ist zu lesen, dass zu jener Zeit "Erde und Luft" sehr viel Wasser werden gefrieren lassen. Das ist wohl so zu verstehen, dass dies in einem Winter geschehen wird, also in der Zeit des Steinbocks, des Wassermanns und der Fische. Der Steinbock ist dabei ein Erdzeichen, der Wassermann ein Luftzeichen und die Fische gehören zum Wassertrigon. Möglicherweise wird es sich um einen sehr strengen Winter handeln, da "sehr viel" Wasser gefriert.
Der dritten und vierten Zeile ist zu entnehmen, dass etwas oder jemand noch nie so schön war wie zu diesem Zeitpunkt, so dass man aus allen vier Himmelsrichtungen (d. h. aus der ganzen Welt) zusammenkommen wird, um es oder ihn zu verehren. Da 10/71 wohl zur Apokalypse gehören dürfte, sind die biblischen Bezugsstellen einfach zu finden. In der Offenbarung des Johannes lesen wir:
"Einer seiner Köpfe sah aus wie tödlich verwundet; aber die tödliche Wunde wurde geheilt. Und die ganze Erde sah dem [ersten] Tier staunend nach. Die Menschen warfen sich vor dem Drachen [Satan] nieder, weil er seine Macht dem [ersten] Tier gegeben hatte; und sie beteten das [erste] Tier an und sagten: Wer ist dem [ersten] Tier gleich, und wer kann den Kampf mit ihm aufnehmen?" (Offb 13,3f.).
Es scheint, dass diese wunderbare Heilung das erste apokalyptische Tier, den Antichristen, schöner als je zuvor wird erscheinen lassen. Zur Verwundung vgl. 1/84.
Oder Nostradamus meint in 10/71 nicht das erste Tier selbst sondern vielmehr dessen außergewöhnliches Standbild, das in der Offenbarung des Johannes ebenfalls beschrieben wird:
"[Das zweite Tier] befahl den Bewohnern der Erde, ein Standbild zu errichten zu Ehren des [ersten] Tieres, das mit dem Schwert erschlagen worden war und doch wieder zum Leben kam. Es wurde ihm Macht gegeben, dem Standbild des Tieres Lebensgeist zu verleihen, sodass es auch sprechen konnte und bewirkte, dass alle getötet wurden, die das Standbild des Tieres nicht anbeteten" (Offb 13,14f.).
Wo sich dieses Standbild befinden wird, ist hier nicht ersichtlich. Vermutlich aber in Jerusalem auf dem Tempelberg, dem Ort der Gottesverehrung schlechthin, siehe auch 4/31. Vgl. dazu ebenfalls:
Daniel 9,27: "[...] Oben auf dem Heiligtum wird ein unheilvoller Gräuel stehen, bis das Verderben, das beschlossen ist, über den Verwüster kommt."
Daniel 11,31: "Er stellt Streitkräfte auf, die das Heiligtum auf der Burg entweihen, das tägliche Opfer abschaffen und den unheilvollen Gräuel aufstellen."
Daniel 12,11: "Von der Zeit an, in der man das tägliche Opfer abschafft und den unheilvollen Gräuel aufstellt, sind es zwölfhundertneunzig Tage."
Matthäus 24,15: "Wenn ihr dann am heiligen Ort den unheilvollen Gräuel stehen seht, der durch den Propheten Daniel vorhergesagt worden ist - der Leser begreife -, dann sollen die Bewohner von Judäa in die Berge fliehen; [...]"
5/31
Par terre Attique1) chef de la sapience2),
Qui de present est la rose3) du monde:
Pont ruiné4) & sa grand preeminence,
Sera subdite5) & naufragé6) des vndes.
1) Attika ist die Landschaft, in der Athen liegt. In den beiden Ausgaben von 1557 steht hier "Attique". Denkbar wäre aber auch, dass es hier "Antique" (antik, alt) heißen sollte.
Aus attischem1) Land [stammt das] Haupt der Weisheit2),
das gegenwärtig die Rose3) der Welt ist.
[Die] Brücke [wird] zerstört4) und ihre große Vormachtstellung
unterworfen5) [werden. Die Brücke wird] in den Wellen versinken6).
2) Vgl. auch lat. "sapientia" (u. a. Weisheit, Einsicht, wahres Wissen). Die Weisheit ist die erste der sieben Gaben des Heiligen Geistes (Weisheit, Verstand, Rat, Stärke, Wissenschaft, Frömmigkeit, Gottesfurcht). Mit dem "Haupt der Weisheit" ist wahrscheinlich ein Papst gemeint, vgl. PRÉVOST, 205f., und CLÉBERT, S. 604. Das passt insofern, als dass schon in der Bibel Christus als "Weisheit Gottes" bezeichnet wird (1. Korinther 1,24) und Christi mystischer Leib auf Erden die Kirche ist, deren irdisches Haupt eben der Papst ist.
3) Das mittelfranzösische "rose" bedeutet u. a. "Zierde". In der christlichen Symbolik stehen rote Rosen für das Blut Christi und der Märtyrer. Im Mittelalter wurde die Rose auch als Sinnbild für Maria verwendet.
4) Vgl. 3/81/4.
5) Lat. "subditus" (u. a. unterworfen).
6) In den beiden Ausgaben von 1557 steht hier "naufragé", in späteren auch "naufrage".
Wenn die Kirche zur Hure Babylon wird, stirbt ein christustreuer Papst aus Attika den Märtyrertod. Das Schicksal der Hure Babylon ist allerdings bereits besiegelt. Sie wird zerstört werden.
In der dritten und vierten Zeile ist wie in 3/81/4 von einer "zerstörten Brücke" die Rede. Dass dabei nicht (nur) von einem gewöhnlichen Bauwerk gesprochen wird, wird klar, da Nostradamus ihre "unterworfene große Vormachtstellung" erwähnt. Interessant ist auch, dass unser Seher sie wie ein Boot in den Wellen versinken oder Schiffbruch erleiden lässt ("naufragé"). Wie in 3/81/4 zu sehen ist, ist damit die Kirche bzw. Kirchenorganisation gemeint, die sich in der biblischen Endzeit in die Hure Babylon verwandelt. Diese wird vom ersten Tier der Apokalypse vernichtet werden, vgl. 6/19.
Unklar ist, weshalb Nostradamus hier die Kirche mit einer Brücke vergleicht, die in den Wellen versinkt. Sollte zu dieser Zeit Rom vielleicht gleichzeitig von Überschwemmungen heimgesucht werden, denen u. a. auch Brücken zum Opfer fallen werden? Vielleicht, denn gemäß 1/11/3 wird man in der Endzeit in Italien auch mit Wassermassen zu kämpfen haben.
Die Hure Babylon, die von Christus abgefallene "Kirche", wird dem Antichristen und seinen Scharen zum Opfer fallen. Wie wir aber aus der Heiligen Schrift wissen, wird die Kirche Christi nie von den Mächten der Unterwelt überwältigt werden (Matthäus 16,18). Somit muss die eigentliche Kirche bis zur Wiederkehr Christi stets weiterexistieren, wenn auch vielleicht im Verborgenen (vgl. 5/96/3).
Das gilt auch gerade für die Zeit der babylonischen Episode, wenn die "Kirche" bzw. die Kirchenorganisation von Christus abgefallen sein und somit von den Mächten der Unterwelt beherrscht werden wird. 5/31, 5/96 und 2/97 dürften nun in die Zeit der Hure Babylon gehören.
Die ersten beiden Zeilen von 5/31 berichten von einem Papst ("Haupt der Weisheit", vgl. Anmerkung 2), der anscheinend eine Grieche aus Attika sein wird. Nostradamus bezeichnet ihn in der zweiten Zeile als "Rose der Welt". Als Stellvertreter Christi auf Erden ist er für die Welt gewiss eine Zierde, vgl. Anmerkung 3, besonders wenn es sich um einen außerordentlich guten Papst handelt. Da in der christlichen Symbolik die rote Rose aber auch für das Blut der Märtyrer steht, könnte hier gemeint sein, dass dieser Pontifex zum Blutzeugen des Glaubens wird. Bei diesem Papst handelt es sich vielleicht um das letzte offizielle Kirchenoberhaupt, das noch zu Christus stehen und deshalb bei der Errichtung der Hure Babylon den Märtyrertod sterben wird.
5/96
Sur le milieu du grand monde1) la rose2),
Pour nouueaux faicts3) sang public4) espandu:
A dire vray on aura bouche close,
Lors au besoing viendra tard l’attendu.
1) Ähnlich wie in 10/49/1 (5.34) hat Nostradamus wohl auch hier an das lat. "mundus" und an das sich dabei anbietende Wortspiel gedacht. Versteht man "monde" bzw. "mundus" als "Welt" wäre hier vom griechischen Delphi die Rede, wo sich der Omphalos ("Nabel") befand, der in der Antike als Mittelpunkt der Welt galt. In Rom stand auf dem Forum Romanum der Tempel Umbilicus Urbis ("Nabel der Stadt"), der der Mittelpunkt der Stadt und des Römischen Reiches war. Der Umbilicus Urbis befand sich am Ort des Mundus, einer Opfergrube, die als Eingang zur Unterwelt galt. Wegen der augenzwinkernden sprachlichen Übereinstimmung mit 5/31/2 ("la rose du monde") dürfte hier wahrscheinlich von der römischen Variante die Rede sein.
Bei der Mitte des großen Mundus1) [wird] die Rose2) [stehen].
Wegen neuer Verbrechen3) [wird] bekanntes Blut4) vergossen [werden].
Um [das] Wahre zu sagen, wird man [den] Mund geschlossen halten,
wenn dann in der Not der Ersehnte spät kommen wird.
2) Das mittelfranzösische "rose" bedeutet u. a. "Zierde". In der christlichen Symbolik stehen rote Rosen für das Blut Christi und der Märtyrer. Im Mittelalter wurde die Rose auch als Sinnbild für Maria verwendet.
3) Oder einfach: "Taten" (im weitesten Sinne).
4) Das mittelfranzösische "public" bedeutet u. a. "die Allgemeinheit betreffend, öffentlich, publik", daneben aber auch "bekannt, ruchbar". Hier scheint somit "bekanntes Blut" vergossen, also eine oder mehrere bekannte Persönlichkeiten getötet zu werden. CLÉBERT, S. 672, sieht hier das "Blut des Volkes" gemeint, vgl. lat. "publicus". Als Alternative ließe sich "public" adverbial verstehen ("publiquement", "en public"), womit die Zeile so zu übersetzen wäre: "Wegen neuer Verbrechen [wird] Blut öffentlich vergossen [werden]."
Der Papst attischen Ursprungs stirbt den Märtyrertod, und die Kirche muss in den Untergrund gehen.
In der ersten Zeile ist wahrscheinlich wieder von der "Rose der Welt" die Rede, die wir bereits in 5/31/2 kennen gelernt haben, vgl. Anmerkung 1 ("du grand monde la rose" - "la rose du monde"). Somit geht es hier um den griechischen Papst aus Attika. Er steht bei der Mitte des Mundus in Rom, d. h. am Eingang der Unterwelt und somit am Rande des Todes.
Der zweiten Zeile entnehmen wir, dass neue Verbrechen oder Taten begangen werden, wegen derer wahrscheinlich "bekanntes Blut" vergossen wird (vgl. Anmerkung 4). Da es sich bei einem Papst um eine bekannte Persönlichkeit handelt, liegt es nahe, hier sein Blut zu sehen. Er dürfte den Märtyrertod sterben (vgl. die Rosensymbolik, Anmerkung 2).
Zeile drei spricht davon, dass man den Mund geschlossen halten wird, um das Wahre zu sagen. Anders formuliert: Man kann die Wahrheit nicht offen verkünden sondern muss dazu andere Wege beschreiten. Das bedeutet, die Verkünder der Wahrheit dürften sich in einer prekären Situation befinden und werden wahrscheinlich unterdrückt. Doch wer ist damit konkret gemeint? Da der ersten Hälfte der Strophe wohl zu entnehmen ist, dass der Papst den Märtyrertod stirbt, dürften mit den Verkündern der Wahrheit dessen Anhänger, die papst- und christustreuen Katholiken gemeint sein. Mit der Wahrheit wäre somit die Lehre der Kirche gemeint, deren Haupt der Pontifex Maximus ist.
Die christustreue Kirche wird also wohl in den Untergrund gehen müssen, spätestens nachdem sie ihr Oberhaupt verloren hat. Doch definitiv untergehen wird sie nicht (vgl. Matthäus 16,18). Auch in dieser Zeit der Not wird der Retter ("der Ersehnte") kommen, allerdings erst spät. Zunächst wird die Hure Babylon herrschen und anschließend der Antichrist. Christus ("der Ersehnte") kommt erst danach und befreit seine Kirche von der erzwungenen Existenz im Untergrund.
2/97
Romain Pontife1) garde de t‘approcher
De la cité qui deux fleuues arrouse2),
Ton sang viendras au pres de la cracher,
Toy & les tiens3) quandfleurira la rose4).
1) Der Pontifex war im alten Rom der Oberpriester. Später wurde der Papst so bezeichnet.
Römischer Pontifex1), hüte [dich] davor, dich [der Stadt] zu nähern,
die zwei Flüsse schmückt2).
[Du] wirst dort in die Nähe kommen, um dein Blut auszuspeien.
Du und die Deinen3), wenn die Rose4) blühen wird.
2) Das mittelfranzösische "arro(u)ser" bedeutet u. a. "benetzen, nass machen; durchfließen; reich schmücken". Nostradamus verwendet hier das Verb in der dritten Person Einzahl, womit die Stadt ("cité") zum Subjekt wird. Da aber eine Stadt nichts etwa durchfließen kann, ist die Zeile am sinnvollsten mit "die zwei Flüsse schmückt" zu übertragen. Sollten die beiden Flüsse das Subjekt sein, wäre "arrouse" als "arrousent" zu verstehen, das gleich ausgesprochen wird (also: "[die Stadt,] die zwei Flüsse durchfließen"). Sinngemäß ist hier von einer wohl bedeutenden Stadt die Rede, die an zwei Flüssen liegt, für diese also eine Zierde ist. Eine andere Deutungsmöglichkeit wäre, die beiden Flüsse als Umschreibung für eine ganze Region zu begreifen. In diesem Fall böte sich Mesopotamien ("das Land zwischen den Flüssen") an, dessen "Zierde" bzw. wichtigste Stadt Babylon war. Da in 2/97 von einem römischen Pontifex die Rede ist, gilt es an dieser Stelle noch anzumerken, dass "Babylon" im Neuen Testament als Chiffre für Rom verwendet wird, vgl. die Offenbarung des Johannes 17,5.9.18 sowie auch 1. Petrus 5,13.
3) Hier sind Familienangehörige oder Gefolgsleute gemeint. Mit der "Familia Pontificia" (päpstliche Familie) wäre der Hofstaat des Pontifex gemeint.
4) Das mittelfranzösische "rose" bedeutet u. a. "Zierde". In der christlichen Symbolik stehen rote Rosen für das Blut Christi und der Märtyrer. Im Mittelalter wurde die Rose auch als Sinnbild für Maria verwendet.
Der römische Papst und sein Gefolge werden in der Nähe einer Stadt (dem "babylonischen" Rom?) getötet, wenn die Kirche noch unter dem Eindruck des Martyriums seines griechischen Vorgängers steht.
Strophe 2/97 scheint auf den ersten Blick am 29. August 1799 in Erfüllung gegangen zu sein:
Auf Napoleons Italienfeldzug wurde 1798 Papst Pius VI. (1775 - 1799) von den Franzosen gefangen genommen. Das bereits schwerkranke Kirchenoberhaupt wurde anschließend nach Valence verschleppt (Juli 1799), wo es später 82jährig vor Erschöpfung starb.
Pius VI. wurde 1717 im norditalienischen Cesena geboren. Er war somit kein geborener Römer ("römischer Pontifex", erste Zeile), allerdings gehörte seine Geburtsstadt zum Kirchenstaat. Als Papst beherrschte Pius VI. später diesen Kirchenstaat jedoch von der Tiberstadt aus.
Nur wenige Kilometer nördlich von Valence, wo Pius VI. am 29. August 1799 starb, mündet die Isère in die Rhone, an der die Stadt liegt. Valence kann also mit einem kleinen Zugeständnis tatsächlich als von zwei Flüssen durchflossen bezeichnet werden.
Pius VI. starb in Valence, nicht "in der Nähe" der Rhonestadt (dritte Zeile), doch dies könnte man Nostradamus vielleicht noch durchgehen lassen. Schwieriger wird schon die Erklärung für das "Ausspeien des Blutes", das dem Pontifex und "den Seinen" (vierte Zeile, vgl. Anmerkung 3) prophezeit wird. Der Papst starb weder durch Gewalteinwirkung noch an einem Blutsturz sondern an Erschöpfung. V. a. aber starb er allein, seine Entourage jedoch nicht. Von eher geringem Gewicht erscheint dagegen das Argument, dass die Rosen tatsächlich (auch) im August blühen.
Die "Rose" taucht bei Nostradamus auch an anderen Stellen auf, ebenfalls in Zusammenhang mit einem Papst (vgl. 5/31 u. 5/96). Und zwar mit einem Papst, der den Märtyrertod stirbt (5/96). Allerdings scheint es sich dabei um einen Griechen zu handeln, nicht um einen Römer, der wahrscheinlich jedoch in Rom stirbt.
In 2/97 ist von einem römischen Papst die Rede, der in der Nähe einer Stadt sterben wird, die an zwei Flüssen oder in einem entsprechenden Gebiet liegt. Als neutestamentliches Babylon könnte hier Rom gemeint sein, vgl. Anmerkung 2, was gut in den apokalyptischen Kontext des "Rosen"-Themas passen würde.
Leider erfahren wir nichts Genaueres über diesen "römischen Papst". Ist es der Nachfolger des Griechen als Oberhaupt der Untergrundkirche? Einer Kirche, die noch unter dem Eindruck des blutigen Glaubenszeugnisses des Attika-Papstes steht (der "blühenden Rose")? Oder handelt es sich vielmehr um das Oberhaupt der Hure Babylon, das dem Angriff des ersten apokalyptischen Tieres zum Opfer fallen wird?
3/81
Le grand criard1) sans honte audacieux,
Sera esleu gouuerneur2) de l’armée3):
La hardiesse4) de son5) contentieux6),
Le pont rompu7), cité de peur pasmée:
1) Oder: "Großmaul".
Der große schamlose [und] verwegene Schreihals1)
wird [zum] Befehlshaber2) der Armee3) gewählt werden.
[Durch] die Dreistigkeit4) ihres5) Streitsüchtigen6)
[wird] die Brücke zerstört7) [und die] Stadt vor Angst ohnmächtig.
2) Oder auch: "Oberkommandierenden".
3) Oder auch: "Feldzug".
4) Oder auch: "Kühnheit, Wagemut".
5) "Ihres" , d. h. wohl der Armee.
6) Vgl. auch lat. "contentiosus" (streitsüchtig, polemisch; hartnäckig).
7) Vgl. 5/31/3.
Das erste Tier der Apokalypse (der Antichrist) wird zum Anführer einer Armee gewählt. Durch seine Dreistigkeit wird die zur Hure Babylon mutierte Kirche zerstört und Rom in Angst und Schrecken versetzt werden.
In den ersten beiden Zeilen ist von einem "schamlosen und verwegenen Schreihals" bzw. "Großmaul" die Rede, der zum Befehlshaber einer Armee gewählt werden wird. Das ist eine Parallele zur biblischen Apokalypse, zur Beschreibung des ersten Tieres mit dem anmaßenden Maul (siehe unten).
Zeile drei berichtet von einem dreisten Streitsüchtigen, der mit dem schamlosen Schreihals der ersten Zeile identisch sein dürfte (vgl. Anmerkung 5). Auch dazu passt die biblische Beschreibung des ersten apokalyptischen Tieres, das u. a. drei Könige stürzt und Macht über alle Stämme, Völker, Sprachen und Nationen erringen (erhalten) wird.
Über das erste apokalyptische Tier lesen wir bei Johannes:
"Und es [das erste Tier] wurde ermächtigt, mit seinem Maul anmaßende Worte und Lästerungen auszusprechen; es wurde ihm Macht gegeben, dies zweiundvierzig Monate zu tun. Das Tier öffnete sein Maul, um Gott und seinen Namen zu lästern, seine Wohnung und alle, die im Himmel wohnen. Und es wurde ihm erlaubt, mit den Heiligen zu kämpfen und sie zu besiegen. Es wurde ihm auch Macht gegeben über alle Stämme, Völker, Sprachen und Nationen." (Offb 13,5-7).
Bei Daniel lesen wir über das vierte Tier, das dem ersten des Johannes entspricht:
"Danach sah ich in meinen nächtlichen Visionen ein viertes Tier; es war furchtbar und schrecklich anzusehen und sehr stark; es hatte große Zähne aus Eisen. Es fraß und zermalmte alles, und was übrig blieb, zertrat es mit den Füßen. Von den anderen Tieren war es völlig verschieden. Auch hatte es zehn Hörner. Als ich die Hörner betrachtete, da wuchs zwischen ihnen ein anderes, kleineres Horn empor und vor ihm wurden drei von den früheren Hörnern ausgerissen; und an diesem Horn waren Augen wie Menschenaugen und ein Maul, das anmaßend redete" (Daniel 7,7f.).
und:
"[...] Das vierte Tier bedeutet: Ein viertes Reich wird sich auf der Erde erheben, ganz anders als alle anderen Reiche. Es wird die ganze Erde verschlingen, sie zertreten und zermalmen. Die zehn Hörner bedeuten: In jenem Reich werden zehn Könige regieren; doch nach ihnen kommt ein anderer. Dieser ist ganz anders als die früheren. Er stürzt drei Könige, er lästert über den Höchsten und unterdrückt die Heiligen des Höchsten. Die Festzeiten und das Gesetz will er ändern. Ihm werden die Heiligen für eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit ausgeliefert" (Daniel 7,23-25).
In der vierten Zeile erfahren wir, dass eine "Brücke" zerstört und eine Stadt vor Angst ohnmächtig werden wird. Die "zerstörte Brücke" ist eine Parallele zu 5/31/3, wo ebenfalls von einer "zerstörten Brücke" die Rede ist, die eine große Vormachtstellung besitzen wird. Falls hier von derselben "Brücke" die Rede sein sollte, wird klar, dass mit ihr kein gewöhnliches Bauwerk gemeint sein dürfte.
In 5/31 ist wahrscheinlich von einem Papst bzw. dem Papsttum die Rede, was uns wohl die Richtung anzeigt, in der wir nach der Bedeutung dieser "Brücke" suchen müssen. "Pontifex Maximus" (der oberste Brückenbauer) ist eine der Bezeichnungen, die das Kirchenoberhaupt trägt. Der Papst besitzt also einen Titel, der einst einem heidnischen Funktionsträger gehört hat, der für den Bau bzw. den Erhalt von Brücken zuständig war. Somit ist der Analogieschluss zulässig, dass mit der erwähnten "Brücke" die Kirche oder die Institution des Papstamtes gemeint ist. Bei der in der vierten Zeile erwähnten Stadt ist in diesem Zusammenhang wohl an Rom zu denken.
An dieser Stelle sei aber daran erinnert, dass es sich bei dieser "Kirche" nicht mehr um die Kirche Christi sondern um die zur Hure Babylon mutierte Kirchenorganisation handelt. Diese "Kirche" wird es sein, die der Antichrist gemäß 6/19 zerstören wird.
10/98
La splendeur claire à pucelle ioyeuse
Ne luira plus, long temps sera sans sel:
Auec marchans1), ruffiens2) loups3) odieuse4),
Tous pesle mesle monstre vniuersel5).
1) Im Mittelfranzösischen kann "marchand" (Händler, Kaufmann) auch abwertend gemeint sein und "Dieb" bedeuten.
Der helle Glanz der freudvollen Jungfrau
wird nicht mehr strahlen, [und während] langer Zeit wird [sie] ohne Salz sein.
Mit Händlern1), Unzüchtigen2) [und] Wölfen3) [ist die] Verabscheuungswürdige4)
[zusammen].
Alles [ist ein] Durcheinander [um das] Weltwunder5).
2) Oder u. a.: "Wüstlingen, Ehebrechern".
3) Im Mittelfranzösischen bezeichnet "Wolf" im übertragenen Sinne auch einen grausamen Menschen.
4) Falls es hier "loups odieux" heißen sollte, wäre von "verabscheuungswürdigen Wölfen" die Rede. Was allerdings gegen diese Annahme spricht, ist der fehlende Reim ("ioyeuse" - "odieux").
5) Etwas frei nach lat. "monstrum universalis" (allgemeines Wunderzeichen).
Die Hure Babylon und das wundersame Standbild des Antichristen.
In den ersten beiden Zeilen ist von einer "freudvollen Jungfrau" die Rede, deren heller Glanz nicht mehr strahlen und die lange Zeit ohne "Salz" sein wird. Zeile drei hingegen berichtet von einer verabscheuungswürdigen weiblichen Person, die mit Händlern, Unzüchtigen und "Wölfen" zusammen ist. In der letzten Zeile erfahren wir schließlich, dass es ein Weltwunder oder ein Wunderzeichen geben wird (vgl. Anmerkung 5), das ein heilloses Durcheinander mit sich bringt.
Die "freudvolle Jungfrau", deren heller Glanz nicht mehr strahlen und die lange Zeit ohne "Salz" sein wird, ist sicher sinnbildlich zu verstehen. Hier könnte sich Nostradamus auf das "Stabat Mater speciosa", eine Hymne aus dem 13. Jahrhundert, bezogen haben. Dort heißt es u. a.:
Stabat Mater speciosa
iuxta faenum gaudiosa
dum iacebat parvulus
Cuius animam gaudentem
laetabundam et ferventem
pertransivit iubilus.
[...]
Die schöne Mutter stand
voller Freude dicht bei der Krippe
wo das Kindlein lag,
sie, deren freudige,
freudvolle und glühende Seele
Frohlocken überströmte.
[...]
Mit der Mutter ist die Jungfrau Maria gemeint, das Kindlein ist der neugeborene Jesus. Bei Nostradamus steht die Gottesmutter Maria wohl für das Christentum (vgl. 5.31: 10/96). Vor diesem Hintergrund ist das "Salz" recht leicht zu deuten. Hier dürfte sich unser Seher auf eine Stelle im Matthäusevangelium beziehen, wo Jesus die Jünger als das "Salz der Erde" bezeichnet (Mt 5,13). In 10/98 sind damit wohl einfach die Christen gemeint. Und diese fehlen hier dem Christentum, womit dieses seinen "Glanz" verliert.
Interessant ist, dass die "freudvolle Jungfrau" mit dem Fehlen der Christen nicht verschwindet sondern lediglich den erwähnten "Glanz" einbüßt. Das ließe sich so verstehen, dass diese "freudvolle Jungfrau" in einer weniger schönen Form weiter existieren wird.
Als Kontrapunkt zur "freudvollen Jungfrau" taucht in der dritten Zeile eine verabscheuungswürdige (Frau) auf. Meines Erachtens ist es denkbar, dass beide Frauenfiguren, so unterschiedlich sie auch sein mögen, ein- und dasselbe bezeichnen: das Christentum bzw. dessen Organisation, die Kirche. Diese wird, solange es in ihr noch Christen gibt, mit der Jungfrau Maria verglichen. Verliert sie ihren "Glanz" (gehen ihr die Christen abhanden) existiert sie zwar als Körperschaft weiter, aber in einer Form, die Nostradamus mit einer verabscheuungswürdigen Frau vergleicht. Eine Frau, die sich - gleich und gleich gesellt sich gern - in übler Gesellschaft befindet. In der von "Händlern", Unzüchtigen und "Wölfen" (vgl. Anmerkungen 1 und 3).
In Zeile vier ist von einem Weltwunder, einem Wunderzeichen die Rede, das offensichtlich ein großes Durcheinander verursacht. Es muss die Menschen somit wohl tief beeindrucken. Das ist eine Parallele zu 10/71, wo die Menschen aus der ganzen Welt zusammenströmen, um das Standbild des ersten apokalyptischen Tieres, des Antichristen anzubeten. In der Offenbarung des Johannes lesen wir über dieses wunderbare Standbild:
"[Das zweite Tier] befahl den Bewohnern der Erde, ein Standbild zu errichten zu Ehren des [ersten] Tieres, das mit dem Schwert erschlagen worden war und doch wieder zum Leben kam. Es wurde ihm Macht gegeben, dem Standbild des Tieres Lebensgeist zu verleihen, sodass es auch sprechen konnte und bewirkte, dass alle getötet wurden, die das Standbild des Tieres nicht anbeteten" (Offb 13,14f.).
Das Weltwunder in 10/98 wird also wohl darin bestehen, dass ein von Menschen gefertigtes Standbild von Satan lebendig gemacht wird. Der Teufel ahmt hier Gott nach, der einst dem Menschen Leben eingehaucht hat (vgl. Genesis 2,7).
Wenn 10/98 aber zur Apokalypse gehört, dürfte die verabscheuungswürdige Frau aus der dritten Zeile leicht zu ermitteln sein. In der Offenbarung des Johannes lesen wir zu dieser u. a.:
"Denn mit ihr haben die Könige der Erde Unzucht getrieben und vom Wein ihrer Hurerei wurden die Bewohner der Erde betrunken." (Offb 17,2),
"[...] vom Zornwein ihrer Unzucht haben alle Völker getrunken und die Könige der Erde haben mit ihr Unzucht getrieben. Durch die Fülle ihres Wohlstands sind die Kaufleute der Erde reich geworden." (Offb 18,3),
"[...] ihre Sünden haben sich bis zum Himmel aufgetürmt [...]" (Offb 18,5).
Beim Untergang dieser Frauengestalt erfahren wir Weiteres über ihre Natur:
"Die Könige der Erde, die mit ihr gehurt und in Luxus gelebt haben, werden über sie weinen und klagen, wenn sie den Rauch der brennenden Stadt sehen. [...] Auch die Kaufleute der Erde weinen und klagen um sie, weil niemand mehr ihre Ware kauft." (Offb 18,9-11),
"Die Kaufleute, die durch den Handel mit dieser Stadt reich geworden sind, werden aus Angst vor ihrer Qual in der Ferne stehen und sie werden weinen und klagen" (Offb 18,15),
"[...] Deine Kaufleute waren die Großen der Erde, deine Zauberei verführte alle Völker. Aber in ihr war das Blut von Propheten und Heiligen und von allen, die auf der Erde hingeschlachtet worden sind." (Offb 18,23f.)
"[...] [Gott] hat die große Hure gerichtet, die mit ihrer Unzucht die Erde verdorben hat. Er hat Rache genommen für das Blut seiner Knechte, das an ihren Händen klebte." (Offb 19,2).
Es handelt sich bei ihr um die "Hure Babylon":
"Auf ihrer Stirn stand ein Name, ein geheimnisvoller Name: Babylon, die Große, die Mutter der Huren und aller Abscheulichkeiten der Erde" (Offb 17,5).
Mit dieser Hure Babylon ist ganz offensichtlich Rom gemeint, da sie auf sieben Hügeln liegt (vgl. Offb 17,9).
Mit dieser Hure bzw. der verabscheuungswürdigen Frau des Nostradamus könnte die vom Christentum abgefallene Kirche gemeint sein.
1/11
Le mouuemêt1) de sens2), cueur3), pieds, & mains
Seront d’acord.4) Naples, Leon5), Secille,
Glaifues, feus, eaux: puis aux6) nobles7) Romaîs
Plongés, tués, mors par cerveau9) debile8).
1) "Bewegung" im weitesten Sinne. Auch: "Erschütterung; Leidenschaft, Erregung; politische Bewegung; Aufstand". Vgl. lat. "motus".
Die Bewegung[en]1) des Sinnes2), [des] Herzens3), [der] Füße und [der] Hände
werden zusammen auftreten.4) Neapel, Leon5) [und] Sizilien
[werden unter] Schwertern, Feuern [und] Wasser[massen zu leiden haben].
[Und] anschließend6) [auch die] edlen7) Römer,
[die] durch [einen] schwachen8) Verstand9) versenkt, getötet [und] ermordet [werden].
2) "Sinn" im weitesten Sinne. Auch: "Gefühl; Wahrnehmung; Verstand; Gedanke; Gesinnung". Vgl. lat. "sensus".
3) "Herz" im weitesten Sinne. Auch: "Gefühl, Gemüt; Seele" usw.
4) In den Ausgaben von 1555 und 1557 steht hier ein Punkt. Ohne Punkt wäre die Zeile anders zu übersetzen: "Einig sein werden Neapel, Leon [und] Sizilien".
5) Aufgrund des süditalienischen Kontextes vermute ich hier das antike Leon an der sizilianischen Ostküste nahe Syrakus (vgl. LIVIUS, Ab urbe condita, 24, 39). BRIND’AMOUR, S. 62f. sieht nach "Leon" einen Punkt statt ein Komma und vermutet hier eine Abkürzung für "Leontini", das heutige Lentini auf Sizilien, etwa 50 km nordwestlich von Syrakus. Daneben gäbe es u. a. noch das nordwestspanische León oder das bretonische Léon, die aber beide den geografischen Rahmen verlassen.
6) BRIND’AMOUR, S. 62f., korrigiert hier zu "aux puis" (in die Brunnen). In diesem Fall wären die beiden letzten Zeilen folgendermaßen zu verstehen: "In die Brunnen werden [die] edlen Römer geworfen [werden], getötet [und] ermordet von [einem] schwachen Verstand".
7) Oder: "adligen".
8) Mit Blick auf das lat. "debilis" wohl eher im Sinne von "krank, behindert" zu verstehen. Wir hätten dann wohl jemanden vor uns, den Nostradamus für verrückt hält.
9) Lat. "cerebrum" (Gehirn; Verstand; Hitzköpfigkeit).
Das Standbild des Antichristen wird zum Leben erweckt, der Krieg des falschen Propheten dehnt sich von Süditalien nach Rom aus.
In der vierten und fünften Zeile erfahren wir, dass ein "schwacher" oder "kranker Verstand" (vgl. Anmerkungen 10 und 11) die "edlen Römer" töten wird (zur Übersetzung vgl. Anmerkung 8). Der Schlüsselbegriff ist hier wohl der "schwache" oder "kranke Verstand" (cerveau debile). Das dürfte eine Parallele zu 2/28 sein, wo vom vorletzten Papst die Rede ist, der einen "wahnsinnigen Kopf" (frenetique teste) besitzen wird und mit dem falschen Propheten der Apokalypse identisch ist. Nostradamus bezeichnet diesen in 4/31 als "neuen Weisen mit einem einsamen Verstand (seul cerueau)", was wir wohl ebenfalls als Übereinstimmung werten können.
Laut Zeile vier wird der falsche Prophet der Endzeit also edle oder adlige Römer töten (vgl. Anmerkung 9). Doch zunächst werden "Bewegungen" des Sinnes, des Herzens (Einzahl!), der Füße und der Hände gleichzeitig einsetzen (erste Zeile). Damit könnte die Lebendigmachung des wundersamen Standbildes des Antichristen in Jerusalem gemeint sein, vgl. 10/98. Satan haucht über das zweite apokalyptische Tier dem Standbild Leben ein, so dass dessen Sinn (Verstand?) funktioniert, das Herz schlägt, und es auch seine Füße und Hände bewegen kann. Hier wäre somit der Beginn des Kultes um das erste Tier der Apokalypse beschrieben.
In der zweiten und dritten Zeile erfahren wir, dass Neapel und Sizilien einerseits unter Überflutungen (Wassermassen) aber auch unter Krieg (Schwerter, Feuer) zu leiden haben werden. Diese beiden Übel werden sich anschließend von Süditalien nach Rom hin ausbreiten. Wichtig ist hier v. a. der Krieg, der von Süden kommend die Ewige Stadt erreichen wird. Und in Zusammenhang mit diesem Krieg dürfte der falsche Prophet der Endzeit die oben erwähnten "edlen Römer" töten.
Mit den "edlen Römern" dürften römische Würdenträger gemeint sein, die sich der Herrschaft des Antichristen bzw. seines Propheten verweigern. Dabei kann es sich um weltliche Würdenträger handeln oder auch um religiöse. Sollten es religiöse sein, werden sie wohl zur Hure Babylon gehören, die vom Antichristen vernichtet wird (vgl. 6/19).
6/19
La vraye flamme1) engloutira la dame,
Que voudra mettre les Innocens à feu:
Pres de l’assaut l’exercite s’enflamme2),
Quant dans Seuille monstre3) en bœuf4) sera veu.
1) Neben verschiedenen Lichterscheinungen (Flamme, Feuer, Blitz, Licht usw.) bedeutet "flamma" im Lateinischen u. a. auch "der Verderber".
Die wahre Flamme1) wird die Dame verschlingen,
die die Unschuldigen ins Feuer wird werfen wollen.
Kurz vor dem Angriff fängt die Armee Feuer2),
wenn in Sevilla [das] Wunderzeichen3) im Rind4) gesehen werden wird.
2) Im übertragenen oder wortwörtlichen Sinn.
3) Lat. "monstrum" (Wahrzeichen, Wunderzeichen; Ungeheuer, Monster).
4) Damit ist das Sternzeichen Stier gemeint, d. h. nach mittelalterlicher Auffassung die Zeit vom 17. April bis 17. Mai.
Der Antichrist vernichtet die Hure Babylon, und in Sevilla wird in der Zeit des Stieres (April/Mai) ein Wunderzeichen gesehen.
In der ersten Zeile ist von einer "wahren Flamme" die Rede, die eine Dame verschlingen, d. h. wohl verbrennen, wird. Interessant ist dabei das Adjektiv "wahr". Ist hier vielleicht von einem großen Feuer die Rede, das eine Frau auf dem Scheiterhaufen verbrennt?
Über die Dame erfahren wir in der zweiten Zeile, dass sie zuvor anscheinend ihrerseits Unschuldige verbrennen wird wollen. Somit muss es sich bei der Dame entweder um eine Machthaberin oder um eine Institution handeln, die die Möglichkeit hat, andere zu vernichten. Und da es sich bei Letzteren um Unschuldige handelt, ist die Dame wohl als üble Person oder Kraft zu charakterisieren.
Mit Blick auf die mutmaßlich üble Natur der Dame könnte das der Flamme zugeordnete Adjektiv "wahr" auch einen gegenteiligen Charakterzug ausdrücken wollen und vielleicht als "wahrhaftig, aufrichtig" verstanden werden (vgl. lat. "verus").
Der Begriff "Flamme" taucht in den Zenturien nur selten auf. Wir finden ihn in 1/1 (5.43), 1/97 (5.109), 4/24 und 6/97 (5.196). In 1/1 (5.43) gehört die Flamme zur Beschreibung der seherischen Technik, die Nostradamus angewendet haben will. Die Flammen in 1/97 (5.109) und 6/97 (5.196) stehen wohl für das Feuer als zerstörerische Kraft des Krieges. Am interessantesten ist die Erwähnung in 4/24, wo wir eine "menschliche Flamme" vor uns haben, die vergöttlicht wird. Damit ist wohl der Antichrist, das erste apokalyptische Tier gemeint.
Sollte die Flamme in 6/19 ebenfalls den Antichristen, das menschgewordene Böse meinen, ist das Adjektiv "wahr" aber kaum als "wahrhaftig, aufrichtig" zu verstehen (siehe oben) sondern eher als Bekräftigung bzw. Verstärkung. Wir hätten dann wohl den "wahren (großen) Verderber" vor uns (vgl. Anmerkung 1).
Doch welche "Dame" sollte der Antichrist vernichten, die ihrerseits selber "Unschuldige" verbrannt hat und somit gleichfalls auf der Linie Satans liegt?
In der Offenbarung des Johannes gibt es eine Frauengestalt, die als Verfolgerin von "Unschuldigen" in Frage kommt: die Hure Babylon. Bei Johannes lesen wir zu diesem Thema:
"Auf ihrer Stirn stand ein Name, ein geheimnisvoller Name: Babylon, die Große, die Mutter der Huren und aller Abscheulichkeiten der Erde. Und ich sah, dass die Frau betrunken war vom Blut der Heiligen und vom Blut der Zeugen Jesu" (Offb 17,5f.).
Ähnliches finden wir auch beim Untergang der Hure Babylon:
"Freu dich über ihren Untergang, du Himmel - und auch ihr, Heilige, Apostel und Propheten, freut euch! Denn Gott hat euch an ihr gerächt. Dann hob ein gewaltiger Engel einen Stein auf, so groß wie ein Mühlstein; er warf ihn ins Meer und rief: So wird Babylon, die große Stadt, mit Wucht hinabgeworfen werden und man wird sie nicht mehr finden. Die Musik von Harfenspielern und Sängern, von Flötenspielern und Trompetern hört man nicht mehr in dir. Einen kundigen Handwerker gibt es nicht mehr in dir. Das Geräusch des Mühlsteins hört man nicht mehr in dir. Das Licht der Lampe scheint nicht mehr in dir. Die Stimme von Braut und Bräutigam hört man nicht mehr in dir. Deine Kaufleute waren die Großen der Erde, deine Zauberei verführte alle Völker. Aber in ihr war das Blut von Propheten und Heiligen und von allen, die auf der Erde hingeschlachtet worden sind" (Offb 18,20-24).
Gemäß Nostradamus scheint der Antichrist die Hure Babylon zu vernichten. Doch was lesen wir bei Johannes über deren Untergang?
"Der Geist ergriff mich und der Engel entrückte mich in die Wüste. Dort sah ich eine Frau auf einem scharlachroten Tier sitzen, das über und über mit gotteslästerlichen Namen beschrieben war und sieben Köpfe und zehn Hörner hatte" (Offb 17,3). "Auf ihrer Stirn stand ein Name, ein geheimnisvoller Name: Babylon, die Große, die Mutter der Huren und aller Abscheulichkeiten der Erde" (Offb 17,5). "Das Tier, das du gesehen hast, war einmal und ist jetzt nicht; es wird aber aus dem Abgrund heraufsteigen und dann ins Verderben gehen. Staunen werden die Bewohner der Erde, deren Namen seit der Erschaffung der Welt nicht im Buch des Lebens verzeichnet sind. Sie werden bei dem Anblick des Tieres staunen; denn es war einmal und ist jetzt nicht, wird aber wieder da sein" (Offb 17,8).
Bei diesem Tier aus Offb 17,8, das von den Bewohnern der Erde bestaunt werden wird, handelt es sich um das erste apokalyptische Tier, den Antichristen (vgl. Offb 13,3f.). Doch lesen wir bei Johannes weiter:
"Die zehn Hörner, die du gesehen hast, bedeuten zehn Könige, die noch nicht zur Herrschaft gekommen sind; sie werden aber königliche Macht für eine einzige Stunde erhalten, zusammen mit dem Tier. Sie sind eines Sinnes und übertragen ihre Macht und Gewalt dem Tier [vgl. auch Offb 17,17]. Sie werden mit dem Lamm Krieg führen, aber das Lamm wird sie besiegen. [...]" (Offb 17,12-14).
Der Antichrist wird also zehn Verbündete haben, die zwar nur kurz ("für eine einzige Stunde") königliche Macht erhalten, ihm diese aber übertragen. Bei Harmageddon wird dieses Bündnis von Christus, dem "Lamm", besiegt werden (vgl. 2/27). Doch zuvor wird man sich gegen die Hure Babylon wenden:
"Du hast die zehn Hörner und das Tier gesehen; sie werden die Hure hassen, ihr alles wegnehmen, bis sie nackt ist, werden ihr Fleisch fressen und sie im Feuer verbrennen" (Offb 17,16).
Wie wir oben gesehen haben wird die Hure Babylon zunächst auf dem Tier, dem Antichristen, "sitzen". Der Antichrist scheint ihr also nicht von Anfang an feindlich gesinnt zu sein. Doch irgendwann wendet sich das Blatt. Der Antichrist und seine zehn Verbündeten werden dann die Hure Babylon hassen und vernichten. Johannes schreibt sogar, sie werden "ihr Fleisch fressen und sie im Feuer verbrennen". Auf diese Stelle dürfte Nostradamus sich beziehen, wenn er in der ersten Zeile von 6/19 schreibt, dass der Antichrist ("Flamme") die zwielichtige "Dame" "verschlingen" wird. Der Umstand, dass unser Seher nur den Antichristen aber nicht dessen Verbündete erwähnt, könnte so verstanden werden, dass die Initiative zur Vernichtung der Hure Babylon vom Antichristen ausgehen wird.
Die Einordnung der Zeilen drei und vier ist noch unklar. Wenn im Stier (April/Mai) ein "Wunderzeichen" oder "Ungeheuer" in Sevilla gesehen werden wird, wird eine Armee vor dem Angriff Feuer fangen. Es scheint also um einen militärischen Konflikt zu gehen, vielleicht in Südspanien. Doch wer kämpft gegen wen? Das "Wunderzeichen" oder "Monster" könnte sich beispielsweise auf den Antichristen beziehen, der sich in Europa auf dem Vormarsch befindet.
2/47
L’ennemi grand viel dueil meurt de poison1):2)
Les souuerains3) par infinis subiuguez.
Pierres4) plouuoir, cachés sous la toison:
Par mort articles5) en vain sont allegués.
1) Oder auch nur: "Gebräu, Trank".
Der Feind [ist] groß [und] alt, [der] Schmerz stirbt an Gift1).2)
Die Souveräne3) [werden] zu unzähligen unterworfen.
Steine4) [wird es] regnen, [und sie sind] unter dem Schafsfell versteckt.
Im Tod werden [die] Artikel5) umsonst zitiert.
2)Unklar. Die Zeile könnte z. B. auch folgendermaßen verstanden werden: "Der große alte Feind [in] Trauer stirbt an Gift", vgl. BRIND’AMOUR, S. 261.
3) Zur Zeit des Nostradamus waren dies die Fürsten.
4) Im Mittelfranzösischen bezeichnet "pierre" nicht nur einen "Stein" sondern u. a. auch eine Kanonenkugel. CLÉBERT, S. 274f., vermutet hier Meteoriten, die vom Himmel "regnen".
5) "Articles (de foi)" bezeichnen im Französischen die Glaubensgrundsätze z. B. einer Religion.
Das Ende der Hure Babylon. Der Antichrist unterwirft unzählige Fürsten.
In der dritten Zeile von 2/47 wird ein Schafsfell erwähnt, unter dem sich wohl Personen verstecken werden. Das dürfte eine Anlehnung an Matthäus 7,15 sein: "Hütet euch vor den falschen Propheten; sie kommen zu euch wie (harmlose) Schafe, in Wirklichkeit aber sind sie reißende Wölfe" (vgl. auch 5.231: 9/71). In diesem Vierzeiler scheint es also um Vorgänge in der Kirche gehen. Dazu passt Zeile vier. Dort lesen wir, dass im Tod (beim Sterben) die "Artikel", die Glaubensgrundsätze, umsonst zitiert werden.
Die letzten beiden Zeilen erlauben wohl den Schluss, dass mit der Kirche in diesem Vierzeiler etwas nicht stimmt. Zum einen haben wir "falsche Propheten" - wahrscheinlich Irrlehrer -, die sich eingeschlichen haben. Zum anderen erfahren wir, dass der Glaube dieser Kirche für die Sterbenden nutzlos ist, d. h. wohl nicht zum Heil, nicht zu Gott führt.
In der ersten Zeile stirbt jemand an Gift. Möglicherweise der große alte Feind oder jemand, den Nostradamus den "Schmerz" nennt (vgl. Anmerkung 2). Wenn wir im kirchlich-religiösen Bereich bleiben, lassen sich die beiden Kandidaten wohl identifizieren. Der "große alte Feind" müsste Satan sein, die "alte Schlange" (Offb 20,2) und große Fürst der Dämonen. In diesem Fall muss es aber der "Schmerz" sein, der bei Nostradamus an Gift stirbt, denn Satans Schicksal ist der Feuersee, nicht der Gifttod (Offb 20,10).
Wen könnte unser Seher aber mit dem "Schmerz" gemeint haben? In seiner Apokalypse scheint sich Nostradamus einmal auf das "Stabat Mater speciosa" aus dem 13. Jahrhundert zu beziehen, vgl. 10/98. Mit der "Mater speciosa", der "schönen Mutter", ist Maria gemeint, die bei unserem Seher die Kirche repräsentieren dürfte.
Ebenfalls aus dem 13. Jahrhundert stammt ein anderer Hymnus, der ebenfalls der Gottesmutter gewidmet ist, aber dieses Mal Maria unter dem Kreuz Christi zum Thema hat, das "Stabat Mater dolorosa". Die schmerzensreiche Mutter ("Mater dolorosa") könnte Nostradamus hier etwas abstrahiert mit dem "Schmerz" gemeint haben. Analog zu 10/98 würde in 2/47 also die Kirche an Gift sterben. Eine Kirche allerdings, mit der, wie wir oben gesehen haben, etwas nicht mehr stimmt. Doch was?
In 10/98 wurde vermutet, dass mit der biblischen "Hure Babylon" die vom Christentum abgefallene Kirche gemeint ist. Eine Kirche, oder wohl genauer: die Organisation, die Körperschaft der früheren Kirche, die Christus aus sich verbannt hat. Diese "Zombie-Kirche" ähnelt der im Stabat Mater dolorosa beschriebenen Schmerzensmutter dahingehend, dass beide Jesus verloren haben, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Gemäß 2/47 wird der "Schmerz" an Gift oder an einem Trank (vgl. Anmerkung 1) sterben. Das könnte eine Anspielung auf die Offenbarung des Johannes 18,3-6 sein. Dort lesen wir u. a.:
"[...] vom Zornwein ihrer [der Hure Babylon] Unzucht haben alle Völker getrunken [...]. Dann hörte ich eine andere Stimme vom Himmel her rufen: [...] Zahlt ihr mit gleicher Münze heim, gebt ihr doppelt zurück, was sie getan hat. Mischt ihr den Becher, den sie gemischt hat, doppelt so stark."
Mit dem Gift oder Trank bei Nostradamus ist wohl einfach das tödliche Strafgericht gemeint, dass Gott über die Hure Babylon kommen lässt. In Offb 18,8 lesen wir dazu:
"an einem einzigen Tag [werden] die Plagen über sie kommen, die für sie bestimmt sind: Tod, Trauer und Hunger. Und sie wird im Feuer verbrennen; denn stark ist der Herr, der Gott, der sie gerichtet hat."
In der dritten Zeile von 2/47 wird eine der Plagen erwähnt, die die Hure Babylon heimsuchen werden, bevor sie zerstört wird: Steine, die vom Himmel regnen. Das könnten tatsächlich Meteoriten sein, wie CLÉBERT vermutet (vgl. Anmerkung 4). Eine Parallele finden wir dazu in Offb 16,19-21. Dort wird die "große Stadt" (Rom) von Gott bestraft. Und zwar anscheinend so, wie er zuvor schon die Hure Babylon bestraft hat. Dazu gehören offensichtlich auch zentnerschwere "Hagelbrocken", die vom Himmel fallen:
"Die große Stadt brach in drei Teile auseinander und die Städte der Völker stürzten ein. Gott hatte sich an Babylon, die Große, erinnert und reichte ihr den Becher mit dem Wein seines rächenden Zornes. Alle Inseln verschwanden und es gab keine Berge mehr. Und gewaltige Hagelbrocken, zentnerschwer, stürzten vom Himmel auf die Menschen herab. Dennoch verfluchten die Menschen Gott wegen dieser Hagelplage; denn die Plage war über die Maßen groß."
In 6/19 erfahren wir, wer es konkret sein wird, der die Hure Babylon vernichtet und an ihr so Gottes Urteil vollstreckt: der Antichrist und seine Verbündeten, vgl. Offb 17,16! Da hinter dem Antichristen Satan steht, ist es somit tatsächlich der "große und alte Feind", der die Ex-Kirche zerstört. Eine Organisation, die mit der Abkehr von Christus schon längst aufgehört hat, Kirche im eigentlichen Sinne zu sein und für die deshalb auch nicht mehr Jesu Versprechen gilt, das er einst Petrus gegeben hat: "Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen" (Mt 16,18).
Die Vernichtung der Hure Babylon wird mit dem Aufstieg des Antichristen zum Beherrscher der Welt einhergehen. In der zweiten Zeile von 2/47 lesen wir, dass zu dieser Zeit unzählige Fürsten (Souveräne) unterworfen werden. Wohl eben durch das erste apokalyptische Tier, vgl. Offb 13,7f.: "[...] Es wurde ihm [dem ersten Tier] auch Macht gegeben über alle Stämme, Völker, Sprachen und Nationen. Alle Bewohner der Erde fallen nieder vor ihm: alle, deren Name nicht seit der Erschaffung der Welt eingetragen ist ins Lebensbuch des Lammes, das geschlachtet wurde."
2/28
Le penultime du surnom1) du prophete
Prendra Diane2) pour son iour & repos3):
Loing4) vaguera par frenetique5) teste,
Et deliurant vn grand peuple d’impos.
1) Oder: "Familienname". Im Mittelfranzösischen kann "surnom" allerdings auch "Ehrentitel, Ehrenbezeichnung" bedeuten. Sollte hier dies gemeint sein, hätten wir jemanden vor uns, der wohl sich selber mit dem ehrenhaften Titel eines Propheten schmückt. Vgl. dazu Anmerkung 5
Der Vorletzte mit dem Beinamen1) des Propheten
wird [den] dialen2) [Tag] zu seinem Ruhetag3) machen.
[Er] wird lange4) herumirren mit [seinem] wahnsinnigen5) Kopf
und ein großes Volk von Abgaben befreien.
2) Lat. "dialis" (zum Jupiter gehörig). Damit wäre der Donnerstag gemeint (lat. "dies Iovis" = Tag des Jupiters). Im Original steht hier "Diane". Diana (griech. Artemis) war u. a. die Göttin des Mondes, was uns auf den Montag (lat. "dies Lunae") verweisen würde. BRIND’AMOUR, S. 232, korrigiert hier "Diane" zu "Dial", was deswegen überzeugt, da in 10/71 ebenfalls von der Einführung eines neuen Wochenfeiertags am Donnerstag die Rede ist.
3) Mit "iour & repos" dürfte wohl "iour de repos" (Ruhetag) gemeint sein, vgl. BRIND’AMOUR, S. 233. Zwar ließen sich "iour" und "repos" auch anders verstehen, etwa als "Eröffnung, Öffnung" und "Ursprung" (vgl. PFÄNDLER, 1997), doch scheint mir die Annahme eines weiteren Fehlers in der Druckerei naheliegender zu sein. Der wöchentliche Ruhe- und Feiertag der Christen ist der Sonntag, derjenige der Juden der Samstag. Die Einführung eines neuen Wochenfeiertags finden wir auch in 10/71, vgl. Anmerkung 2.
4) Oder auch: "weit".
5) Lat. "phreneticus" (wahnsinnig, geisteskrank). BRIND’AMOUR, S. 233f., vermutet, dies sei so zu verstehen, dass der "Vorletzte" prophetische Gaben besitzt bzw. als Prophet auftritt. Dazu zitiert er eine Stelle in CICEROs De divinatione (1, 81), wo der römische Autor, als Entgegnung auf Aristoteles, die Ansicht äußert, hellseherische Fähigkeiten sollten den geisteskranken oder verwirrten (phrenetici) abgesprochen werden.
Der vorletzte Papst macht den Donnerstag zum Feiertag.
In der zweiten Zeile erfahren wir, dass jemand den Donnerstag zum Wochenfeiertag machen wird (vgl. Anmerkungen 2 und 3). An dieser Stelle müssen wir uns fragen, wer die Macht und die Kompetenz dazu hätte, einen neuen "Sonntag" festzulegen. In der ersten Zeile lesen wir, dass dies der "Vorletzte" sein wird, der dazu noch einen Beinamen trägt. Zur Zeit des Nostradamus wäre höchstens ein Papst befugt gewesen, einen neuen Ruhetag einzuführen. Die Päpste waren und sind es auch, die "Beinamen" (Papstnamen) tragen. Es besteht somit eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit dafür, dass hier von einem Nachfolger Petri die Rede ist.
Wenn es aber der vorletzte Papst ist, der hier den Donnerstag zum Wochenfeiertag erhebt, kann sich dies nur einige Jahre oder höchstens wenige Jahrzehnte vor der Wiederkunft Christi ereignen. 2/28 muss deswegen in die Zeit der biblischen Apokalypse gehören.
Gemäß Zeile eins wird dieser Papst den Namen des "Propheten" tragen. Mit dem "Propheten" (hier: Seher, Weissager) dürfte Nostradamus sich selber meinen. Hier ist somit wohl von einem Papst Michael die Rede. Allerdings wäre es auch möglich, dass das Kirchenoberhaupt tatsächlich den Nachnamen Nostredame trägt, vgl. Anmerkung 1.
Über die Gründe für die Verlegung des Wochenfeiertages lesen wir hier nichts. In 10/71 erfahren wir allerdings, dass der Donnerstag der Feiertag des Antichristen sein wird. Ein Papst, der diesen Tag zum kirchlichen Feiertag macht, ist deswegen wohl als Anhänger des Antichristen zu identifizieren. Es ist weiter nicht anzunehmen, dass dies die einzige Veränderung in der Kirche sein wird. Wahrscheinlich dürfte dieser Antichristen-Papst die Kirche in eine Kultgemeinschaft umwandeln, die das erste apokalyptische Tier und somit Satan anbetet. Eine "Kirche" allerdings, die bereits zuvor nicht mehr christlich sondern zur Hure Babylon mutiert sein wird (vgl. 10/98, 6/19, 2/47). Mit Blick auf 1/11 und 6/19 dürfte der Antichristen-Papst wohl mit Gewalt an die Spitze der Kirche gelangen.
Über den vorletzten Papst erfahren wir, dass er einen "wahnsinnigen Kopf" besitzen wird. Das ist einerseits eine Parallele zu 1/11/4, wo von einem "schwachen" oder "kranken Verstand" des Protagonisten die Rede ist. Andererseits ist der "wahnsinnige Kopf" (phrenetique teste) aus 2/28 wohl als Hinweis darauf zu verstehen, dass der vorletzte Papst ein Prophet ist bzw. als Prophet auftritt (vgl. Anmerkung 5). Da er aber ein Gefolgsmann des Antichristen ist, dürfte es sich bei diesem Pontifex um den falschen Propheten der Endzeit handeln, den wir etwa aus 4/24 kennen.
In der ersten Zeile von 2/28 schreibt Nostradamus, dass der vorletzte Papst den "Beinamen des Propheten" tragen wird. Wie oben ausgeführt, vermute ich, dass unser Seher damit gemeint hat, dass dieses Kirchenoberhaupt den Papstnamen Michael tragen wird. Da wir hier jedoch das satanische Pendant zu Johannes dem Täufer vor uns haben, wäre es ebenso denkbar, dass die Wahl auf den Namen Johannes fallen wird.
In der Offenbarung des Johannes lesen wir über den falschen Propheten der Endzeit Folgendes:
"Dann sah ich aus dem Maul des Drachen und aus dem Maul des Tieres und aus dem Maul des falschen Propheten drei unreine Geister hervorkommen, die wie Frösche aussahen. Es sind Dämonengeister, die Wunderzeichen tun; sie schwärmten aus zu den Königen der ganzen Erde, um sie zusammenzuholen für den Krieg am großen Tag Gottes, des Herrschers über die ganze Schöpfung" (Offb 16,13f.),
"Dann sah ich das Tier und die Könige der Erde und ihre Heere versammelt, um mit dem Reiter und seinem Heer Krieg zu führen. Aber das Tier wurde gepackt und mit ihm der falsche Prophet; er hatte vor seinen Augen Zeichen getan und dadurch alle verführt, die das Kennzeichen des Tieres angenommen und sein Standbild angebetet hatten. Bei lebendigem Leib wurden beide in den See von brennendem Schwefel geworfen" (Offb 19,19f., vgl. auch Offb 20,10).
In der dritten und vierten Zeile von 2/28 erfahren wir, dass der vorletzte Papst lange herumirren und ein "großes Volk" von Abgaben befreien wird. Das "große Volk" sind bei Nostradamus die Franzosen, die möglicherweise auch hier gemeint sind. Was hinter diesem Herumirren und dem Erlassen der Abgaben steckt, erfahren wir nicht. Das Herumirren könnte aber vielleicht intensive diplomatische Reisetätigkeiten meinen, die dazu dienen "die Könige der ganzen Erde" auf die Seite des ersten Tieres, des Antichristen, zu ziehen (siehe oben). Und der Abgabenerlass ist möglicherweise eine Gegenleistung für die Gefolgschaft des "großen Volkes".
2/27
Le1) diuin verbe2) sera du ciel frapé,
Qui ne pourra proceder plus auant.
Du reserant3) le secret4) estoupé5)
Qu’on marchera par dessus & deuant.6)
1) Lies: "du" (vom). Ansonsten würde das "göttliche Wort" (Christus), vgl. Anmerkung 2, selber vom Himmel geschlagen werden, was inhaltlich keinen Sinn ergibt.
Vom1) göttlichen Wort2) wird [der] vom Himmel geschlagen,
der nicht weiter vorrücken wird können.
Vom Offenbarenden3) [wird] der abgelegene Ort4) verschlossen5),
an dem man darüber und vorbei gehen wird.6)
2) Das ist Jesus Christus, der "Logos" (vgl. etwa Joh 1,14 oder Offb 19,13).
3) Lat. "reserare" (u. a. öffnen, offenbaren).
4) Oder: "der Verborgene, der Geheime, der Versteckte". Das lat. "secretum", an das Nostradamus hier wohl gedacht hat, kann zudem einen einsamen, abgelegenen Ort bezeichnen.
5) Oder: "verstopft, blockiert".
6) LE PELLETIER (S. 45) weist darauf hin, dass jemand, von dem man sagen kann, "qu’on marchera par dessus et devant", sich in Ketten in einem unterirdischen Verließ befindet. Genau dies dürfte hier gemeint sein!
Die Schlacht von Harmagedon und die Fesselung Satans durch Erzengel Michael.
In der ersten Zeile taucht Christus als Akteur auf, was den Vierzeiler der Apokalypse zuordnet (vgl. Anmerkungen 1 und 2). Wir erfahren, dass Christus jemanden vom Himmel aus oder vom Himmel kommend schlagen wird. Und zwar jemanden, der gemäß zweiter Zeile zuvor offenbar auf dem Vormarsch war. Hier dürfte sich unser Seher an die Offenbarung des Johannes 19,11-21 angelehnt haben. Dort lesen wir u. a.:
"Dann sah ich den Himmel offen, und siehe, da war ein weißes Pferd, und der, der auf ihm saß, heißt 'Der Treue und Wahrhaftige'; gerecht richtet er und führt er Krieg. Seine Augen waren wie Feuerflammen und auf dem Haupt trug er viele Diademe; und auf ihm stand ein Name, den er allein kennt. Bekleidet war er mit einem blutgetränkten Gewand; und sein Name heißt 'Das Wort Gottes'. Die Heere des Himmels folgten ihm auf weißen Pferden; sie waren in reines, weißes Leinen gekleidet. Aus seinem Mund kam ein scharfes Schwert; mit ihm wird er die Völker schlagen. Und er herrscht über sie mit eisernem Zepter, und er tritt die Kelter des Weines, des rächenden Zornes Gottes, des Herrschers über die ganze Schöpfung" (Offb 19,11-15).
Hier ist die Schlacht von Harmagedon (vgl. Offb 16,16) beschrieben. Bei Harmagedon werden alle Feinde Gottes getötet werden außer dem ersten Tier und dem falschen Propheten. Die beiden werden in einen See aus brennendem Schwefel geworfen, wo sie in alle Ewigkeit Qualen erdulden müssen. Der Ort dieser grausamen Schlacht wird heute bei Megiddo (in Nordisrael) vermutet, da "Harmagedon" als Berg ("Har") von Megiddo gedeutet werden kann.
Derjenige, dessen Vormarsch hier gestoppt wird, ist der Antichrist, das erste Tier der Apokalypse. Es wird zuvor seine Macht massiv erweitern können: "Die zehn Hörner, die du gesehen hast, bedeuten zehn Könige, die noch nicht zur Herrschaft gekommen sind; sie werden aber königliche Macht für eine einzige Stunde erhalten, zusammen mit dem [ersten] Tier. Sie sind eines Sinnes und übertragen ihre Macht und Gewalt dem [ersten] Tier." (Offb 17,12f.) und "Denn Gott lenkt ihr Herz so, dass sie seinen Plan ausführen: Sie sollen einmütig handeln und ihre Herrschaft dem [ersten] Tier übertragen, bis die Worte Gottes erfüllt sind." (Offb 17,17).
In der dritten Zeile von 2/27 wird ein abgelegener Ort verschlossen. Damit ist der "Abgrund" (griech. "abyssos") aus Offb 20,3 gemeint, in den zuvor Satan geworfen wird: "Dann sah ich einen Engel vom Himmel herabsteigen; auf seiner Hand trug er den Schlüssel zum Abgrund und eine schwere Kette. Er überwältigte den Drachen, die alte Schlange - das ist der Teufel oder der Satan -, und er fesselte ihn für tausend Jahre. Er warf ihn in den Abgrund, verschloss diesen und drückte ein Siegel darauf, damit der Drache die Völker nicht mehr verführen konnte, bis die tausend Jahre vollendet sind. Danach muss er für kurze Zeit freigelassen werden" (Offb 20,1-3).
Wir erfahren auch, wer den "abgelegenen Ort" verschließen wird, Nostradamus nennt ihn den "Offenbarenden". Meines Erachtens meint unser Seher damit den Erzengel Michael, der Satan bereits im Himmel besiegt hat (vgl. Offb 12,7-9). Mit dem "Offenbarenden" dürfte Nostradamus sich selbst gemeint haben, der ja die vorliegenen Weissagungen formuliert hat. Allerdings ging es ihm dabei nicht um seine Person sondern um seinen Vornamen "Michel" (Michael).
In der letzten Zeile von 2/27 erfahren wir noch etwas über die Natur des erwähnten "abgelegenen Ortes". Es ist ein Ort, der offensichtlich tiefer gelegen ist. Aber anscheinend wird man nicht nur an diesem vorbei sondern auch über ihn gehen können. D. h. dieser tiefer gelegene Ort muss oben abgeschlossen sein bzw. eine Decke besitzen: der verschlossene Abgrund der Apokalypse.
8/95
Le seducteur sera mis en la fosse1),
Et estaché iusques à quelque temps,
Le clerc2) vny le chef auec sa crosse3)
Pycante4) droite attraira6) les contens5).
1) Oder u. a. auch: "Erdloch; Graben; Kerker, Verlies".
Der Verführer wird in die Grube1) geworfen
und [dort] für einige Zeit angebunden [werden].
Der Kleriker2) vereinigt das Oberhaupt mit seinem Bischofsstab3).
[Die] kämpferische4) Rechte wird die Glücklichen5) zu sich führen6).
2) Oder auch: "Gelehrter, Beauftragter".
3) Oder auch: "Bischof, Prälat; Abtei, deren Abt Bischofsrang hat; Ruhm, Reichtum".
4) Oder: "scharf, stechend, energisch".
5) Oder auch: "Fröhlichen, Entzückten, Zufriedenen, Bezauberten".
6) Oder auch: "anziehen, zu sich hinziehen".
Die Fesselung Satans und die Wiedereinsetzung Jesu als Kirchenoberhaupt durch den letzten Papst.
Ähnlich wie in 10/74 bezieht sich Nostradamus auch in 8/95 recht klar auf die Offenbarung des Johannes.
In den ersten beiden Zeilen erfahren wir, dass "der Verführer" in die Grube oder den Graben geworfen und dort für einige Zeit angebunden werden wird. Hier hält sich unser Seher an Offb 20,1-3: "Dann sah ich einen Engel vom Himmel herabsteigen; auf seiner Hand trug er den Schlüssel zum Abgrund und eine schwere Kette. Er überwältigte den Drachen, die alte Schlange - das ist der Teufel oder der Satan -, und er fesselte ihn für tausend Jahre. Er warf ihn in den Abgrund, verschloss diesen und drückte ein Siegel darauf, damit der Drache die Völker nicht mehr verführen konnte, bis die tausend Jahre vollendet sind. Danach muss er für kurze Zeit freigelassen werden."
Die Fesselung Satans wird nach Christi Sieg über den Antichristen, den falschen Propheten und die von ihm verführten Völker bei Harmagedon (Offb 16,16 und 19,11-21) erfolgen. Bei dieser Schlacht werden die Feinde Christi getötet, mit Ausnahme des Antichristen und des falschen Propheten. Die beiden werden in einen See aus brennendem Schwefel geworfen, wo sie in alle Ewigkeit Qualen erleiden müssen.
In der vierten Zeile von 8/95 erfahren wir, dass die "kämpferische Rechte" die "Glücklichen" zu sich führen wird. Mit der "kämpferischen Rechten" ist Christus gemeint, der im Himmel zur Rechten des Vaters sitzt und dann wieder auf der Erde erscheint, um die Feinde bei Harmagedon niederzukämpfen. Die "Glücklichen" sind die Märtyrer, die nicht den Antichristen und dessen Standbild anbeten und deshalb enthauptet werden. Nach Harmagedon werden diese wieder auferweckt und mit Jesus zusammen tausend Jahre lang herrschen. Es sind jene, die in 2/13 "glücklich" gemacht werden. In Offb 20,4 lesen wir dazu: "Dann sah ich Throne; und denen, die darauf Platz nahmen, wurde das Gericht übertragen. Ich sah die Seelen aller, die enthauptet worden waren, weil sie an dem Zeugnis Jesu und am Wort Gottes festgehalten hatten. Sie hatten das [erste] Tier und sein Standbild nicht angebetet und sie hatten das Kennzeichen nicht auf ihrer Stirn und auf ihrer Hand anbringen lassen. Sie gelangten zum Leben und zur Herrschaft mit Christus für tausend Jahre. Die übrigen Toten kamen nicht zum Leben, bis die tausend Jahre vollendet waren. Das ist die erste Auferstehung."
Etwas unklar ist die dritte Zeile. Zwei Personen tauchen auf, ein Kleriker und ein Oberhaupt. Zudem wird ein Bischofsstab erwähnt, der wohl sinnbildlich für das Bischofsamt steht. Der Bischofsstab dürfte wohl zum Kleriker gehören, womit wir folglich einen Bischof vor uns hätten. Es scheint nun so zu sein, dass dieser Bischof sein Amt mit dem Oberhaupt vereint, es also diesem wohl übergibt. Da es sich hier um einen Endzeit-Vierzeiler handelt, der Geschehnisse von allergrößter Bedeutung schildert, ist die Vermutung naheliegend, dass es sich bei diesem Bischof um den wichtigsten aller Bischöfe handelt, den Papst. Doch welchem Oberhaupt sollte der Stellvertreter Christi sein Amt übergeben? Dafür gibt es nur einen legitimen Kandidaten: Christus selber, der ja das Haupt der Kirche ist. Das setzt aber voraus, dass es einen letzten, christustreuen Papst geben wird, der nicht zum Gefolge des ersten Tieres der Apokalypse, zum Antichristen gehört, vgl. 2/28. Er und die von ihm geleitete treu gebliebene Kirche könnten die Zeit des Endkampfes im Untergrund überstehen. Oder in der Entrückung.
2/13
Le corps sans ame plus n’estre en sacrifice.
Iour de la mort mis en natiuité1):
L’esprit diuin fera l’ame felice
Voiant le verbe2) en son3) eternité.
1) "Nativité" (Geburt, Geburtstag, Geburtshoroskop).
Der Körper ohne Seele wird nicht mehr geopfert,
[der] Tag des Todes [wird] in [den] Geburtstag1) umgewandelt [werden].
Der göttliche Geist wird die Seele glücklich machen,
[die] das Wort2) in seiner3) Ewigkeit sieht.
2) Das ist Jesus Christus, der "Logos" (vgl. etwa Joh 1,14 oder Offb 19,13).
3) Das kann sich auf die Seele oder auf das Wort beziehen.
Die erste Auferstehung und der Anbruch des Tausendjährigen Reiches Christi.
Laut dritter und vierter Zeile wird die Seele (des Menschen) das "Wort", d. h. Jesus (vgl. Anmerkung 2) sehen. Und anscheinend auf ewige Zeiten. Gemäß Nostradamus handelt es sich bei seinen Vierzeilern um Vorhersagen künftiger Geschehnisse auf der Erde. Wenn aber Jesus in 2/13 wieder auf der Erde gesehen wird, bedeutet das, dass dieser Vierzeiler zur Apokalypse gehört.
In der ersten Zeile ist vom "Körper ohne Seele", d. h. von einer Leiche - oder Leichen generell - und somit vom Tod die Rede. Das bedeutet trivialerweise zunächst, dass der Tod noch existiert. Also muss 2/13 chronologisch vor 10/74 einzuordnen sein, wo der Tod abgeschafft wird.
Wir erfahren in der ersten Zeile, dass der Körper nicht mehr geopfert werden wird. Diese "Opferung" kann wortwörtlich oder im übertragenen Sinne verstanden werden. Im ersten Fall dürfte eine religiöse Kulthandlung gemeint sein, die nicht mehr zur Ausführung gelangt. Im zweiten Fall könnte die "Opferung" beispielsweise die Verwesung der Leiche - bzw. der Leichen - meinen. Sollte diese ausbleiben, hätten wir das Phänomen des unverwesten Leichnams vor uns, das in der christlichen Tradition gelegentlich bei Heiligen zu finden ist.
In der zweiten Zeile erfahren wir, dass der Todestag zum Geburtstag werden wird. Das ist wiederum ein Hinweis auf christliche Heilige, denn der gefeierte Todestag eines Heiligen gilt bekanntlich als dessen "Geburtstag im Himmel".
In Zeile drei ist wieder von der Seele die Rede. Wir erfahren, dass der "göttliche Geist" diese glücklich machen wird. Mit dem "göttlichen Geist" dürfte der Heilige Geist gemeint sein, der hier in Aktion tritt. Doch wie genau macht er die Menschenseele glücklich? Gemäß Credo ist der Heilige Geist der Geist, der lebendig macht ("Et in Spiritum Sanctum, Dominum et vivificantem"). Es ist somit denkbar, dass Nostradamus hier gemeint hat, dass die Seele dank dem Wirken Gottes bzw. des Heiligen Geistes wieder körperlich lebendig wird, also einen neuen Körper erhält. Denn erstens ist die Seele nach christlichem Glauben ja ohnehin unsterblich und zweitens beschreibt Nostradamus in seinen Prophezeiungen das zukünftige Geschehen auf der Erde und nicht in jenseitigen Sphären.
Meines Erachtens ist in der dritten und vierten Zeile eine der beiden Auferstehungen der Toten gemeint, die in der Offenbarung des Johannes erwähnt werden. Die zweite Auferstehung, die Auferstehung aller Toten, dürften wir in 10/74 vorfinden. Über jene Auferweckte erfahren wir bei Nostradamus nichts Genaueres. In 2/13 lesen wir jedoch, dass der göttliche Geist die Seele (gemeint sind wohl die Seelen der Auferweckten) glücklich machen wird. In der Offenbarung des Johannes erfahren wir, dass bei der zweiten Auferstehung das Jüngste Gericht stattfinden wird (Offb 20,11-15). Dieser Aspekt fehlt in 2/13. Hier werden alle Seelen ausschließlich "glücklich" gemacht. Es scheint sich bei diesen Auferweckten somit um eine spezielle Gruppe von Menschen zu handeln. Dazu würden auch die ersten beiden Zeilen passen, in denen von Heiligen gesprochen werden könnte.
Über die erste Auferstehung lesen wir bei Johannes (Offb 20,4-6): "Dann sah ich Throne; und denen, die darauf Platz nahmen, wurde das Gericht übertragen. Ich sah die Seelen aller, die enthauptet worden waren, weil sie an dem Zeugnis Jesu und am Wort Gottes festgehalten hatten. Sie hatten das [erste] Tier und sein Standbild nicht angebetet und sie hatten das Kennzeichen nicht auf ihrer Stirn und auf ihrer Hand anbringen lassen. Sie gelangten zum Leben und zur Herrschaft mit Christus für tausend Jahre. Die übrigen Toten kamen nicht zum Leben, bis die tausend Jahre vollendet waren. Das ist die erste Auferstehung. Selig und heilig, wer an der ersten Auferstehung teilhat. Über solche hat der zweite Tod keine Gewalt. Sie werden Priester Gottes und Christi sein und tausend Jahre mit ihm herrschen."
Bei den Auferweckten der ersten Auferstehung wird es sich also um Märtyrer handeln. Um Menschen, die bei Johannes "selig und heilig" genannt werden. Das würde erklären, weshalb Nostradamus in den ersten beiden Zeilen von 2/13 auf christliche Heilige verweist. Diese auferstandenen Märtyrer werden Jesus Christus ewig sehen - und deswegen glücklich sein - weil sie ewig leben werden ("Über solche hat der zweite Tod keine Gewalt"). In den ersten tausend Jahrend werden sie mit Christus zusammen herrschen. Nach Satans letztem Aufstand werden sie anschließend im neuen Jerusalem zu Füßen des Lammes (Christus) und vor dem himmlischen Thron Gottes zusammen mit allen anderen Erretteten dienen und in alle Ewigkeit herrschen, vgl. 3/2.
10/99
La fin le loup, le lyon, bœuf1) & l’asne,
Timide dama2) seront auec mastins3),
Plus ne cherra à eux la douce manne4),
Plus vigilance & custode aux mastins.5)
1) Oder: "Rind".
[Am] Ende [werden] der Wolf, der Löwe, [der] Ochse1) und der Esel,
[und das] ängstliche Reh2) mit [den] großen Hunden3) [sein]:
Nicht mehr wird ihnen das süße Manna4) zufallen,
[und] nicht mehr [werden] Wachsamkeit und Bewachung den großen Hunden [obliegen].5)
2) Lat. "dama" (Reh, Gämse, Antilope, Gazelle, Hirschkuh, Hirschkalb).
3) Das mittelfranzösische "mastin" bezeichnet einen großen Hund, der als Wach- oder Hütehund eingesetzt wurde. Im übertragenen Sinn kann damit aber auch ein verabscheuungsswürdiger Mensch gemeint sein.
4) Manna, auch Himmelsbrot genannt, war die wunderbare Speise, die Gott vom Himmel kommen ließ, um die Israeliten auf ihrer Wanderung durch die Wüste zu ernähren. Im Buch Exodus, Kapitel 16 lesen wir: "Da sprach der Herr zu Mose: Ich will euch Brot vom Himmel regnen lassen. Das Volk soll hinausgehen, um seinen täglichen Bedarf zu sammeln" (Ex 16,4), "[...] Am Morgen lag eine Schicht von Tau rings um das Lager. Als sich die Tauschicht gehoben hatte, lag auf dem Wüstenboden etwas Feines, Knuspriges, fein wie Reif, auf der Erde. Als das die Israeliten sahen, sagten sie zueinander: Was ist das? Denn sie wussten nicht, was es war. Da sagte Mose zu ihnen: Das ist das Brot, das der Herr euch zu essen gibt" (Ex 16,13-15), "Das Haus Israel nannte das Brot Manna. Es war weiß wie Koriandersamen und schmeckte wie Honigkuchen" (Ex 16,31), "Die Israeliten aßen vierzig Jahre lang Manna, bis sie in bewohntes Land kamen. Sie aßen Manna, bis sie die Grenze von Kanaan erreichten" (Ex 16,35). Als die Israeliten den Jordan überschritten und sich zum ersten Mal von Nahrungsmitteln aus Kanaan ernährt hatten, ließ Gott kein Manna mehr auf sie niederkommen: "nachdem sie von den Erträgen des Landes gegessen hatten, blieb das Manna aus; von da an hatten die Israeliten kein Manna mehr, denn sie aßen in jenem Jahr von der Ernte des Landes Kanaan" (Jos 5,12).
5) Die Zeile kann unterschiedlich verstanden werden, da das einleitende "plus" verschiedene Bedeutungen annehmen kann. Denkbar wäre etwa auch: "dann [werden] Wachsamkeit und Bewachung den großen Hunden [zuteil werden]." In diesem Fall würden die großen Hunde (oder die verabscheuungswürdigen Menschen, vgl. Anmerkung 3) bewacht und wahrscheinlich eingesperrt werden. Sollte dies hier gemeint sein, wäre der Vierzeiler dem Ende des Tausendjährigen Reiches und dem letzten Aufstand Satans zuzurechnen. Die großen Hunde entsprächen dann wohl den Anhängern Satans, die anderen Tiere den verführten Völkern der Erde. Das Ende des Manna-Regens in der zweiten Zeile wäre als Ende des Tausendjährigen Reiches zu verstehen sowie als Hinweis darauf, wie Gott die satanische Allianz vernichten wird: "Aber Feuer fiel vom Himmel und verzehrte sie" (Offb 20,9). Das - ewige - "Gefängnis" der großen Hunde wäre der in der Apokalypse erwähnte Feuersee: "Und der Teufel, ihr Verführer, wurde in den See von brennendem Schwefel geworfen, wo auch das Tier und der falsche Prophet sind. Tag und Nacht werden sie gequält, in alle Ewigkeit" (Offb 20,10).
Das Tausendjährige Reich Christi.
In den ersten beiden Zeilen erfahren wir, dass "am Ende" (wohl in der Endzeit) der Wolf, der Löwe, der Ochse, der Esel und sogar das ängstliche Reh mit den großen Hunden zusammen sein werden. Wildtiere (Wolf, Löwe, Reh) werden sich also mit Haustieren (Ochse, Esel, große Hunde) und Raubtiere (Wolf, Löwe, große Hunde) mit Beutetieren (Ochse, Esel, ängstliches Reh) zusammenfinden. Das erinnert tatsächlich an das Goldene Zeitalter der antiken Mythologie, vgl. CLÉBERT, S. 1164, oder an die Endzeitvisionen des Jesaja:
"Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter, das Kind streckt seine Hand in die Höhle der Schlange." (Jes 11,6-8) und "Wolf und Lamm weiden zusammen, der Löwe frisst Stroh wie das Rind [doch die Schlange nährt sich von Staub]. Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg, spricht der Herr." (Jes 65,25).
Gemäß Zeile drei wird den erwähnten "Tieren" nicht mehr das süße Manna zufallen. Das Manna war die wunderbare himmlische Speise, die Gott den Israeliten auf ihrer vierzigjährigen Wanderschaft nach Kanaan zukommen ließ (vgl. Anmerkung 4). Nach Ankunft in ihrer neuen Heimat blieb das Manna aus. So könnte die dritte Zeile dahingehend verstanden werden, dass die erwähnten "Tiere" nun ebenfalls das "gelobte Land" erreicht haben: das Tausendjährige Reich Christi. Die friedlich zusammenlebenden "Tiere" sind wohl sinnbildlich für in Frieden vereinte Nationen oder Kräfte unter der Herrschaft Christi zu verstehen (vgl. 4/5/2).
Ob Nostradamus in 10/99 an konkrete Nationen bzw. Kräfte gedacht hat, und wenn ja an welche, ist im Augenblick nicht zu entscheiden. Ein "Wolf" taucht auch in 5.13 auf (vgl. dort 5/4, Anmerkung 5). Mit dem "Löwen" könnte England oder Venedig gemeint sein. Ebenfalls in 5.13 wird ein "Hirsch" erwähnt (5/4), was gut zum "ängstlichen Reh" bzw. zur "ängstlichen Hirschkuh" in 10/99 passen würde (vgl. Anmerkung 2). Im erwähnten 5.13 treffen wir auch auf einen "großen Hund" (2/41 und 5/4). Einen Ochsen und eine Esel finden wir an der Krippe Jesu. Eine Tradition, deren Wurzeln bis in die Antike zurückreichen. Dabei werden Ochse und Esel auch als Sinnbilder für Juden und Heiden gedeutet (mit wechselnden Zuordnungen). Es ist also mindestens denkbar, dass Nostradamus hier hat ausdrücken wollen, dass in Christi Reich Juden und Nichtjuden endlich friedlich und konfliktfrei zusammenleben werden.
Ein Spezialfall scheinen die "großen Hunde" bzw. Wach- oder Hütehunde zu sein, die in der letzten Zeile noch einmal erwähnt werden. Hier könnten wir keine Nation sondern eine Gruppe von Menschen vor uns haben, denen eine bestimmte Funktion zukommt. Im Tausendjährigen Reich Christi werden sie ihre Aufgabe - das Bewachen - nicht mehr wahrnehmen müssen. Wahrscheinlich, weil es dafür keinen Anlass mehr gibt bzw. Christus an ihre Stelle tritt. Christus wird gemäß 8/95 wieder persönlich die Leitung der Kirche übernehmen. Somit müssten diese "Wach-" oder "Hütehunde" im kirchlichen Bereich zu suchen sein. Ich vermute, hier sind die Kleriker gemeint, die "Hüter" der Gläubigen, der "Schafe Christi". Auf eine Verbindung der "großen Hunde" mit dem Klerus könnte auch 2/41 (5.13) hinweisen. Dort heult ein "großer Hund" die ganze Nacht, wenn ein Papst stirbt.
Etwas irritierend ist der Umstand, dass Nostradamus für die Kleriker ein Bild verwenden soll, das auch einen durchaus pejorativen Zug hat, vgl. Anmerkung 3. Man muss sich hier allerdings vergegenwärtigen, dass es auf der Ebene der Tiersymbole keine wirkliche Alternative zu den Hunden gibt, wenn die Wach- und Hütefunktion auszudrücken ist.
Festzuhalten gilt es auch, dass der Klerus in Christi Tausendjährigem Reich keineswegs abgeschafft zu sein scheint. Gemäß der ersten Zeile werden die erwähnten Tiere ja mit den "großen Hunden" zusammen sein.
4/5
Croix, paix, sous vn accompli diuin verbe1),
L’Hespaigne & Gaule seront vnis ensemble.
Grand clade2) proche, & combat tresacerbe:
Cueur si hardi ne sera qui ne tremble.
1) Das ist Jesus Christus, der "Logos" (vgl. etwa Joh 1,14 oder Offb 19,13).
[Das] Kreuz [und der] Friede [werden] unter [dem] einen, vollkommenen göttlichen
Wort1) [errichtet werden].
Spanien und Gallien [werden] zusammen vereint [sein].
[Doch wenn das] große Unheil2) nahe und [der] Kampf überaus grausam [sein wird],
wird es kein derart unerschrockenes Herz geben, das nicht zittert.
2) Lat. "clades" (Schaden, Unheil, Niederlage usw.).
Das Tausendjährige Reich Christi und die Ankündigung von Satans letztem Aufstand.
In der ersten Zeile taucht Jesus Christus, das "vollkommene göttliche Wort", als Akteur auf. Damit gehört der Vierzeiler zur Apokalypse (vgl. 2/13, 2/27 und 3/2). Er wird das "Kreuz" und den "Frieden" auf Erden errichten. Mit dem "Frieden" ist wohl sein tausendjähriges Friedensreich gemeint. Das "Kreuz" könnte für die Herrschaft des Christentums in seinem Reich stehen. Konkret ist es vielleicht als Gegenpol zum Standbild des ersten apokalyptischen Tieres, des Antichristen, zu verstehen, das unter dessen Herrschaft anzubeten sein wird (vgl. Offb 13,14f.; 14,9-11; 15,2; 16,2; 19,20; 20,4).
In der zweiten Zeile ist zu lesen, dass Spanien (Habsburg) und Frankreich ("Gallien") dann vereint sein werden. Zu Lebzeiten des Nostradamus waren die beiden Mächte verfeindet und führten mehrere Kriege gegeneinander (1521-26, 1526-29, 1536-38, 1542-44 und 1556-59). Nostradamus hat hier wohl ausdrücken wollen, dass unter der Herrschaft Christi auch alte Feinde friedlich vereint sein werden. Angelehnt hat sich unser Seher dabei wohl an die Endzeitvisionen des Jesaja:
"Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter, das Kind streckt seine Hand in die Höhle der Schlange." (Jes 11,6-8) und "Wolf und Lamm weiden zusammen, der Löwe frisst Stroh wie das Rind [doch die Schlange nährt sich von Staub]. Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg, spricht der Herr." (Jes 65,25).
In der dritten und vierten Zeile warnt Nostradamus aber davor, dass diese Zeit der friedlichen Idylle eines Tages zu Ende gehen wird. Ein großes Unheil wird kommen, und ein überaus grausamer Kampf wird entbrennen, der jedermann in Angst und Schrecken versetzen wird. Hier ist Satans letzer Aufstand gemeint, bei dem Gog und Magog Jerusalem umzingeln werden:
"Wenn die tausend Jahre vollendet sind, wird der Satan aus seinem Gefängnis freigelassen werden. Er wird ausziehen, um die Völker an den vier Ecken der Erde, den Gog und den Magog, zu verführen und sie zusammenzuholen für den Kampf; sie sind so zahlreich wie die Sandkörner am Meer. Sie schwärmten aus über die weite Erde und umzingelten das Lager der Heiligen und Gottes geliebte Stadt. Aber Feuer fiel vom Himmel und verzehrte sie. Und der Teufel, ihr Verführer, wurde in den See von brennendem Schwefel geworfen, wo auch das Tier und der falsche Prophet sind. Tag und Nacht werden sie gequält, in alle Ewigkeit." (Offb 20,7-10).
1/56
Vous verrés tost & tard faire grand change
Horreurs extremes, & vindications1),
Que si2) la lune conduicte par son ange
Le ciel s’approche des inclinations3).
1) Das mittelfranzösische "vindication" bedeutet "Rache, Vergeltung". Aufgrund des Kontextes vermute ich allerdings, Nostradamus hat hier eher an das lat. "vindicare" im Sinne von "beanspruchen, sich anmaßen" gedacht.
Ihr werdet früher oder später große Veränderungen sich vollziehen sehen
[und] extreme Schrecken und Anmaßungen1).
Wenn2) der Mond von seinem Engel geführt [wird],
nähert sich der Himmel den Neigungen3).
2) Vgl. CLÉBERT, S. 146.
3) Nostradamus führt hier den Leser einmal mehr in die Irre. Er verwendet den Begriff der Inklination ("inclination"), der in der Sternenkunde den Neigungswinkel von Planeten- oder Kometenbahnen gegen die Ekliptik meint. Die Ekliptik wiederum ist die scheinbare Bahn der Sonne, die diese im Laufe eines Jahres am Himmel beschreibt, auf der sie die zwölf Tierkreiszeichen durchläuft. Diese Bahn ist ein Spiegelbild der Erdbahn um die Sonne, die deshalb ebenfalls Ekliptik heißt. Doch der Himmel kann sich nicht den so verstandenen Inklinationen nähern, da diese ja selbst Bestandteile des gleichen Himmels sind.
Das dem Begriff der "Inklination" zugrunde liegende lat. Verb "inclinare" bedeutet u. a. "neigen, beugen, biegen; sich neigen, sich senken". Diese Stelle ist nach meinem Dafürhalten so zu verstehen, dass hier ein Zeitpunkt gemeint ist: Wenn die in den ersten drei Zeilen beschriebenen Vorgänge stattfinden, dauert es nicht mehr lange, bis der Himmel sich neigen, d. h. das Himmelszelt sich verschieben wird. Konkret dürfte dies allerdings bedeuten, dass nicht der "Himmel" (der von der Erde aus sichtbare Teil des Universums) seine Lage verändert sondern der Planet Erde.
Satans letzter Aufstand und das zweite Tier der Apokalypse.
In der dritten Zeile taucht der "Mond" auf, der von seinem Engel geführt wird. Der "Mond" kann, wie hier, bei Nostradamus für das zweite Tier der Apokalypse stehen, vgl. 1/84. Doch welcher Engel "führt" (und befehligt somit) diesen Abgesandten des Teufels? Logischerweise nur der, der ihn geschickt hat: Satan, der gefallene Engel selbst! Es ist sehr unwahrscheinlich, dass unser Seher hier den Erzengel Gabriel gemeint hat, wie etwa BRIND’AMOUR, S. 128 u. 34 meint. Zwar ist Gabriel der Regent des Mondes (vgl. dazu etwa auch AGRIPPA VON NETTESHEIM 2,10), doch passt dieser nicht in den endzeitlichen Kontext des Vierzeilers.
Über das zweite Tier der biblischen Apokalypse lesen wir bei Johannes:
"Und ich sah: Ein anderes [zweites] Tier stieg aus der Erde herauf. Es hatte zwei Hörner wie ein Lamm, aber es redete wie ein Drache. Die ganze Macht des ersten Tieres übte es vor dessen Augen aus. Es brachte die Erde und ihre Bewohner dazu, das erste Tier anzubeten, dessen tödliche Wunde geheilt war. Es tat große Zeichen; sogar Feuer ließ es vor den Augen der Menschen vom Himmel auf die Erde fallen. Es verwirrte die Bewohner der Erde durch die Wunderzeichen, die es im Auftrag des [ersten] Tieres tat; es befahl den Bewohnern der Erde, ein Standbild zu errichten zu Ehren des [ersten] Tieres, das mit dem Schwert erschlagen worden war und doch wieder zum Leben kam. Es wurde ihm Macht gegeben, dem Standbild des [ersten] Tieres Lebensgeist zu verleihen, sodass es auch sprechen konnte und bewirkte, dass alle getötet wurden, die das Standbild des [ersten] Tieres nicht anbeteten. Die Kleinen und die Großen, die Reichen und die Armen, die Freien und die Sklaven, alle zwang es, auf ihrer rechten Hand oder ihrer Stirn ein Kennzeichen anzubringen. Kaufen oder verkaufen konnte nur, wer das Kennzeichen trug: den Namen des [ersten] Tieres oder die Zahl seines Namens. Hier braucht man Kenntnis. Wer Verstand hat, berechne den Zahlenwert des [ersten] Tieres. Denn es ist die Zahl eines Menschennamens; seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig" (Offb 13,11-18).
Laut Johannes wird das zweite Tier wie ein "Drache" (Teufel) reden. Das dürfte Nostradamus mit den "Anmaßungen" in der zweiten Zeile gemeint haben. Der Teufel ist ja wegen seiner Anmaßung, gottgleich sein zu wollen, aus dem Himmel vertrieben worden.
Das zweite Tier wird auch "alle" töten, die sich weigern, wie befohlen das wunderbare Standbild des ersten Tieres anzubeten. Das sind die "extremen Schrecken" bei Nostradamus.
Diese Entwicklungen im religiösen und politischen Bereich gehören sicher zu den "großen Veränderungen" von denen unser Seher in der ersten Zeile spricht. Doch in Zeile vier erfahren wir, dass sich nur wenig später auch der Himmel bzw. die Position der Erde im Raum verändern wird (vgl. Anmerkung 3). Dass es während der biblischen Endzeit zu Derartigem kommt, erfahren wir an mehreren Stellen der Heiligen Schrift. Z. B.:
"Und ich sah: Das Lamm öffnete das sechste Siegel. Da entstand ein gewaltiges Beben. Die Sonne wurde schwarz wie ein Trauergewand und der ganze Mond wurde wie Blut. Die Sterne des Himmels fielen herab auf die Erde, wie wenn ein Feigenbaum seine Früchte abwirft, wenn ein heftiger Sturm ihn schüttelt" (Offb 6,12-14).
"Der vierte Engel blies seine Posaune. Da wurde ein Drittel der Sonne und ein Drittel des Mondes und ein Drittel der Sterne getroffen, sodass sie ein Drittel ihrer Leuchtkraft verloren und der Tag um ein Drittel dunkler wurde und ebenso die Nacht" (Offb 8,12).
"Sofort nach den Tagen der großen Not wird sich die Sonne verfinstern und der Mond wird nicht mehr scheinen; die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden" (Mt 24,29).
"Es werden Zeichen sichtbar werden an Sonne, Mond und Sternen, und auf der Erde werden die Völker bestürzt und ratlos sein über das Toben und Donnern des Meeres. Die Menschen werden vor Angst vergehen in der Erwartung der Dinge, die über die Erde kommen; denn die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden" (Lk 21,25f.).
Was hier gemeint ist, ist unklar. Sollte die Erdachse kippen, so dass es aussieht als würden die Sterne Richtung Horizont "hinunter fallen"? Was auch immer in der Endzeit im kosmologischen Bereich geschehen wird, die Frage, ob Veränderungen wie etwa ein Kippen der Erdachse nach unseren heutigen wissenschaftlichen Kenntnissen überhaupt möglich sind, zielt daneben. Denn zur Zeit der Apokalypse kämpfen Satan und Gott um unsere Welt, so dass es auch durchaus zu Erscheinungen kommen kann, für die es in unserem wissenschaftlichen Weltbild für gewöhnlich keinen Platz gibt.
3/92
Le monde proche du dernier periode1),
Saturne encor2) tard3) sera de retour:
Translat5) empire deuers nation Brodde4):
L’œil6) arraché à Narbon7) par Autour8).
1) Im Mittelfranzösischen bedeutet "dernier periode" Ruin, Zerfall, Untergang usw. Wörtlich übersetzt heißt es einfach "letzte Phase".
Die Welt [wird] dem Untergang1) nahe [sein].
Saturn wird zu jenem Zeitpunkt2) spät3) zurückkehren.
[Die] Herrschaft [wird der] allobrogischen4) Nation übertragen5) [sein].
Das Auge6) [wird] in Narbonne7) vom Habicht8) herausgerissen [werden].
2) Oder u. a. auch: "ein anderes Mal, zukünftig; zudem".
3) Oder Nostradamus meint das lat. "tardus" (langsam).
4) Altfranzösisch "brode“ (braun, schwarz; schwach, dekadent). LE PELLETIER vermutet hier die Brodiontii. Die Brodiontii (oder Bodiontici) waren einer der keltisch-ligurischen Volksstämme in den Alpen, die von Augustus unterworfen wurden. Auf ihrem Siedlungsgebiet gründeten die Römer die Stadt Dinia, das heutige Digne-les-Bains, ein Kurort in den südlichen Westalpen, etwa 100 km nordöstlich von Marseille. CLÉBERT, S. 446, zitiert jedoch eine Stelle in Cäsar Nostradamus’ Werk über die Geschichte der Provence aus dem Jahr 1614, die wahrscheinlich die "brodes" identifizieren dürfte: "Les Allobroges que les Provençaux par corruption et syncope appellent Brodes". "Brodes" scheint in der Provence also eine Verkürzte und veränderte Form von "Allobroges" gewesen zu sein: Allobroges - Broges - Brodes! Die Allobroger lebten im südöstlichen Frankreich, zwischen Alpen, Genfer See, Rhone und Isère.
5) Lat. "translatum" (u. a. übertragen).
6) Mit diesem "Auge" könnte ein guter Herrscher gemeint sein, vgl. 5.160: 7/11 und 5.147: 3/55.
7) Nahe der südwestfranzösischen Mittelmeerküste gelegen.
8) Oder genereller: "Greifvogel". Das griechische Wort für "Habicht" lautet "hierax". Antiochos Hierax (ca. 263 - 227 v. Chr.) war der jüngere Sohn des Seleukidenherrschers Antiochos II. Nach dem Tod des Vaters erhob Antiochos Hierax Herrschaftsansprüche gegen seinen älteren Bruder und Thronfolger Seleukos II. Kallinikos. Antiochos Hierax baute in Kleinasien eine eigene Herrschaft auf und konnte sich mit dieser einige Jahre behaupten, bis er von König Attalos I. von Pergamon vertrieben wurde und nach Ägypten fliehen musste. Nostradamus könnte hier also gemeint haben, dass in Narbonne ein guter Herrscher (vgl. Anmerkung 6) von einem Usurpator - vielleicht aus der eigenen Familie - besiegt oder getötet werden wird.
In der Zeit von Satans letztem Aufstand wird Frankreich von den Allobrogern beherrscht.
Gemäß Zeile eins wird sich die Welt in 3/92 kurz vor dem Ende befinden, was den Vierzeiler der Apokalypse zuordnet. Die Apokalypse selber lässt sich in vier Phasen gliedern: 1.) Aufstieg und Herrschaft des Antichristen, 2.) Wiederkunft Christi, Schlacht von Harmageddon und Tausendjähriges Reich Christi, 3.) Letzter Aufstand Satans, 4.) Endsieg Gottes über Satan und die Errichtung von Gottes neuer Welt. Zwar wird sich schon die Zeit des Tausendjährigen Reiches deutlich von der Welt unterscheiden, wie wir sie heute kennen, doch scheint diese Epoche immer noch Teil unserer Welt zu sein. Erst mit dem Erscheinen Gott-Vaters und dem Jüngsten Gericht beginnt die Zeit der neuen Welt. In der Offenbarung des Johannes lesen wir dazu u. a.:
"Dann sah ich einen großen weißen Thron und den, der auf ihm saß; vor seinem Anblick flohen Erde und Himmel und es gab keinen Platz mehr für sie" (Offb 20,11)
und
"Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr" (Offb 21,1).
In der zweiten Zeile von 3/92 lesen wir, dass "Saturn" spät - kurz vor dem Ende unserer alten Welt - noch einmal zurückkehren wird. Ähnlich wie in 10/74 dürfte hier mit dem Sensenträger Saturn nicht der Planet sondern der Tod gemeint sein.
In Christi Tausendjährigem Reich scheint der Tod bereits nicht mehr zu existieren, jedenfalls für jene, die als Märtyrer sterben und anschließend mit Christus zusammen herrschen werden. In Offb 20,4 lesen wir dazu:
"Dann sah ich Throne; und denen, die darauf Platz nahmen, wurde das Gericht übertragen. Ich sah die Seelen aller, die enthauptet worden waren, weil sie an dem Zeugnis Jesu und am Wort Gottes festgehalten hatten. Sie hatten das Tier und sein Standbild nicht angebetet und sie hatten das Kennzeichen nicht auf ihrer Stirn und auf ihrer Hand anbringen lassen. Sie gelangten zum Leben und zur Herrschaft mit Christus für tausend Jahre. Die übrigen Toten kamen nicht zum Leben, bis die tausend Jahre vollendet waren. Das ist die erste Auferstehung."
Doch der Tod wird zu einem späten Zeitpunkt in der Geschichte der Welt noch einmal zurückkehren. Und zwar bei der Niederschlagung von Satans letztem Aufstand nach dem Tausendjährigen Reich Christi:
"Wenn die tausend Jahre vollendet sind, wird der Satan aus seinem Gefängnis freigelassen werden. Er wird ausziehen, um die Völker an den vier Ecken der Erde, den Gog und den Magog, zu verführen und sie zusammenzuholen für den Kampf; sie sind so zahlreich wie die Sandkörner am Meer. Sie schwärmten aus über die weite Erde und umzingelten das Lager der Heiligen und Gottes geliebte Stadt. Aber Feuer fiel vom Himmel und verzehrte sie. Und der Teufel, ihr Verführer, wurde in den See von brennendem Schwefel geworfen, wo auch das Tier und der falsche Prophet sind. Tag und Nacht werden sie gequält, in alle Ewigkeit" (Offb 20,7-10).
Anschließend folgt das Jüngste Gericht, bei dem die Verdammten dem "zweiten Tod" überantwortet werden:
"Der Tod und die Unterwelt aber wurden in den Feuersee geworfen. Das ist der zweite Tod: der Feuersee. Wer nicht im Buch des Lebens verzeichnet war, wurde in den Feuersee geworfen" (Offb 20,14f.).
Doch bis es soweit ist, wird Satan mittels seines "Mondes" aber noch mindestens zwanzig Jahre auf der Welt herrschen und zum Aufstand gegen Gott hetzen, vgl. 1/48. In diese kurze Phase dürften die dritte und vierte Zeile von 3/92 gehören. Zu deren vollem Verständnis fehlen uns zur Zeit jedoch noch die Begleitstrophen. Es scheint allerdings um Vorgänge in Frankreich zu gehen. In Narbonne wird ein "Auge" von einem "Habicht" herausgerissen, d. h. möglicherweise ein guter Herrscher von einem Usurpator besiegt werden, vgl. Anmerkung 8. Doch in welchem Verhältnis steht Letzterer zum "Mond" bzw. Satan?
In der dritten Zeile ist wohl gemeint, dass Frankreich (die "Herrschaft") von den Allobrogern, d. h. Leuten aus dem Südosten des Landes regiert werden wird. Der erwähnte "Habicht" könnte dabei deren Anführer sein. Jedenfalls werden die Allobroger an die Macht gelangen, wenn der "Habicht" in Narbonne den guten und wohl rechtmäßigen französischen Herrscher vernichtet.
1/48
Vingt ans du regne de la lune passés
Sept mil ans autre1) tiendra sa monarchie:2)
Quand le soleil prendra4) ses iours lassés3)
Lors accomplir & mine5) ma prophetie.
1) BRIND’AMOUR, S. 118f., korrigiert hier zu "outre" (darüber hinaus). Die ersten beiden Zeilen wären dann etwa so zu verstehen: "Zwanzig Jahre der Herrschaft des Mondes [werden] vergangen [sein], über siebentausend Jahre hinaus wird [er] seine Herrschaft aufrechterhalten." CLÉBERT, S. 127-129, und GRUBER, S. 238 u. 287 folgen hier BRIND’AMOUR. Der Letztgenannte bezieht sich hier einmal mehr auf das Werk Livre de l'estat et mutation des temps des Astrologen Richard ROUSSAT aus dem Jahr 1550. Diesem zufolge regiert jeder der sieben astrologischen Planeten (Saturn, Venus, Jupiter, Merkur, Mars, Mond, Sonne) etwas mehr als 354 Jahre, wobei diese Siebnerreihe nach ihrem Ende immer wieder von vorne beginnt. Angefangen habe diese Abfolge der Planetenherrschaften bei der Erschaffung der Welt um 5200 v. Chr. 1533 begann wieder die Herrschaft des Mondes. Rund zwanzig Jahre später (etwa 1554 oder 1555) hat Nostradamus den obigen Vierzeiler verfasst, worauf er sich in der ersten Zeile beziehen soll. Der Mond regierte aber auch nach 1555 weiter, und zwar bis ins Jahr 1887, also 7086 Jahre nach ROUSSATs Erschaffung der Welt 5200 v. Chr. Und das habe Nostradamus gemeint, als "er" (?) geschrieben habe "über siebentausend Jahre hinaus ..." (vgl. auch GRUBER, S. 238).
Zwanzig Jahre der Herrschaft des Mondes [werden] vergangen [sein],
- siebentausend Jahre [und ein] Anderer1) [wird] seine Herrschaft ausüben2) -
wenn die Sonne ihre schwachen3) Tage erleiden4) wird,
dann wird meine Prophezeiung sich erfüllen und drohen5).
2) Oder auch: "Siebentausend Jahre wird [ein] Anderer seine Herrschaft ausüben." In der biblischen Apokalypse taucht allerdings keine siebentausendjährige Herrschaft auf. Man könnte allenfalls diese siebentausend Jahre als dichterische Umschreibung für "ewig" verstehen. Mit einer solchen Herrschaft wäre dann aber die Herrschaft Gottes auf der Erde gemeint, vgl. Offb 20,11 - 22, 5. Über diese lesen wir in Offb 22, 3-5: "Der Thron Gottes und des Lammes wird in der Stadt [d. h. im neuen Jerusalem] stehen, und seine Knechte werden ihm dienen. […] der Herr, ihr Gott wird über ihnen leuchten, und sie werden herrschen in alle Ewigkeit."
3) Oder: "müden, unglücklichen".
4) "Prendre" (nehmen) weist im Mittelfranzösichen u. a. auch die Bedeutung von "auf sich nehmen, erleiden, erdulden" auf.
5) Hier könnte es statt "accomplir & mine" tatsächlich "s’accomplir & miner" heißen, vgl. BRIND’AMOUR.
Satans letzter Aufstand, das zweite Tier der Apokalypse und die Ankündigung des Jüngsten Gerichts.
In der ersten Zeile taucht der Mond auf, der wieder für das zweite apokalyptische Tier stehen dürfte (vgl. 1/84). Es wird mindestens zwanzig Jahre herrschen. Von einer mehr als zwanzigjährigen Herrschaft eines der beiden apokalyptischen Tiere steht in der Offenbarung des Johannes aber nichts. Wir wissen vielmehr, dass das erste Tier, der Antichrist, bloß dreieinhalb Jahre herrschen wird:
"Und es [das erste Tier] wurde ermächtigt, mit seinem Maul anmaßende Worte und Lästerungen auszusprechen; es wurde ihm Macht gegeben, dies zweiundvierzig Monate zu tun" (Offb 13,5)
oder
"Von der Zeit an, in der man das tägliche Opfer abschafft und den unheilvollen Gräuel aufstellt, sind es zwölfhundertneunzig Tage" (Dan 12,11).
Zu Ende gehen werden die erwähnten dreieinhalb Jahre mit der Schlacht von Harmagedon (2/27) und der Niederlage des ersten Tieres. Das erste Tier und der falsche Prophet werden daraufhin "gepackt" und "bei lebendigem Leib [...] in den See von brennendem Schwefel geworfen" (Offb 19,20). Dem zweiten Tier hingegen scheint der See von brennendem Schwefel vorerst erspart zu bleiben.
Gemäß Nostradamus wird das zweite Tier noch mindestens zwanzig Jahre herrschen können. Allerdings nicht direkt nach der Schlacht von Harmageddon. Nach dieser Schlacht wird im Gegenteil Satan gefesselt und Christi Tausendjähriges Reich errichtet werden (vgl. 8/95, 2/13, 10/99, 4/5). Über das Schicksal des zweiten Tieres erfahren wir bei Johannes nichts. Es wäre möglich, dass das zweite Tier zusammen mit Satan und seinen (anderen) Dämonen tausend Jahre lang gefesselt bleiben wird. Die erwähnte mindestens zwanzigjährige Herrschaft des zweiten Tieres kann jedenfalls nur nach dem Tausendjährigen Reich anzusiedeln sein, wenn Satan seinen letzten Aufstand vom Zaun bricht.
Gemäß Nostradamus scheint der letzte Aufstand konkret so vonstatten zu gehen, dass Satan über das zweite Tier, den "Mond", seinen Plan zu verwirklichen sucht. Der "Mond" könnte dabei vielleicht in irgend einem Land als Herrscher eingesetzt werden und dort mindestens zwanzig Jahre an der Macht bleiben. Während diesen mehr als zwei Jahrzehnten wird er aber wohl seinen Einfluss auf der Welt ausbauen und versuchen, die Menschheit hinter sich zu scharen. Bei Johannes lesen wir, dass Satan "an die vier Ecken der Welt" ausziehen wird, um Gog und Magog zu verführen und zum Kampf gegen Jerusalem zu versammeln (Offb 20,7-10). Und über das Ende von Satans letztem Aufbäumen ist Johannes zu entnehmen: "Aber Feuer fiel vom Himmel und verzehrte sie. Und der Teufel, ihr Verführer, wurde in den See von brennendem Schwefel geworfen, wo auch das [erste] Tier und der falsche Prophet sind. Tag und Nacht werden sie gequält, in alle Ewigkeit."
In der zweiten Zeile von 1/48 könnte sich Nostradamus auf eine Stelle in der "occulta philosophia", den "Magischen Werken" des AGRIPPA VON NETTESHEIM beziehen. Im zehnten Kapitel des zweiten Buches über die Zahl Sieben und ihre Leiter ist u. a. zu lesen:
"Accomodatur etiam saturno, qui ab inferioribus ascendendo septimus est planetarum, qui requiem innuit, cui septimus dies adscribitur, qui millenarium septimum indicat quo (teste Ioanne) captivato dracone, malorum suggestore diabolo, quiescent mortales, tranquillam vitam degentes."
(Die Zahl Sieben wird ferner dem Saturn zugeteilt, der von unten gezählt der siebte Planet ist, er bedeutet Ruhe; ihm ist der siebte Tag geweiht, und er wird das siebte Jahrtausend anzeigen, in welchem (nach dem Zeugnis des Johannes), wenn der Drache (Teufel), der Urheber allen Übels, gefangen ist, die Sterblichen ruhen und ein friedliches Leben führen werden.)
AGRIPPA VON NETTESHEIM meint mit dem "siebten Jahrtausend" offensichtlich das Tausendjährige Reich Christi: die Zeit, in der Satan gefangen ("captivato") aber noch nicht im "See von brennende Schwefel" (Offb 20,10), seinem letzten und endgültigen Aufenthaltsort, ist.
Bei Nostradamus haben wir in 1/48 das Jahr 7000 erreicht, d. h. das siebte Jahrtausend steht in seinem letzten Jahr. Es ist zwar verlockend, jetzt bestimmen zu wollen, auf welches Datum sich dieser Vierzeiler bezieht. Doch ich vermute, unserer Seher hat hier mit Blick auf AGRIPPA VON NETTESHEIM das "siebte Jahrtausend" lediglich als Synonym für Christi tausendjähriges Friedensreich verwendet und nicht als konkrete Zeitangabe. Im seinem Sohn gewidmeten Vorwort schreibt Nostradamus nämlich, dass seine Prophezeiungen lediglich bis ins "Jahr 3797" reichen. Nach meinem Dafürhalten ist damit zwar das Jahr 5351/52 n. Chr. gemeint, doch liegt auch bei dieser Interpretation das Jahr 7000 weit außerhalb des Zeitrahmens. Im zweiten Vorwort, der Widmung an König Heinrich II., bietet Nostradamus gleich zwei Daten an, an denen die Welt erschaffen worden sein soll. Einmal 4758/59 v. Chr. und einmal 4174 v. Chr. Von diesen ausgehend fiele ein Jahr 7000 entweder auf 2242/43 n. Chr. oder 2826 n. Chr. Da aber laut 1/48 in diesen Jahren Christi Tausendjähriges Reich bereits zu Ende gehen würde, müssten wir heute - im Jahr 2009 n. Chr. - schon in diesem Reich leben, was aber ganz offensichtlich nicht der Fall ist.
Die Entscheidung für dieses Synonym und für die Formulierung "siebentausend Jahre" wurde allerdings sicher nicht zufällig getroffen. Wir müssen wohl eher davon ausgehen, dass Nostradamus hier wieder eine seiner Fallen aufgestellt hat. Dieses Mal für allzu zahlenbegeisterte und rechenfreudige Leser der Vergangenheit.
Der "Andere", der nach dem "siebentausendsten Jahr" seine Herrschaft ausüben wird, ist der schon in der ersten Zeile erwähnte "Mond". Dieser wird also wenigstens zwanzig Jahre lang herrschen. Gemäß Zeile drei von 1/48 wird die Sonne dann ihre "schwachen Tage" erleiden. Die Sonne ist der Gegenpol des Mondes und dürfte somit das Christentum meinen, die Religion mit dem Sonntag als Feiertag (lat. "dies Solis" = Tag der Sonne = Sonntag). Die Christen werden während der zwanzigjährigen Herrschaft des "Mondes" ohne Zweifel die sprichwörtliche "Hölle auf Erden" erleben.
Doch mit den "schwachen Tagen" der Sonne spielt Nostradamus wohl auch noch auf etwas Anderes an. Wie der Bibel zu entnehmen ist, werden sich während der Endzeit auch Veränderungen im kosmologischen Bereich ereignen, bei denen auch immer wieder von der Sonne die Rede ist (vgl. 1/56). Als konkrete Beispiele dafür seien hier nur zwei Stellen aus der Offenbarung des Johannes zitiert:
"Und ich sah: Das Lamm öffnete das sechste Siegel. Da entstand ein gewaltiges Beben. Die Sonne wurde schwarz wie ein Trauergewand und der ganze Mond wurde wie Blut. Die Sterne des Himmels fielen herab auf die Erde, wie wenn ein Feigenbaum seine Früchte abwirft, wenn ein heftiger Sturm ihn schüttelt" (Offb 6,12-14).
"Der vierte Engel blies seine Posaune. Da wurde ein Drittel der Sonne und ein Drittel des Mondes und ein Drittel der Sterne getroffen, sodass sie ein Drittel ihrer Leuchtkraft verloren und der Tag um ein Drittel dunkler wurde und ebenso die Nacht" (Offb 8,12).
Was nach diesen kosmischen Veränderungen passieren wird, erfahren wir in der vierten Zeile von 1/48. Nostradamus schreibt, dass die Prophezeiung aus diesem Vierzeiler eine Drohung sein wird, wenn sie sich erfüllt. Im Zusammenhang mit der Apokalypse müsste damit das Jüngste Gericht gemeint sein, vor dem alle zu zittern haben, die vorher von Gott abfallen. In der Offenbarung des Johannes lesen wir dazu:
"Dann sah ich einen großen weißen Thron und den, der auf ihm saß; vor seinem Anblick flohen Erde und Himmel und es gab keinen Platz mehr für sie. Ich sah die Toten vor dem Thron stehen, die Großen und die Kleinen. Und Bücher wurden aufgeschlagen; auch das Buch des Lebens wurde aufgeschlagen. Die Toten wurden nach ihren Werken gerichtet, nach dem, was in den Büchern aufgeschrieben war. Und das Meer gab die Toten heraus, die in ihm waren; und der Tod und die Unterwelt gaben ihre Toten heraus, die in ihnen waren. Sie wurden gerichtet, jeder nach seinen Werken. Der Tod und die Unterwelt aber wurden in den Feuersee geworfen. Das ist der zweite Tod: der Feuersee. Wer nicht im Buch des Lebens verzeichnet war, wurde in den Feuersee geworfen" (Offb 20,11-15).
10/74
An reuolu1) du grand nombre septiesme2)
Apparoistra au temps Ieux d’Hecatombe3),
Non esloigné du grand aage milliesme4),
Que les entrés5) sortiront de leur tombe.
1) Lies: "Au reuolu", vgl. CLÉBERT, S. 1141f. (eigentlich: "beim Abgelaufenen" oder "beim Umgelaufenen"). "An reuolu" hieße "[Das] abgelaufene Jahr". Mit dem "Abgelaufenen" ist wohl ein vollendeter Umlauf eines Planeten (hier des Saturns) gemeint, vgl. Anmerkung 2.
Beim vollendeten Umlauf1) der großen siebten Zahl2)
wird [sich] zur Zeit der Hekatombenspiele3) zeigen,
nicht fern des großen Zeitalter [des] Tausendsten4),
dass die Hineingegangenen5) aus ihren Gräbern heraussteigen werden.
2) Die "große siebte Zahl" ist der Saturn. Gemäß dem vorkopernikanischen Weltbild wurde die Erde von folgenden Himmelkörpern umkreist: 1.) Mond, 2.) Merkur, 3.) Venus, 4.) Sonne, 5.) Mars, 6.) Jupiter, 7.) Saturn. Ein Saturnumlauf dauert etwa 29,5 Jahre. Dem Saturn ("dem großen Unglück") werden in der Astrologie u. a. die Trauer, die Leichen und die Gräber zugeordnet. Er wird in menschlicher Gestalt oft mit einer Sichel oder Sense dargestellt und entspricht so in etwa "Gevatter Tod". Vor diesem Hintergrund könnte die erste Zeile auch so verstanden werden, dass die Herrschaft des Todes, die für die Menschen mit der Vertreibung aus dem Paradies begonnen hatte, jetzt zu Ende geht.
3) Hekatomben waren große Tieropfer für die Götter. Im übertragenen Sinn werden damit auch Massaker bezeichnet. Mit den Hekatombenspielen verweist Nostradamus wohl ebenfalls auf die blutigen Zirkusspiele der Römer, die "circenses". In Griechenland bzw. Athen wurden im ersten Monat eines neuen Jahres zu Ehren der Götter Hekatomben (Tieropfer) dargebracht. Dieser erste Monat hieß deshalb "Hekatombaion" (Mitte Juli bis Mitte August). Nostradamus könnte hier gemeint haben, dass mit diesen Massakern gleichzeitig ein neues "Jahr" anbricht. Dass hier aber nicht ein gewöhnliches "Jahr" sondern eine Epoche, ein "Weltenjahr" gemeint wäre, wird aus dem Rest des Vierzeilers deutlich.
4) Mit dem "grand aage milliesme" ("das große tausendste Zeitalter" oder auch "das große Zeitalter [des] Tausendsten") ist wohl das Tausendjährige Reich Christi auf Erden, das "Zeitalter des tausendsten Jahres" gemeint.
5) In diesem Zusammenhang wohl die Toten, die schon in die Gräber "hineingegangen" waren.
Nicht lange nach Christi Tausendjährigem Reich kommt es zur letzten Schlacht Gottes gegen Satan und zur Auferstehung der Toten. Die Herrschaft des Todes auf der Welt geht zu Ende.
In der vierten Zeile ist von der Auferstehung der Toten die Rede, was den Vierzeiler der biblischen Apokalypse zuordnet. In der Offenbarung des Johannes finden wir zwei Auferstehungen. Die erste bei Offb 20,4-6 und die zweite bei Offb 20,11-15.
Über die erste schreibt Johannes: "Dann sah ich Throne; und denen, die darauf Platz nahmen, wurde das Gericht übertragen. Ich sah die Seelen aller, die enthauptet worden waren, weil sie an dem Zeugnis Jesu und am Wort Gottes festgehalten hatten. Sie hatten das [erste] Tier und sein Standbild nicht angebetet und sie hatten das Kennzeichen nicht auf ihrer Stirn und auf ihrer Hand anbringen lassen. Sie gelangten zum Leben und zur Herrschaft mit Christus für tausend Jahre. Die übrigen Toten kamen nicht zum Leben, bis die tausend Jahre vollendet waren. Das ist die erste Auferstehung. Selig und heilig, wer an der ersten Auferstehung teilhat. Über solche hat der zweite Tod keine Gewalt. Sie werden Priester Gottes und Christi sein und tausend Jahre mit ihm herrschen."
Über die zweite Auferstehung ist zu lesen:
"Dann sah ich einen großen weißen Thron und den, der auf ihm saß; vor seinem Anblick flohen Erde und Himmel und es gab keinen Platz mehr für sie. Ich sah die Toten vor dem Thron stehen, die Großen und die Kleinen. Und Bücher wurden aufgeschlagen; auch das Buch des Lebens wurde aufgeschlagen. Die Toten wurden nach ihren Werken gerichtet, nach dem, was in den Büchern aufgeschrieben war. Und das Meer gab die Toten heraus, die in ihm waren; und der Tod und die Unterwelt gaben ihre Toten heraus, die in ihnen waren. Sie wurden gerichtet, jeder nach seinen Werken. Der Tod und die Unterwelt aber wurden in den Feuersee geworfen. Das ist der zweite Tod: der Feuersee. Wer nicht im Buch des Lebens verzeichnet war, wurde in den Feuersee geworfen."
Zwischen diesen beiden Auferstehungen liegt das Tausendjährige Reich Christi auf Erden, das Nostradamus in der dritten Zeile erwähnen dürfte, vgl. Anmerkung 4.
Doch welche der beiden Auferstehungen ist bei Nostradamus gemeint? In der zweiten Zeile lesen wir von "Hekatombenspielen", was auf ein großes Massaker hindeutet, das seinerseits eine neue Epoche einleiten dürfte, vgl. Anmerkung 3. Leider gibt es auch hier zwei Möglichkeiten. Zum einen die Schlacht von Harmagedon (vgl. 2/27), die kurz vor dem Tausendjährigen Reich Christi geschlagen werden wird (Offb 16,16 und 19,11-21) und zum anderen der endgültige Sieg Gottes über Satan und die von ihm verführten Gog und Magog nach Ende des Tausendjährigen Reiches (Offb 20,7-10).
Gemäß Johannes wird Christus bei Harmagedon auf einem weißen Pferd erscheinen, bekleidet mit einem blutgetränkten Gewand und mit vielen Diademen auf dem Kopf. Seine Augen werden wie Feuerflammen sein und aus seinem Mund wird ein scharfes Schwert kommen, mit dem er die feindlichen Völker schlagen wird. Begleitet wird Christus von den Heeren des Himmels, die auf weißen Pferden reiten werden. In der Sonne wird dann ein Engel stehen, der alle Vögel zusammenrufen wird, damit sie das Fleisch der getöteten Feinde fressen. Bei Harmagedon werden alle Feinde getötet werden außer dem ersten Tier und dem falschen Propheten. Die beiden werden in einen See aus brennendem Schwefel geworfen, wo sie in alle Ewigkeit Qualen erdulden müssen. Der Ort dieser grausamen Schlacht wird heute bei Megiddo (in Nordisrael) vermutet, da "Harmagedon" als Berg ("Har") von Megiddo gedeutet werden kann.
Nach Ende des Tausendjährigen Reiches kommt es (bei Jerusalem) zur letzten Schlacht. Bei Johannes lesen wir:
"Wenn die tausend Jahre vollendet sind, wird der Satan aus seinem Gefängnis freigelassen werden. Er wird ausziehen, um die Völker an den vier Ecken der Erde, den Gog und den Magog, zu verführen und sie zusammenzuholen für den Kampf; sie sind so zahlreich wie die Sandkörner am Meer. Sie schwärmten aus über die weite Erde und umzingelten das Lager der Heiligen und Gottes geliebte Stadt. Aber Feuer fiel vom Himmel und verzehrte sie. Und der Teufel, ihr Verführer, wurde in den See von brennendem Schwefel geworfen, wo auch das [erste] Tier und der falsche Prophet sind. Tag und Nacht werden sie gequält, in alle Ewigkeit."
Was besser zum Sieg über Gog und Magog passen würde, ist der Umstand, dass Feuer vom Himmel fallen (d. h. von Gott kommen) und die Feinde verbrennen wird. In der Antike wurden Tiere den Göttern geopfert und dabei auch verbrannt. Nach der Schlacht von Harmagedon scheinen die Leichen der getöteten Feinde hingegen auf dem Schlachtfeld zu verbleiben und den Vögeln zum Fraß überlassen zu werden.
Beide Schlachten leiten neue Epochen der Menschheitsgeschichte ein, das Tausendjährige Reich Christi und Gottes neue Welt (vgl. zu letzterer Offb 21 und 22,1-5). Allerdings unterscheidet sich Gottes neue Welt stärker von der bisherigen als es das Reich Christi tut. Denn der Tod und die Unterwelt werden erst nach Ablauf der tausend Jahre vernichtet werden. D. h. für diejenigen, die die erste Auferstehung nicht mitmachen konnten, bleibt bis zur zweiten Auferstehung alles beim Alten.
In der ersten Zeile gibt Nostradamus einen weiteren Hinweis. Er spricht davon, dass die Auferstehung der Toten beim "vollendeten Umlauf des Saturns" stattfinden wird (vgl. Anmerkungen 1 und 2). Begreifen wir diese Zeile weniger im astronomischen als im biblisch-sinnbildlichen Sinne, ist die Botschaft recht klar: Saturn, das "große Unglück", der Tod, hat seinen Weg durch die Geschichte (seinen Umlauf) abgeschlossen. Einen Weg, den er bei der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies begonnen hatte und der jetzt ein Ende findet: "Der Tod und die Unterwelt aber wurden in den Feuersee geworfen. Das ist der zweite Tod: der Feuersee" (Offb 20,14). Gott vernichtet den Tod, der Mensch erhält nach der zweiten Auferstehung die Unsterblichkeit zurück, vgl. Offb 21,1-4: "Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr. Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen."
5/75
Montera haut sur1) le bien plus à dextre2),
Demourra assis sur la pierre quarree3):
Vers le midy4) posé à la senestre,
Baston tortu5) en main, bouche serree.
1) Im Mittelfranzösischen heißt "sur" u. a. auch "zu, bei".
[Er] wird [sich] hoch zum1) Guten [und] zudem zur Rechten2) erheben
[und] auf dem Quaderstein3) sitzen bleiben.
Gegen Süden4), [der] zur Linken liegt,
[wird er - den] Hirtenstab5) in der Hand - [den] Mund geschlossen [haben].
2) D. h. wohl auf die rechte Seite des Guten.
3) Hier handelt es sich um einen Stein mit viereckigem oder sogar quadratischem Grundriss.
4) Oder: "Mittag". Vielleicht auch im Sinne des lat. "medium" zu verstehen (u. a. Öffentlichkeit, Publikum, menschliche Gesellschaft).
5) Wörtlich: "gedrehter Stab".
Das Jüngste Gericht. Jesus sitzt zur Rechten des Vaters und richtet die Welt.
Wie bei 5/6 (5.38) stammt die Vorlage für 5/75 aus LIVIUS’ Ab urbe condita, Buch I, Kapitel 18 (vgl. GRUBER, S. 172f. und CLÉBERT, S. 651f.). Dort wird geschildert, wie der Sabiner Numa Pompilius feierlich zum zweiten römischen König eingesetzt und vom obersten Augur (Vorzeichendeuter) bestätigt wurde. LIVIUS beschreibt, wie Numa zusammen mit dem Augur auf das Kapitol ging und dort auf einem Stein Platz nahm, wobei Numa nach Süden schaute. Der Augur selber setzte sich links von Numa nieder. Der Augur trug dabei eine Kopfbedeckung und hielt in seiner rechten Hand einen gekrümmten Stab:
"Inde ab augure, cui deinde honoris ergo publicum id perpetuumque sacerdotium fuit, deductus in arcem, in lapide ad meridiem versus consedit. Augur ad laevam eius capite uelato sedem cepit, dextra manu baculum sine nodo aduncum tenens quem lituum appellarunt."
(Er [Numa] wurde also von einem Seher [Augur, Beobachter des Vogelflugs], zu dessen Ehre man nachher das Auguramt zu einem öffentlichen und bleibenden Priestertum erhob, auf die Burg geführt und setzte sich, gegen Mittag gewandt, auf einen Stein. Der Vogelschauer setzte sich mit verhülltem Haupt ihm zur Linken, in der Rechten einen krummen Stab ohne Knoten; ein solcher Augurstab wurde Lituus [Seherstab] genannt.)
Anschließend beschreibt LIVIUS die Zeremonie, die der Augur zur Einsetzung bzw. Bestätigung Numas durch Gott Jupiter vornahm.
Wenn wir die beiden Texte miteinander vergleichen, fallen einige Unterschiede auf. In der ersten Zeile von 5/75 lesen wir, dass jemand sich hoch zur Rechten von etwas oder jemandem erheben wird. Bei LIVIUS setzt sich der Augur aber zur Linken des bereits sitzenden Numa.
In der zweiten Zeile von 5/75 nimmt der Emporgestiegene auf einem viereckigen oder sogar quadratischen Stein Platz, bei LIVIUS ist nur von einem Stein die Rede. GRUBER vermutet, Nostradamus habe hier den lateinischen Text einfach falsch verstanden. Wahrscheinlicher dürfte aber sein, dass dieser viereckige Stein als Sinnbild für die Welt mit ihren vier Himmelsrichtungen zu verstehen ist, vgl. die Ausführungen von CLÉBERT, S. 652.
Bei LIVIUS blickt der sitzende Augur mit dem Seherstab in der Hand Richtung Süden. Bei Nostradamus scheint der "Augur" jedoch nach Westen zu blicken, da ihm der Süden zu seiner Linken zu liegen kommt (dritte Zeile).
Von einem "geschlossenen Mund" wie in der vierten Zeile von 5/75 lesen wir bei LIVIUS nichts. Man könnte die Stelle aber als Hinweis darauf verstehen, dass diese Inaugurationszeremonie - zunächst - bei absoluter Stille durchgeführt werden musste (vgl. GRUBER und CLÉBERT).
Interessant ist, dass sich der "Augur" in der ersten Zeile wohl zur Rechten des "Guten" hin erhebt (PRÉVOST, S. 59f., und CLÉBERT sehen in "bien" allerdings bloß ein falsch gesetztes "lieu"). In der Vorlage des LIVIUS wird der römische König vom obersten Gott, Jupiter, als solcher bestätigt. Jupiter trug aber - gerade auf dem Kapitol, wo Numas Inauguration stattfand (vgl. auch PLUTARCH, Die Leben, Numa, 7) - die Bezeichnung "Iuppiter Optimus Maximus - I.O.M.", d. h. "Jupiter, der Beste und Größte". Nach der Christianisierung wurde dieser Ehrentitel auf Gott übertragen: "Deus Optimus Maximus - D.O.M." Sollte Nostradamus also vorhergesagt haben, dass der heidnische Gott Jupiter - in Persona (!) - auf der Erde erscheinen wird? Dass er jedenfalls vorhergesagt hat, dass Gott auf unseren Planeten herniedersteigen wird, lässt sich aus 3/2 folgern. Dort kommt nämlich das neue Jerusalem aus dem Himmel herab, die Wohnung Gottes unter den Menschen (vgl. Offb 21,2f.).
Dafür, dass mit dem "Guten" bei Nostradamus eher Gott (-Vater) denn Jupiter gemeint ist, könnte auch eine Stelle aus dem Markus-Evangelium sprechen: "Als sich Jesus wieder auf den Weg machte, lief ein Mann auf ihn zu, fiel vor ihm auf die Knie und fragte ihn: Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Jesus antwortete: Warum nennst du mich gut? Niemand ist gut außer Gott, dem Einen. [...]" (Mk 10,17f.).
Wenn wir also in der ersten Zeile von 5/75 wohl auf Gott-Vater treffen, wer ist dann der "Augur" auf dessen rechter Seite? Jesus, der Sohn Gottes, der gemäß Credo zur Rechten des Vaters sitzt: ("Et in unum Dominum Jesum Christum, Filium Dei unigenitum. [...] sedet ad dexteram Patris"). Christus, der gleichzeitig der wahre, vollkommene Hohepriester ist (vgl. Hebr 7,22-28). Dazu passt auch der gedrehte Hirtenstab bei Nostradamus, der wohl an einen Bischofsstab erinnern soll.
Das Sitzenbleiben auf dem viereckigen "Weltstein" (siehe oben) ist wohl als Sinnbild für das Richteramt Christi am Jüngsten Tag und seine nicht mehr endende Herrschaft auf Erden zu verstehen, vgl. wieder das Credo: "sedet ad dexteram Patris. Et iterum venturus est cum gloria iudicare vivos et mortuos, cuius regni non erit finis. (Er sitzt zur Rechten des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und die Toten; seiner Herrschaft wird kein Ende sein.)"
Als Richter wendet sich Christus nach links, wobei er den Mund geschlossen hat. Hier bezieht sich Nostradamus auf Matthäus 25,31-46, wo das Weltgericht geschildert wird:
"Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle Völker werden vor ihm zusammengerufen werden und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet. Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke aber zur Linken. Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. [...] Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! [...] Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben."
Auf der linken Seite befinden sich also die Verdammten, die dem zweiten Tod (dem "ewigen Feuer") anheimfallen werden. Doch warum lässt Nostradamus hier Jesus den Mund geschlossen haben, währenddem er bei Matthäus zu denen auf der linken Seite spricht? Das könnte beispielsweise den Augenblick widergeben, nachdem Jesu sein Urteil gesprochen und den Verdammten nichts mehr zu sagen hat. Das Jüngste Gericht ist damit beendet.
Festzuhalten gilt es noch, dass gemäß Nostradamus der wiedergekommene Christus beim Jüngsten Gericht offenbar von Ost nach West schaut. Oder der "Süden" auf der linken Seite der Verdammten ist anders zu verstehen, vielleicht als Menschenmenge, vgl. Anmerkung 4.
3/2
Le diuin verbe1) donrra à la sustance2)
Cõprîs ciel terre, or occult3) au fait mystique
Corps, ame, esprit aiant toute puissance,
Tant sous4) ses pieds, cõme au siege celique.
1) Das ist Jesus Christus, der "Logos" (vgl. etwa Joh 1,14 oder Offb 19,13).
Das göttliche Wort1) wird der Substanz2),
einschließlich Himmel [und] Erde, geheimnisvolles3) Gold im mystischen Werk [geben].
[Der] Körper, [die] Seele [und der] Geist [werden] alle Macht [besitzen],
ebenso zu4) seinen Füßen wie beim himmlischen Thron.
2) Das dürfte die Materie, die materielle Welt sein. Eine Welt, die allerdings verändert sein wird (vgl. Zeile zwei!): "Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr" (Offb 21,1).
3) Oder auch: "verborgenes".
4) Oder: "unter".
Jesus bringt das neue Jerusalem, die Wohnung Gottes auf die Erde. Die neuen, unsterblichen Menschen werden mit dem dreieinen Gott in alle Ewigkeit herrschen.
Wenn in 10/74 die Auferstehung der Toten und in 5/75 das Jüngste Gericht vorhergesagt werden, folgt als nächster Schritt in der Apokalypse das in 3/2 beschriebene Herabkommen des neuen Jerusalems.
Das "mystische Werk" aus "geheimnisvollem Gold", das in der zweiten Zeile erwähnt wird, ist das neue Jerusalem, die "Wohnung Gottes unter den Menschen" (Offenbarung des Johannes 21,3). Johannes hat dieses neue Jerusalem ausführlich beschrieben, vgl. Offb 21,9 - 22,5. Wir erfahren dort u. a.: "[...] die Stadt ist aus reinem Gold, wie aus reinem Glas" (Offb 21,18) und "die Straße der Stadt ist aus reinem Gold, wie aus klarem Glas" (Offb 21,21). Dieses "reine Gold", das wie Glas sein soll, ist das von Nostradamus erwähnte "geheimnisvolle Gold". Als "mystisches" (geheimnisvolles) Werk bezeichnet unser Seher das neue Jerusalem wohl deshalb, weil es für uns Menschen etwas eigentlich Unbegreifliches ist.
In der ersten Zeile erfahren wir, dass es Jesus Christus - das "göttliche Wort" - sein wird, der dieses neue Jerusalem in die Welt bringen wird. In eine Welt, die allerdings bereits verändert sein wird (vgl. Anmerkung 2). In Offb 21,9 wird das neue Jerusalem als "Braut" bzw. "Frau des Lammes (Jesus)" bezeichnet. Es ist also der Bräutigam, der seine Braut in diese Welt bringen wird.
Zu diesem Zeitpunkt werden Tod und Unterwelt bereits vernichtet sein (vgl. Offb 20,14 und 21,4), so dass Körper, Seele und Geist des neuen Menschen die gleiche Macht besitzen, d. h. unsterblich sein werden (vgl. Zeile drei). Im neuen Jerusalem wird der Thron Gottes und des Lammes (Jesus) stehen (vgl. Offb 22,3). Zu Füßen des Lammes wie auch vor dem himmlischen Thron Gottes werden die neuen Menschen dienen, Gottes Angesicht schauen und in alle Ewigkeit herrschen (vgl. Offb 22,3 - 5).