2/3 [1] Pour la chaleur solaire sus la mer [2] De Negrepont1) les poissons demis cuits: [3] Les habitans2) les viendront entamer3) [4] Quãd Rod.5)& Gennes6) leur4) faudra le biscuit7) [1] Wegen der Sonnenglut über dem Meer [2] von Negroponte1) [werden] die Fische [im Wasser] halb gekocht [sein]. [3] Die Einwohner2) werden sie anbeißen3), [4] wenn denen4) [von] "Rod."5) und [von] Genua6) der Schiffszwieback7) fehlen wird. 1) Das ist die Insel Euböa vor der griechischen Ostküste oder deren Hauptort Chalkida. Als Folge des Vierten Kreuzzugs (1202-1204) wurde auf der Insel Euböa der Kreuzfahrerstaat Negroponte (it. "Schwarze Brücke") gegründet, der ab 1216 definitiv von Venedig beherrscht und 1311 sogar zur venezianischen Kolonie wurde. 1470 eroberten die Osmanen Negroponte. Denkbar, aber weniger wahrscheinlich ist, dass Nostradamus hier an das Schwarze Meer (lat. "Niger Pontus", eigentlich aber Pontus Euxinus) gedacht hat, vgl. PRÉVOST, S. 49. 2) "Habitant" kann im Mittelfranzösischen auch "Bauer" bedeuten. 3) "Entamer" (man beachten den speziellen Reim auf "mer", vgl. BRIND’AMOUR, S. 200!) bedeutet neben "verletzen" u. a. auch "anschneiden" oder "anbeißen", vgl. auch CLÉBERT, S. 216. Da hier von den Fischen aus der zweiten Zeile die Rede sein dürfte, ist wohl "anschneiden" oder "anbeißen" gemeint. 4) PRÉVOST, BRIND’AMOUR und CLÉBERT beziehen dieses "leur" (ihnen, denen) auf die Einwohner von Negroponte, denen die Zwiebacklieferungen aus Rhodos und Genua fehlen sollen. Mit Blick auf den Hunger und den Durst in Genua in 2/64 und 4/59 neige ich allerdings eher zur Lesart von LEONI, S. 163, der hier die Leute von Rhodos und Genua gemeint sieht. 5) "Rod." lässt sich als "Rhodos" auflösen, was gut in den griechischen Kontext passen würde. Denkbar wäre mit Blick auf Genua aber auch, dass hier von der näher gelegenen Rhone (lat. "Rhodanus", franz. "rhodanien" = zur Rhone gehörend) die Rede ist. Weiter gibt es in Italien einige Orte, deren Namen mit "R(h)od" beginnen. Wie Genua am Meer liegt dabei Rodi Garganico (lat. u. a. Rhodium, Rodia, Rodum), am Sporn des Stiefels, etwa 60 km nordöstlich von Foggia gelegen. Rhodos wird in 2/3/4 (?), 4/39/1, 5/16/4, 5/47/3 und 6/21/4 erwähnt. Die Insel Rhodos stand bis zum Beginn der Eigenstaatlichkeit 404 v. Chr. unter Herrschaft Persiens und Athens. Das unabhängige Rhodos stieg schnell zur bedeutenden Handelsmacht auf, geriet aber auch mehrfach wieder unter fremde Vorherrschaft. Ein Bündnis mit Rom im Jahr 164 v. Chr. bedeutet für die Insel das Ende als unabhängige Seemacht, formal ins Römische Reich eingegliedert wurde Rhodos jedoch erst 74 n. Chr. Das seit 395 zu Ostrom gehörende Rhodos wurde 622/623 kurz von den persischen Sassaniden besetzt. Einige Jahrzehnte später folgten die Araber, die das Eiland 654 einnahmen. 673 kamen die Araber erneut und verließen die Insel erst wieder sechs Jahre später. Die Seldschuken bemächtigten sich Rhodos 1090, verloren es aber wieder im Rahmen des Ersten Kreuzzugs (1095-1099) an Byzanz. Mit dem Zerfall des Byzantinischen Reiches erlangte Rhodos 1204 erneut die Unabhängigkeit, stand formal allerdings unter venezianischer Oberhoheit. 1248 bis 1250 besetze Genua die Insel, die anschließend an das Kaiserreich Nikaia und 1261 an das wiederhergestellte Byzantinische Reich ging. Mit päpstlicher Unsterstützung eroberte der Johanniterorden in den Jahren 1307 bis 1309 Rhodos. Die Johanniter befestigten die Hauptstadt stark und beherrschten und verteidigten die Insel bis 1522. 1440 und 1444 griffen die ägyptischen Mameluken Rhodos an. 1480 belagerten die Osmanen die Festung Rhodos, konnten sie aber nicht einnehmen. Erst Ende 1522 gelang es dem Osmanischen Reich, die Johanniter zu bezwingen, die kapitulieren und 1523 nach Malta übersiedeln mussten. Rhodos gehörte bis 1912 zum Osmanischen Reich. 6) Genua taucht in 2/3/4, 2/33/4, 4/37/4, 4/60/4, 4/66/4, 5/28/4, 5/64/3, 6/78/3, 6/81/3, 7/30/3, 7/39/4, 9/42/1, 10/24/2 und 10/60/1 auf. Die mittelfranzösische Bezeichnung für Genua lautet dabei Gennes. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es in Frankreich als mögliche Alternativen diesbezüglich noch folgende Ortschaften gäbe: Gennes (7 km östlich von Besançon), Gennes (28 km südöstlich von Angers), Gennes-Ivergny (45 km nordwestlich von Amiens), Gennes-sur-Glaize (43 km nördlich von Angers) sowie Gennes-sur-Seiche (43 km südöstlich von Rennes). Das seit der Antike existierende ligurische Genua gehörte im achten und neunten Jahrhundert zum Frankenreich. Bis zur Unabhängigkeit im zehnten Jahrhundert hatte die Stadt immer wieder gegen plündernde Sarazenen (Araber) zu kämpfen. Im Bund mit Pisa gelang es Genua im Jahr 1017, Sardinien von den Arabern zu befreien. Das zur Seemacht gewordene Genua unterstützte die Kreuzzüge in den Jahren 1097 und 1104 und konnte vor diesem Hintergrund Macht und Reichtum durch Kolonien und Handelsstützpunkte weiter ausbauen. 1119 brach ein Krieg mit Pisa aus, den Genua 1133 mit Hilfe des Papstes siegreich beenden konnte. Durch das Bündnis mit dem wiedererstarkten Byzantinischen Reich 1261 konnte die ligurische Seemacht Niederlassungen im Schwarzen Meer gründen, die ihm den Handel bis China und Indien ermöglichten. 1284 besiegte Genua den Rivalen Pisa zur See und übte nun maßgeblichen Einfluss im westlichen Mittelmeer aus. Gegen die andere große italienische Seerepublik Venedig führte Genua von 1256 bis 1381 vier Kriege. Das 15. Jh. war für die ligurische Metropole eine Zeit des Abstiegs. Innere Wirren, Einfluss und Herrschaft fremder Mächte (von Frankreich 1396 bis 1409, später der Mailänder Visconti) sowie der Verlust vieler Kolonien und Stützpunkte gehören in diese Zeit. Mit Aragon erstand Genua neben Venedig ein neuer starker Widersacher, der die Stadt Schutz beim Nachbarn Frankreich suchen ließ. Von 1458 bis 1522 sowie kurz im Jahr 1527 hatte Frankreich die Herrschaft über Genua inne (unterbrochen von den Mailänder Perioden 1464 bis 1478 und 1488 bis 1499). Die Unabhängigkeit erlangte die Stadt wieder 1528 unter Admiral und Fürst Andrea Doria (1528-1555) - allerdings als ein Satellit Spaniens. In den Jahren der Abfassung der Zenturien erlebte Genua als Finanzplatz eine Blütezeit, die sich weit bis ins 17. Jh. erstreckte. 7) Schiffszwieback (auch Hartbrot oder Hartkeks genannt) ist ein zweimal gebackenes Brot, dass lange haltbar ist und deswegen als Reiseproviant verwendet wird. Als "biscuit" bezeichnet wurde im Mittelfranzösischen aber irrtümlicherweise auch eine Art großes Mischbrot (bzw. Graubrot, Schwarzbrot). |
Der
Mittelmeerraum wird von einer schlimmen Hitzewelle heimgesucht werden.
Dies führt zu großen Hungersnöten, etwa auf den griechischen
Inseln Euböa und Rhodos. Zu dieser Zeit wird aber auch Genua hungern.
In den ersten beiden Zeilen erfahren wir, dass die Hitze in der Ägäis so stark sein wird, dass, die Fische im Meer um Euböa bereits im Wasser "halb gekocht" sein werden. Dieses "halb gekocht" ist dabei wohl nicht wortwörtlich zu verstehen. Nostradamus will wahrscheinlich nur ausdrücken, wie unerträglich heiß es werden wird. Dass er dazu ausgerechnet Fische zur Verdeutlichung heranzieht, könnte damit zusammenhängen, dass Fische ein typisches Nahrungsmittel der Fastenzeit sind, die jeweils gegen Ende des Winters begangen wird. Die große Hitze und der damit wohl einhergehende Wassermangel dürften auch die Nahrungsmittelproduktion drastisch einschränken, so dass die Menschen in der Ägäis wie in der Fastenzeit "hungern" und sich von den Fischen ernähren werden, vgl. Zeile 3. Dass die Fische die Strophe in die Fastenzeit am Ende des Winters verlegen sollen, bezweifle ich dagegen eher. Denn eine derart extreme und lang anhaltende Hitzewelle dürfte wohl auch in Südosteuropa kaum im Winterhalbjahr auftreten. In der vierten Zeile tauchen zwei weitere geografische Angaben auf: Genua und "Rod." - vermutlich Rhodos, vgl. Anmerkung 5. Auch diesen beiden Orten wird Nahrung fehlen, Nostradamus erwähnt diesbezüglich den Schiffszwieback. Schiffszwieback ist lange haltbare Reise- oder Notnahrung. Wenn den beiden Seeanrainern Genua und Rhodos dieses Lebensmittel fehlt, ist dies wahrscheinlich auch auf eine akute generelle Versorgungskrise zurückzuführen - ließe sich dieses Gebäck doch unter normalen Umständen leicht herstellen. Die Frage ist nur, was für die Not an diesen beiden Orten verantwortlich ist. Im Falle von Rhodos könnte dies einfach dieselbe Hitzewelle sein, unter der auch die andere Ägäisinsel in Strophe 2/3, Euböa, leidet. Doch gilt dies gleichermaßen für Genua? Genua liegt weit abseits der Ägäis. Doch auch ihm werden die Lebensmittel knapp werden. Von einer diesbezüglichen Krise in der Ligurermetropole lesen wir ebenfalls in 2/64/1, (4/66/4) und wohl 4/59/1f. Von einer großen Hitze erfahren wir zudem in 4/59/1. Somit ist es durchaus denkbar, dass nicht nur die Ägäis sondern der gesamte Mittelmeerraum unter einer beispiellosen Hitzewelle leiden wird. Dass im Falle Genuas aber auch noch andere Faktoren für die Versorgungskrise verantwortlich zeichnen werden, ist aus 2/64 zu schließen, wo eine Flotte nicht in den Hafen einlaufen kann, oder aus 4/66, wo feindliche Agenten die Brunnen in der Stadt vergiften. Von Belagerten ist in 4/59/1 die Rede. Also dann, wenn Genua ohnehin schon unter der Hitze und deren Folgen zu leiden haben wird, wird die Stadt auch noch belagert und somit umkämpft sein. |
2/64 [1] Seicher3) de faim, de soif gent2) Geneuoise1) [2] Espoir5) prochain4) viendra au defaillir6), [3] Sur point7) tremblant10) sera loy9) Gebenoise8). [4] Classe11) au grand port12) ne se peult acuilir13). [1] [Das] genuesische1) Volk2) [wird] vor Hunger [und] Durst dahinwelken3). [2] [Die] nahe4) Hilfe5) wird ausbleiben6). [3] Zu [diesem] Zeitpunkt7) wird [das] Genueser8) Gesetz9) zittern10). [4] [Die] Flotte11) kann nicht im großen Hafen12) erscheinen13). 1) Das (substantivierte) Adjektiv "genevois(e)" erscheint in 2/64/1, 4/59/4 und 10/92/3. Im Französischen des 16. Jh. konnte es neben "genferisch" auch "genuesisch" bedeuten, vgl. CLÉBERT, S. 296, und auch schon PRÉVOST, S. 82. Was hier für die italienische Lösung spricht, ist sowohl der "große Hafen" in der vierten Zeile als auch die inhaltlichen Parallelen zu 2/3 und 4/66. Genua taucht in 2/3/4, 2/33/4, 4/37/4, 4/60/4, 4/66/4, 5/28/4, 5/64/3, 6/78/3, 6/81/3, 7/30/3, 7/39/4, 9/42/1, 10/24/2 und 10/60/1 auf. Die mittelfranzösische Bezeichnung für Genua lautet dabei Gennes. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es in Frankreich als mögliche Alternativen diesbezüglich noch folgende Ortschaften gäbe: Gennes (7 km östlich von Besançon), Gennes (28 km südöstlich von Angers), Gennes-Ivergny (45 km nordwestlich von Amiens), Gennes-sur-Glaize (43 km nördlich von Angers) sowie Gennes-sur-Seiche (43 km südöstlich von Rennes). Das seit der Antike existierende ligurische Genua gehörte im achten und neunten Jahrhundert zum Frankenreich. Bis zur Unabhängigkeit im zehnten Jahrhundert hatte die Stadt immer wieder gegen plündernde Sarazenen (Araber) zu kämpfen. Im Bund mit Pisa gelang es Genua im Jahr 1017, Sardinien von den Arabern zu befreien. Das zur Seemacht gewordene Genua unterstützte die Kreuzzüge in den Jahren 1097 und 1104 und konnte vor diesem Hintergrund Macht und Reichtum durch Kolonien und Handelsstützpunkte weiter ausbauen. 1119 brach ein Krieg mit Pisa aus, den Genua 1133 mit Hilfe des Papstes siegreich beenden konnte. Durch das Bündnis mit dem wiedererstarkten Byzantinischen Reich 1261 konnte die ligurische Seemacht Niederlassungen im Schwarzen Meer gründen, die ihm den Handel bis China und Indien ermöglichten. 1284 besiegte Genua den Rivalen Pisa zur See und übte nun maßgeblichen Einfluss im westlichen Mittelmeer aus. Gegen die andere große italienische Seerepublik Venedig führte Genua von 1256 bis 1381 vier Kriege. Das 15. Jh. war für die ligurische Metropole eine Zeit des Abstiegs. Innere Wirren, Einfluss und Herrschaft fremder Mächte (von Frankreich 1396 bis 1409, später der Mailänder Visconti) sowie der Verlust vieler Kolonien und Stützpunkte gehören in diese Zeit. Mit Aragon erstand Genua neben Venedig ein neuer starker Widersacher, der die Stadt Schutz beim Nachbarn Frankreich suchen ließ. Von 1458 bis 1522 sowie kurz im Jahr 1527 hatte Frankreich die Herrschaft über Genua inne (unterbrochen von den Mailänder Perioden 1464 bis 1478 und 1488 bis 1499). Die Unabhängigkeit erlangte die Stadt wieder 1528 unter Admiral und Fürst Andrea Doria (1528-1555) - allerdings als ein Satellit Spaniens. In den Jahren der Abfassung der Zenturien erlebte Genua als Finanzplatz eine Blütezeit, die sich weit bis ins 17. Jh. erstreckte. 2) Auch im Sinne von "Kriegsvolk, Truppen". 3) Wörtlich: "austrocknen". 4) Oder: "nächste (in einer Reihenfolge), nachfolgende". 5) Oder grundsätzlich: "Hoffnung, Erwartung". 6) Oder u. a. auch: "verschwinden, vergehen". 7) Vgl. auch CLÉBERT, S. 296. BRIND’AMOUR, S. 286, bietet hier "umgehend, daraufhin" an. 8) In allen Ausgaben von 1555 bis 1568 "Gebenoise". Es könnte sich dabei einfach um einen Druckfehler für "Genevoise" (genferisch, genuesisch) handeln. Und falls nicht? LE PELLETIER, Band 2, S. 328, führt den Begriff auf ein lat. "Gebennae" zurück und sieht "Cebennae" (Cevennen) gemeint. Ihm folgen LEONI, S. 180f., BRIND’AMOUR, S. 286, und ich, PFÄNDLER, 1997, S. 172. Die Höhen der Cevennen liegen in Südfrankreich, westlich der Rhone und etwas nördlicher als Avignon. Zur Zeit des Nostradamus breitete sich der aus Genf kommende Protestantismus (das "Gesetz", vgl. Anmerkung 9?) u. a. auch in dieser Region aus, vgl. CLÉBERT, S.297. CLÉBERT, ebd., vermutet, dass Nostradamus hier tatsächlich an Genf gedacht und "gebenoise" verwendet habe, um eine Verwechslung mit dem genuesischen "genevoise" aus Zeile eins zu vermeiden. Eine nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisende Idee. Im Lateinischen existiert für "Genf" jedenfalls auch die Bezeichnung "Gebenna" mit dem dazugehörenden Adjektiv "gebenen(n)sis". 9) Das mittelfranzösische "loy" (Gesetz) kann im übertragenen Sinne auch "Glaube, Religion; Lehre" bedeuten. 10) In allen Ausgaben von 1555 bis 1568 so. Lies: "tremblante", da es sich auf das "Gesetz" (loy) beziehen dürfte. 11) Lat. "classis" (Flotte, Heer). Dichterisch kann damit auch ein einzelnes Schiff gemeint sein. 12) "Port" kann im Mittelfranzösischen auch einen Flusshafen meinen. 13) "Erscheinen" in kriegerischer oder friedlicher Absicht. |
Genua
wird unter Hunger und Durst leiden. Hilfe ist zwar unterwegs, kann aber nicht im
Hafen anlegen. Zu dieser Zeit wird in Genua das Gesetz (bzw. Recht und Ordnung) ins Wanken geraten. In der ersten Zeile erfahren wir, dass die Bevölkerung Genuas unter sehr großem Hunger und Durst leiden wird. Der Hunger ist dabei eine Parallele zu 2/3/4. Den Grund für diese massive Versorgungskrise erfahren wir allerdings nicht. Laut Zeile zwei ist Hilfe zwar schon in der Nähe, erreicht die Stadt jedoch nicht. Interessant ist in diesem Zusammenhang die vierte Zeile. Dort lesen wir, dass eine Flotte nicht "im großen Hafen" erscheinen wird können. Da Genua eine der großen italienischen Seerepubliken war, ist es recht wahrscheinlich, dass hier vom genuesischen Hafen die Rede ist. Doch warum kann die Hilfsflotte den Hafen nicht erreichen? Warum leidet die Stadt unter Hunger und Durst? Mit Blick auf 4/59 und 4/66 ist der Grund für die Lebensmittelkrise in Genua wohl in kriegerischen Ereignissen, konkret in einer Belagerung zu suchen. Näheres zu diesem Konflikt erfahren wir in 2/64 aber leider nicht. In der dritten Zeile lesen wir, dass dann, wenn Genua hungert und durstet, das "Genueser" oder "Genfer Gesetz" zittern wird (zur Übersetzung vgl. Anmerkung 8). Im 16. Jh. wäre unter dem "Genfer Gesetz", der "Genfer Lehre" wohl der protestantische Calvinismus verstanden worden, dessen Zentrum die Stadt in der heutigen Westschweiz war. Ob dies hier gemeint ist, warum die Genfer Lehre ins Wanken geraten soll und ob dies etwas mit den Vorgängen um Genua zu tun hat, ist dem Text jedoch nicht zu entnehmen. Mit Blick auf 4/66, 4/59 und 10/92, wo von Kannibalismus, Rebellion gegen die Obrigkeit und einer brutalen Hinrichtung die Rede ist, ist es meines Erachtens wahrscheinlicher, dass Nostradamus hier vom Genueser "Gesetz" (im weiteren Sinn von Recht und Ordnung überhaupt) spricht. Dingen, die in Zeiten solch elementarer Not einen schweren Stand haben. |
4/66 [1] Soubz couleur2) faincte1) de3) sept testes rasées4) [2] Seront semés7) diuers5) explorateurs6):8) [3] Puys & fontaines de poyson9) arrousées10), [4] Au fort11) de Gennes12) humains deuorateurs13). [1] Unter täuschendem1) Aussehen2) als3) sieben rasierte Köpfe4) [2] [werden] feindliche5) Aufklärer6) ausgeschwärmt7) sein.8) [3] Brunnen und Quellen [werden] mit Gift9) versetzt10) [sein]. [4] In der Festung11) von Genua12) [wird es] Menschenfresser13) geben. 1) Oder u. a. "falsch, irreführend". 2) "Couleur" bedeutet im Mittelfranzösischen nicht nur "Farbe" sondern u. a. auch "Vorwand; Aussehen, Erscheinung". 3) Oder: "von, durch". 4) Mit einem "rasierten Kopf" ist bei Nostradamus ein Tonsurträger, d. h. ein Mönch oder im weiteren Sinne ein Geistlicher gemeint, vgl. etwa auch BRIND’AMOUR, S. 171f. und CLÉBERT, S. 196. 5) Das mittelfranzösische "divers" bedeutete neben "verschiedene, mehrere" u. a. auch "feindlich, schrecklich". 6) Oder auch: "Spione", vgl. lat. "explorator". 7) Die beiden 1568er-Ausgaben aus Dresden und Paris schreiben fälschlicherweise "fermés" (eingeschlossen). Das mittelfranzösische "semer" (säen, aussäen) lässt sich transitiv oder intransitiv verstehen. Transitiv u. a. im Sinne von "etwas verteilen oder verstreuen, hier: jemanden einschleusen", intransitiv im Sinne von "ausschwärmen, sich verteilen". 8) Ich folge hier der Interpretation von BRIND’AMOUR, S. 171, und CLÉBERT, S. 535. Unter Berücksichtigung der unter Anmerkungen 2, 3 und 7 angegebenen Varianten ließen sich die ersten beiden Zeilen aber auch folgendermaßen verstehen: "Unter falschem Vorwand werden von sieben rasierten Köpfen feindliche Aufklärer eingeschleust werden". 9) Die beiden 1557er-Ausgaben zeigen hier den Singular "poyson", die 1568er den Plural. 10) Oder u. a. "benetzt, besprengt; angefüllt; überschwemmt". 11) Genua wurde von einer immer wieder erneuerten wehrhaften Stadtmauer umgeben. So wurden etwa während der Herrschaft von Adrea Doria (1528-1555) die mittelalterlichen Verteidigungsanlagen an die Bedürfnisse des 16. Jh. (Bedrohung durch Feuerwaffen) angepasst und ausgebaut. In späterer Zeit wurden zudem auch verschiedene Einzelfestungen errichtet. 12) Genua taucht in 2/3/4, 2/33/4, 4/37/4, 4/60/4, 4/66/4, 5/28/4, 5/64/3, 6/78/3, 6/81/3, 7/30/3, 7/39/4, 9/42/1, 10/24/2 und 10/60/1 auf. Die mittelfranzösische Bezeichnung für Genua lautet dabei Gennes. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es in Frankreich als mögliche Alternativen diesbezüglich noch folgende Ortschaften gäbe: Gennes (7 km östlich von Besançon), Gennes (28 km südöstlich von Angers), Gennes-Ivergny (45 km nordwestlich von Amiens), Gennes-sur-Glaize (43 km nördlich von Angers) sowie Gennes-sur-Seiche (43 km südöstlich von Rennes). Das seit der Antike existierende ligurische Genua gehörte im achten und neunten Jahrhundert zum Frankenreich. Bis zur Unabhängigkeit im zehnten Jahrhundert hatte die Stadt immer wieder gegen plündernde Sarazenen (Araber) zu kämpfen. Im Bund mit Pisa gelang es Genua im Jahr 1017, Sardinien von den Arabern zu befreien. Das zur Seemacht gewordene Genua unterstützte die Kreuzzüge in den Jahren 1097 und 1104 und konnte vor diesem Hintergrund Macht und Reichtum durch Kolonien und Handelsstützpunkte weiter ausbauen. 1119 brach ein Krieg mit Pisa aus, den Genua 1133 mit Hilfe des Papstes siegreich beenden konnte. Durch das Bündnis mit dem wiedererstarkten Byzantinischen Reich 1261 konnte die ligurische Seemacht Niederlassungen im Schwarzen Meer gründen, die ihm den Handel bis China und Indien ermöglichten. 1284 besiegte Genua den Rivalen Pisa zur See und übte nun maßgeblichen Einfluss im westlichen Mittelmeer aus. Gegen die andere große italienische Seerepublik Venedig führte Genua von 1256 bis 1381 vier Kriege. Das 15. Jh. war für die ligurische Metropole eine Zeit des Abstiegs. Innere Wirren, Einfluss und Herrschaft fremder Mächte (von Frankreich 1396 bis 1409, später der Mailänder Visconti) sowie der Verlust vieler Kolonien und Stützpunkte gehören in diese Zeit. Mit Aragon erstand Genua neben Venedig ein neuer starker Widersacher, der die Stadt Schutz beim Nachbarn Frankreich suchen ließ. Von 1458 bis 1522 sowie kurz im Jahr 1527 hatte Frankreich die Herrschaft über Genua inne (unterbrochen von den Mailänder Perioden 1464 bis 1478 und 1488 bis 1499). Die Unabhängigkeit erlangte die Stadt wieder 1528 unter Admiral und Fürst Andrea Doria (1528-1555) - allerdings als ein Satellit Spaniens. In den Jahren der Abfassung der Zenturien erlebte Genua als Finanzplatz eine Blütezeit, die sich weit bis ins 17. Jh. erstreckte. 13) Wohl zu verstehen als "d’humains deuorateurs". |
Als
Geistliche oder Mönche verkleidet werden sieben feindliche Agenten in
das belagerte Genua gelangen und dort Brunnen und Quellen vergiften. Im
völlig ausgehungerten Genua kommt es zu Kannibalismus. In der vierten Zeile lesen wir von Menschenfressern in der Festung Genua. Kannibalismus tritt in Zeiten großer Not und Lebensmittelmangels auch in "zivilisierten" Gegenden auf. Hunger und Not dürften denn wohl auch die Gründe für die Menschenfresserei in Genua sein, die zudem eine Parallele zu 2/3/4 und 2/64/1 wären. Zu erwähnter Notlage wesentlich beitragen dürfte das Geschehen in den ersten drei Zeilen. In Zeile drei erfahren wir, dass die Brunnen und Quellen in Genua vergiftet werden. D. h. die Genuesen werden sich feindlich gesonnenen Kräften gegenübersehen, die auf diese Art und Weise einen Schlag gegen die Festung Genua führen. Eine Festung, die unter Belagerung stehen, d. h. in einen Krieg verwickelt sein wird. Dass die Festung Genua tatsächlich belagert werden wird, ist dabei meines Erachtens aus 4/59 zu schließen. Wie in Anmerkung 8 ausgeführt, lassen sich die ersten beiden Zeilen auf zweierlei Arten verstehen. Gemeinsam ist aber beiden Lesarten, dass feindliche "Aufklärer" (lies: Agenten) in das belagerte Genua gelangen und dort die Wasserversorgung mit Gift sabotieren. Wahrscheinlich gelangen diese Agenten als sieben Geistliche oder Mönche getarnt die die Stadt. CLÉBERT, S. 535, weist auf eine Parallele in 7/36/2 hin und vermutet in der Sieben eine symbolische Zahl. Da die Zahl Sieben u. a. dem Saturn, dem astrologischen "großen Unglück" zugeordnet wird, könnte dies mit Blick auf die sieben Brunnenvergifter aus 4/66 wenigstens hier durchaus zutreffen. |
4/59 [1] Deux assiegez1) en ardente ferueur2), [2] De soif estaincts pour deux plaines tasses: [3] Le fort limé3), & vn vieillart resueur4), [4] Aux Geneuois5) de Nira6) monstra trasse7). [1] Zwei Belagerte1) [werden] während glühender Hitze2) [2] wegen [des] Durstes für zwei volle Tassen getötet [werden]. [3] Die Festung [wird] geschleift3) [werden], und ein alter Vagabund4) [4] wird den Genuesen5) von Nizza6) [aus die] Spur zeigen7). 1) Das mittelfranzösische "assieger" bedeutet neben "belagern" u. a. auch "etwas hinstellen, jemanden hinsetzen". Dies könnte im übertragenen Sinne vielleicht auch als "jemanden in einen Posten, in ein Amt einsetzen" verstanden werden. Dann hätten wir zwei Amtsträger vor uns. 2) Oder: "Inbrunst", vgl. aber auch lat. "fervor" (Leidenschaft, Unruhe). 3) Wörtlich: "gefeilt". Sprachlich denkbar wäre aber auch die Übersetzung "die ausgefeilte Festung" bzw. "die Festung [wird] ausgefeilt [sein]". 4) Oder auch: "Herumtreiber; Strolch, Dieb". Nostradamus könnte hier das griech. "planes" bzw. "planetes" im Auge gehabt haben, das sowohl "Vagabund" als auch "Planet" bedeutet. Ersetzen wir "Vagabund" durch "Planet", erhalten wir in der dritten Zeile einen "alten Planeten". Damit müsste dann wiederum der Saturn gemeint sein, der im Mythos der Stammvater der olympischen Götter (u. a. Diana, Merkur, Venus, Apollo, Mars, Jupiter) und somit der "älteste" der sieben klassischen Planeten war. Bei Nostradamus steht der Saturn für die Juden, die den Saturntag (lat. "dies Saturni" = Samstag) als Feiertag begehen. In der Astrologie, wo der Saturn auch die Bezeichnung "großes Unglück" trägt, wird dem Ringplaneten eher Düsteres zugeordnet: u. a. Armut, Trauer und Leichen. In menschlicher Form dargestellt, trägt Saturn als alter Mann entweder eine Sichel oder eine Sense und ähnelt so Gevatter Tod.
Das seit der Antike existierende ligurische Genua gehörte im achten und neunten Jahrhundert zum Frankenreich. Bis zur Unabhängigkeit im zehnten Jahrhundert hatte die Stadt immer wieder gegen plündernde Sarazenen (Araber) zu kämpfen. Im Bund mit Pisa gelang es Genua im Jahr 1017, Sardinien von den Arabern zu befreien. Das zur Seemacht gewordene Genua unterstützte die Kreuzzüge in den Jahren 1097 und 1104 und konnte vor diesem Hintergrund Macht und Reichtum durch Kolonien und Handelsstützpunkte weiter ausbauen. 1119 brach ein Krieg mit Pisa aus, den Genua 1133 mit Hilfe des Papstes siegreich beenden konnte. Durch das Bündnis mit dem wiedererstarkten Byzantinischen Reich 1261 konnte die ligurische Seemacht Niederlassungen im Schwarzen Meer gründen, die ihm den Handel bis China und Indien ermöglichten. 1284 besiegte Genua den Rivalen Pisa zur See und übte nun maßgeblichen Einfluss im westlichen Mittelmeer aus. Gegen die andere große italienische Seerepublik Venedig führte Genua von 1256 bis 1381 vier Kriege. Das 15. Jh. war für die ligurische Metropole eine Zeit des Abstiegs. Innere Wirren, Einfluss und Herrschaft fremder Mächte (von Frankreich 1396 bis 1409, später der Mailänder Visconti) sowie der Verlust vieler Kolonien und Stützpunkte gehören in diese Zeit. Mit Aragon erstand Genua neben Venedig ein neuer starker Widersacher, der die Stadt Schutz beim Nachbarn Frankreich suchen ließ. Von 1458 bis 1522 sowie kurz im Jahr 1527 hatte Frankreich die Herrschaft über Genua inne (unterbrochen von den Mailänder Perioden 1464 bis 1478 und 1488 bis 1499). Die Unabhängigkeit erlangte die Stadt wieder 1528 unter Admiral und Fürst Andrea Doria (1528-1555) - allerdings als ein Satellit Spaniens. In den Jahren der Abfassung der Zenturien erlebte Genua als Finanzplatz eine Blütezeit, die sich weit bis ins 17. Jh. erstreckte. 6) In allen Ausgaben von 1557 bis 1568 so. CLÉBERT, S. 529, vermutet hier einen Druckfehler für "Niza" (= dt./it. Nizza, franz. Nice, provenz. Nissa/Niça), vgl. auch schon PRÉVOST, S. 82. Falls es in 4/59/4 um die Genueser gehen sollte, kommt dieser Deutung hohe Wahrscheinlichkeit zu. Nizza taucht in den Zenturien in 3/82/1, 4/59/4?, 5/64/3, 7/30/3, 9/26/1, 10/60/1 und 10/87/1 auf. Als Provenzale dürfte Nostradamus dabei wohl v. a. an das südfranzösische Nizza gedacht haben. Allerdings gäbe es daneben noch ein Nizza Monferrato in Piemont, rund 20 km südöstlich von Asti, ein lombardisches Ponte Nizza, etwa 40 km südlich von Pavia, und Nizza di Sicilia, etwa 40 km südwestlich von Messina. Das heute französische Nizza wurde um etwa 350 v. Chr. von Griechen gegründet und war seit 154 v. Chr. Teil des Römischen Reiches. Nach Untergang von dessen westlichem Teil gehörte die Stadt ab 488 zum Reich der Ostgoten, ab 550 zum Oströmischen Reich und ab 641 zum Langobardenreich, das seinerseits 774 unter Karl dem Großen an das Frankenreich fiel. Nizza wurde wiederholt von den arabischen Sarazenen angegriffen oder gar verwüstet (729, 813, 859 und 880). Nach der Aufteilung des Frankenreichs kam Nizza als Teil des Königreiches Arelat schließlich 1033 an das römisch-deutsche Reich. 1108 erklärte sich Nizza zur Stadtrepublik nach italienischem Vorbild, was zu Spannungen und bis ins 13. Jh. immer wieder zu gewaltsamen Konflikten mit den Grafen der Provence führte, wobei Nizza seine Eigenständigkeit aber letztlich behaupten konnte. Das 13. und 14. Jh. brachten der Stadt einen wirtschaftlichen und demografischen Aufschwung, der erst durch die Pest in den Jahren 1347 und 1348 gestoppt wurde. Nach der Ermordung von Johanna I. von Anjou im Jahr 1382, die neben Königin von Neapel u. a. auch Gräfin der Provence war, kam es in der Provence von 1383 bis 1388 zum Bürgerkrieg um die Nachfolge Johannas. Nizza gehörte dabei zur Verliererpartei und begab sich 1388 unter den Schutz der damaligen Grafschaft (ab 1416 Herzogtum) Savoyen. Im Großen und Ganzen war das 15. Jh. für Nizza - Savoyens Mittelmeerhafen - eine Zeit des Aufschwungs. Das 16. Jh., das Jahrhundert des Nostradamus, war für die Stadt eine schwierige Zeit. Aufgrund ihrer Lage und Bedeutung wurde Nizza in die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem französischen König Franz I. und dem römisch-deutschen Kaiser Karl V. hineingezogen. Als Frankreich 1536 den größten Teil Savoyens militärisch besetzt hatte, war Nizza der Rückzugsort für den Landesherzog. Zwei Jahre später wurde in der Stadt auf Initiative Papst Pauls III. ein kurzer Friede zwischen Franz I. und Karl V. geschlossen. Ein Friede, der die beiden katholischen Monarchen zum Kampf gegen die protestantische und islamische (osmanische) Bedrohung vereinen sollte, aber nur bis 1542 hielt. 1543 wurde Nizza durch die Franzosen und die jetzt mit ihnen verbündeten Osmanen erfolglos belagert. Dabei wurde die Stadt von Seeseite her durch die osmanische Flotte bedrängt, die unter dem Kommando des nordafrikanischen Piraten Chaireddin Barbarossa stand. Die Angreifer konnten sich zwar der Unterstadt bemächtigen, scheiterten aber daran, die Stadtfestung zu erobern. 1550 forderte die Pest in Nizza mehrere Tausend Opfer. Sollte in 4/59/4 jedoch von den Genfern die Rede sein, ist "Nira" bzw. "nira" am ehesten eine Verschreibung von "iura", vgl. LEONI, S. 236. Die Gebirgszüge des Jura beginnen beim französischen Voreppe (14 km nordwestlich von Grenoble bzw. 81 km südöstlich von Lyon), erstrecken sich bogenförmig entlang der französisch-schweizerischen Grenze in die Nordschweiz hinein und enden bei Dielsdorf (nordwestlich von Zürich). Jedenfalls dürfte mit "Nira" kaum der Iran, das frühere Persien gemeint sein, da Nostradamus diese Bezeichnung (auf natürlichem Wege) nicht hat kennen können. Persien nennt sich nämlich erst seit 1935 "Iran". 7) "Spur zeigen" wohl im Sinne von "den Weg weisen". Im Mittelfranzösischen kann "trace/trasse" aber auch als "Beispiel, Vorbild" verstanden werden. In diesem Fall ließe sich die Stelle etwa auch mit "als Verkörperung [des eigenen Schicksals] dienen" übersetzen. |
Während einer großen Hitzewelle werden im belagerten Genua zwei Leute - wohl die führenden Köpfe der Stadt - für die
Aussicht auf ein bisschen Wasser getötet. Die Festung Genua wird
geschleift werden und der Tod aus Nizza wird die Genuesen heimsuchen.
In 4/59 geht es wieder um Genua. Und ebenso werden wieder eine große Hitzewelle und Lebensmittelknappheit (konkret der Durst) erwähnt. Dies dürfte die Strophe mit 2/3, 2/64 und 4/66 verbinden. In den ersten beiden Zeilen erfahren wir Neues. Zwei Belagerte (lies: zwei der Belagerten) werden zu dieser Zeit für ein bisschen Wasser ("zwei volle Tassen") getötet werden. Es handelt sich hier vermutlich um zwei Leute, die sich in der Festung Genua befinden, die ihrerseits von Feinden eingeschlossen ist. Wenn der Grund für diese Tötung in ein bisschen Wasser liegt, müssen die Mörder diesem Wasser große Bedeutung zumessen, d. h. es handelt sich bei diesen Tätern um Leute, die wahrscheinlich unter starkem Durst leiden. Hier wären das wohl Menschen aus dem belagerten Genua. Über die beiden Getöteten erfahren wir hier nichts. Aber mit Blick auf 10/92/4 ist hier wohl von einer Rebellion der Genueser Bevölkerung gegen das Stadtoberhaupt die Rede. Laut 4/59/1f. werden jedoch zwei der Belagerten getötet. Neben dem Oberhaupt also noch eine weitere Person. Doch wer? Die Antwort auf diese Frage dürften wir in der ersten Hälfte von 10/92 finden. Dort ist von einem Vater und einem - wohl seinem - Kind die Rede, die wahrscheinlich beide getötet werden. Über die genauen Hintergründe des Aufstandes können wir nur Vermutungen anstellen. Woher kommt die Initialzündung für die Rebellion? Was soll der Hinweis auf die zwei vollen Tassen Wasser? Versprechen die Belagerer vielleicht den Belagerten bei einer erfolgreichen Erhebung zwei volle Tassen pro Person? Betrachten wir nun die zweite Hälfte von 4/59. In der dritten Zeile lesen wir von einer Festung, die geschleift wird. Damit dürfte die Festung bzw. die Befestigung Genuas gemeint sein, die auch in 4/66/4 auftaucht. Zu dieser Zeit (oder danach) wird den Genuesen von einem "alten Vagabunden" die "Spur gezeigt" bzw. der Weg gewiesen werden (dritte und vierte Zeile). Wie in Anmerkung 4 ausgeführt, vermute ich, dass Nostradamus hier an den Planeten Saturn gedacht hat, der seinerseits für den Tod stehen dürfte. Einen Tod, der aus Nizza kommt. Das könnte heißen, dass ein Angriff aus Nizza kommen wird oder dass der Sensenmann dort zuvor bereits seine Ernte eingefahren hat. Jedenfalls hat er durch die Schleifung der Festungsanlagen jetzt freie Bahn. Doch wer "schleift" die Festung? Die aufständischen Genuesen dürfte die Festung nicht im eigentlichen Sinne abtragen sondern den Belageren einfach die Tore öffnen. Es könnte jedoch sein, dass Nostradamus diese Übergabe als ersten Schritt einer Schleifung interpretiert hat, die dann später von den Eroberern möglicherweise tatsächlich noch vorgenommen wird. Wenn die Übergabe der Stadt aber den Tod der Bevölkerung oder großer Teile derselben zur Folge haben wird, bedeutet dies, dass die Belagerer ein falsches Spiel spielen. Anstatt die Genuesen vor dem Verdursten oder Verhungern zu retten, bringen sie ihnen den Tod. Somit würden die Aufständischen jemandem vertrauen, der vertrauensunwürdig ist. Mit Blick auf 10/92/3 sogar jemandem, der augenscheinlich kein Vertrauen verdient. Das würde aber zur verzweifelten Lage passen, in der Genua sich befindet, wo es sogar zu Kannibalismus kommt, vgl. 4/66/4. Denn mit einem offensichtlich vertrauensunwürdigen Partner lässt man sich in der Regel nur dann ein, wenn man wirklich keine andere Wahl mehr hat. |
10/92 [1] Deuant1) le pere l’enfant sera tué: [2] Le pere apres entre cordes de ionc2), [3] Geneuois3) peuple4) sera esuertué5), [4] Gisant le chief au milieu7) comme vn tronc6). [1] Vor1) dem Vater wird das Kind getötet werden. [2] Der Vater [wird sich] nacher inmitten von Binseseilen2) [befinden]. [3] [Das] Genueser3) Volk4) wird aufs Spiel gesetzt5) sein, [4] [wenn] das Oberhaupt wie ein astreiner Stamm6) in der Mitte7) liegt. 1) "Deuant" (vor) kann sowohl zeitlich ("vorher") wie auch räumlich ("vor den Augen von") verstanden werden. 2) Mit "cordes de ionc" könnte Nostradamus auf das griech. "schoinos" (Binse; Strick, Seil, Tau) anspielen. Da "corde" neben "Seil, Strick" auch "Schlinge" bedeutet, wäre somit die Übersetzung als "Seilschlingen" ebenfalls möglich. 3) Das (substantivierte) Adjektiv "genevois(e)" erscheint in 2/64/1, 4/59/4 und 10/92/3. Im Französischen des 16. Jh. konnte es neben "genferisch" auch "genuesisch" bedeuten, vgl. CLÉBERT, S. 296, und auch schon PRÉVOST, S. 82. Genua taucht in 2/3/4, 2/33/4, 4/37/4, 4/60/4, 4/66/4, 5/28/4, 5/64/3, 6/78/3, 6/81/3, 7/30/3, 7/39/4, 9/42/1, 10/24/2 und 10/60/1 auf. Die mittelfranzösische Bezeichnung für Genua lautet dabei Gennes. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es in Frankreich als mögliche Alternativen diesbezüglich noch folgende Ortschaften gäbe: Gennes (7 km östlich von Besançon), Gennes (28 km südöstlich von Angers), Gennes-Ivergny (45 km nordwestlich von Amiens), Gennes-sur-Glaize (43 km nördlich von Angers) sowie Gennes-sur-Seiche (43 km südöstlich von Rennes). Das seit der Antike existierende ligurische Genua gehörte im achten und neunten Jahrhundert zum Frankenreich. Bis zur Unabhängigkeit im zehnten Jahrhundert hatte die Stadt immer wieder gegen plündernde Sarazenen (Araber) zu kämpfen. Im Bund mit Pisa gelang es Genua im Jahr 1017, Sardinien von den Arabern zu befreien. Das zur Seemacht gewordene Genua unterstützte die Kreuzzüge in den Jahren 1097 und 1104 und konnte vor diesem Hintergrund Macht und Reichtum durch Kolonien und Handelsstützpunkte weiter ausbauen. 1119 brach ein Krieg mit Pisa aus, den Genua 1133 mit Hilfe des Papstes siegreich beenden konnte. Durch das Bündnis mit dem wiedererstarkten Byzantinischen Reich 1261 konnte die ligurische Seemacht Niederlassungen im Schwarzen Meer gründen, die ihm den Handel bis China und Indien ermöglichten. 1284 besiegte Genua den Rivalen Pisa zur See und übte nun maßgeblichen Einfluss im westlichen Mittelmeer aus. Gegen die andere große italienische Seerepublik Venedig führte Genua von 1256 bis 1381 vier Kriege. Das 15. Jh. war für die ligurische Metropole eine Zeit des Abstiegs. Innere Wirren, Einfluss und Herrschaft fremder Mächte (von Frankreich 1396 bis 1409, später der Mailänder Visconti) sowie der Verlust vieler Kolonien und Stützpunkte gehören in diese Zeit. Mit Aragon erstand Genua neben Venedig ein neuer starker Widersacher, der die Stadt Schutz beim Nachbarn Frankreich suchen ließ. Von 1458 bis 1522 sowie kurz im Jahr 1527 hatte Frankreich die Herrschaft über Genua inne (unterbrochen von den Mailänder Perioden 1464 bis 1478 und 1488 bis 1499). Die Unabhängigkeit erlangte die Stadt wieder 1528 unter Admiral und Fürst Andrea Doria (1528-1555) - allerdings als ein Satellit Spaniens. In den Jahren der Abfassung der Zenturien erlebte Genua als Finanzplatz eine Blütezeit, die sich weit bis ins 17. Jh. erstreckte. 4) Auch im Sinne von "Kriegsvolk, Truppen". 5) Das mittelfranzösische "esuertuer" bedeutet "(sich) stärken, wieder zu Kräften kommen; alles aufs Spiel setzen, seine gesamte Kraft für etwas einsetzen". 6) "Tronc" bezeichnet im Mittelfranzösischen entweder einen Baumstamm, von dem alle Wurzeln und Äste abgetrennt wurden oder einen menschlichen Rumpf ohne Kopf und Gliedmaßen. 7) Vielleicht im Sinne des lat. "medium" (u. a. Öffentlichkeit, Publikum, menschliche Gesellschaft) zu verstehen, vgl. auch CLÉBERT, S. 1158. |
Genuas
Oberbeamter und dessen Kind werden brutal von den Aufständischen
getötet. Wegen der verzweifelten Lage der Stadt setzen die
Aufständischen die Genueser Bevölkerung aufs Spiel und geben sie auf
Gnade und Ungnade in die Hand der Belagerer. Mit Blick auf 4/59 eine
wohl fatale Entscheidung. In der dritten Zeile geht es erneut um Genua. Wir erfahren hier, dass das Genueser Volk - bzw. dessen Existenz - aufs Spiel gesetzt werden wird. Doch wie und von wem? Hier lohnt sich ein Blick auf Zeile vier. In dieser ist von einem Oberhaupt die Rede, das tot der Öffentlichkeit zur Schau gestellt wird. Der Textzusammenhang legt dabei die Vermutung nahe, dass sich dies in Genua zutragen wird. Eine Annahme, für die Strophe 4/59 spricht, wo mit aller Wahrscheinlichkeit eine Revolte der Genueser Bevölkerung gegen die Obrigkeit der Stadt geschildert wird. Somit müsste es zunächst die Regierung der Stadt sein, die die ganze Bevölkerung für eine Sache aufs Spiel setzt. Nämlich für den Kampf bzw. den Widerstand gegen die Belagerer. Die Genueser Bevölkerung macht den selbstmörderischen Kurs ihrer Obrigkeit allerdings nicht mehr mit, steht auf, tötet den Machthaber und stellt dann dessen verstümmelte Leiche zur Schau. Die ersten beiden Zeilen dürften die Tötung des Oberbeamten ("Vater") und eines - wohl seines - Kindes beschreiben. Dabei wird das "Kind" (über dessen Alter oder Geschlecht wir nichts erfahren und das vielleicht auch schon erwachsen ist) noch vor dem Vater getötet. Damit soll wohl einerseits verhindert werden, dass das Geschlecht des Oberbeamten weiterexistiert und sich somit vielleicht einmal jemand rächen könnte. Andererseits zeigt es die wohl durch die verzweifelte Lage der Stadtbevölkerung angeheizte Wut, die sich in der Grausamkeit entlädt, dass der verhasste Vater den Tod seines Kindes (und wohl Stammhalters) noch miterleben muss. Eine Grausamkeit, die sich ebenfalls in der Hinrichtungsart widerspiegelt, die beim Vater angewandt wird (Zeilen zwei und vier). Der Vater wird sich inmitten von Seilen befinden, was auf eine Vier- oder Fünfteilung hindeutet. Ihm könnten Glieder und Kopf mit den Seilen ausgerissen werden. Oder die Seile sollen ihn nur soweit auseinanderstrecken, dass die Extremitäten leichter abgehackt werden können. So oder so, eine sehr brutale Form der Exekution, bei der als Resultat ein bloßer Rumpf übrigbleibt. |