5.74  Im Sterben vermacht ein englischer König den Thron seinem jüngeren, in England geborenen Sohn. Der übergangene ältere Sohn akzeptiert diese Entscheidung nicht und stürzt das Land in einen Bürgerkrieg. In einen Bürgerkrieg, der erst spät einen Sieger kennen wird. Der ältere Bruder wird den jüngeren vor einer Schlacht hinterlistig zu einem Treffen einladen, bei dem er ihn im Zweikampf tötet. In der anschließenden Schlacht wird das Heer des jüngeren Bruders aufgerieben. Der Kampf um den englischen Thron wird aber vom Sohn und Erben des jüngeren Bruders weitergeführt und greift nach Frankreich über, das schwer unter dem Krieg zu leiden haben wird. Der Sieger dieser Auseinandersetzung könnte seine Machtbasis in Frankreich haben oder sogar Franzose sein. Wenn der jüngere Königssohn stirbt, werden Florenz und Imola in der Emilia-Romagna zurückgeschlagen werden.
 

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3/98 - 10/40 - 8/58 - 2/34 - 1/35 - 6/77

3/98  

Deus royals freres1) si fort guerroyeront
Qu’entre eux sera la guerre si mortelle,
Qu’vn chacun places fortes occuperont:
De regne2) & vie sera leur grand querele.3)

Zwei königliche Brüder1) werden so heftig Krieg führen,
dass zwischen ihnen der Krieg überaus tödlich sein wird
[und] dass alle beide befestigte Plätze besetzen werden.
Um Herrschaft2) und Leben wird ihr großer Streit gehen.3)
1) "Bruder" kann im Mittelfranzösischen wie im Lateinischen auch "Bundesgenosse", "Bündnispartner" bedeuten.
2) Oder u. a. auch: "Königreich".
3) Das gemeinsame Auftreten von "regne" und "querele" in dieser Zeile erinnert an 8/58/1.


Zwei englische Königssöhne führen einen Bruderkrieg um Englands Thron. Dabei geht es auch um Leben und Tod.

In 3/98 geht es um einen Krieg zwischen zwei Brüdern oder Bündnispartnern (vgl. Anmerkung 1), die beide königlicher Herkunft sind. Interessant ist dabei Zeile vier, die sprachlich und inhaltlich an 8/58/1 erinnert. 8/58 thematisiert dabei einen Bruderkampf um den englischen Thron.

In den ersten beiden Zeilen von 3/98 erfahren wir, dass sich die beiden Brüder einen heftigen und tödlichen Krieg liefern werden. Es wird also zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommen, worauf auch Nostradamus’ Wortwahl in 8/58/2 ("prendre les armes") hindeutet.

Dem zweiten Teil der Strophe ist zu entnehmen, dass es um die Herrschaft im Land gehen wird. Dabei wird auch um Festungen bzw. befestigte Plätze gekämpft werden.

Andererseits geht es für die beiden Brüder auch um Leben und Tod. Der Verlierer muss also damit rechnen, diesen Zweikampf nicht zu überleben. Das würde zu 2/34 und 6/77 passen.





10/40  

Le ieune nay au regne1) Britannique,
Qu’aura le pere mourant recommandé,2)
Iceluy3) mort LONOLE4) donra topique5),
Et à son fils le regne6) demandé.7)

Der Junge [wurde] im britannischen Land1) geboren,
das der sterbende Vater [diesem] anvertraut haben wird.2)
Dieser3) tote "LONOLE"4) wird [ein] Argument5) liefern.
Und von seinem Sohn [wird] die Herrschaft6) verlangt7) [werden].
1) Oder u. a. auch: "Königreich".
2) Oder auch: "den der sterbene Vater empfohlen (= als Nachfolger designiert) haben wird", vgl. CLÉBERT, S. 1103.
3) Oder, wenn man "iceluy" als Personalpronomen versteht, auch: "Dieser [wird] tot [sein, und] "LONOLE" wird [...]"
4) Unklar. CLÉBERT, S. 1103f., könnte sich hier einen Fehler für "l’oncle" (der Onkel) vorstellen und verweist auf die Vorgänge am englischen Hof nach dem Tod König Heinrich VIII. im Jahr 1547. Der erst zehnjährige Eduard VI. kam auf den Thron, die Staatsgeschäfte führte aber bis 1549 sein Onkel Edward Seymour, der Herzog von Somerset. Auf Betreiben von dessen Nachfolger John Dudley, Graf von Warwick, wurde Seymour 1552 hingerichtet. Bis zum Tod des jungen Königs 1553 regierte Dudley England, ehe er noch im selben Jahr ebenfalls hingerichtet wurde. Allerdings versuchte kein Sohn der beiden Regenten, die Macht über England zu erhalten.
          Bei der gewählten Übersetzung scheint "LONOLE" mit dem vestorbenen König identisch zu sein. In diesem Fall müsste das Anagramm "LONOLE" im britisch-englischen Kontext aufzulösen sein. Mit Blick auf die Bedeutung des Löwen für England (vgl. dazu 5.71) ließe sich etwa das griech. (H)O LEON (der Löwe) herauslesen, doch wieso sollte Nostradamus hier auf die Sprache der Hellenen zurückgreifen? Vielleicht deswegen, weil "topique" wie auch "tonique", vgl. Anmerkung 5, ihre Wurzel im Griechischen haben? Im ersten Fall wäre der "Löwe" möglicherweise auch als Anspielung auf den antiken Philosophen Leon von Byzanz zu verstehen. Leon, ein Schüler Platos, wurde wegen seinen überzeugenden Antworten und Argumentationen zu den Sophisten gezählt. In den "Leben der Sophisten" von Philostrat wird diesbezüglich etwa erzählt, wie Leon seine Heimatstadt Byzanz vor der Eroberung durch Philipp von Makedonien gerettet haben soll, indem er den Angreifer mit wenigen Worten von seinem Vorhaben abbrachte (vgl. SMITH, Band 2, S. 742f.). Des weiteren gab es im griechischen Osten sechs byzantische Kaiser namens Leo (franz. Léon) und ebenso viele armenische Könige. Im Westen waren bis zur Zeit des Nostradamus elf gleichnamige Päpste zu verzeichnen.
5) Das mittelfranzösische Substantiv "topique" (Argument, Gemeinplatz - vgl. griech. "topos") wird v. a. im philosophischen und medizinischen Bereich verwendet. In der Medizin bezieht sich das Adjektiv "topique" auf ein Heilmittel, das man auf dem erkrankten Körperteil direkt anwendet ("remède topique"). Etwas besser auf das "Britannique" der ersten Zeile reimen würde sich allerdings "tonique". Der Begriff findet ebenfalls in der Medizin Verwendung und bezieht sich auf die Spannung bzw. Spannkraft im Gewebe. Das zugrunde liegende griechische "tonos" bedeutet u. a. "das Spannende; Spannung, Nachdruck, Wucht". In diesem Fall wäre "donra tonique" wohl sinngemäß als "wird eine gespannte Lage verursachen" zu verstehen.
6) Vgl. Anmerkung 1.
7) Oder, wenn man "demandé" auf das lat. "demandare" (anvertrauen) zurückführt: "Und seinem Sohn [wird] die Herrschaft anvertraut [werden]".


Im Sterben vermacht der englische König die Krone seinem jüngeren und in England geborenen Sohn. Der übergangene ältere Sohn akzeptiert die Entscheidung des Vaters nicht und erhebt Anspruch auf den Thron.

In den ersten beiden Zeilen geht es wohl um die Thronfolge in Britannien (England). Der sterbende König ("Vater") wird dabei seinen jüngeren Sohn (den "Jungen") zum Nachfolger bestimmen. Da in der englischen Thronfolge automatisch immer - falls vorhanden - der älteste Sohn die Königskrone erbt, muss es für die Entscheidung des dahinscheidenden Königs gewichtige Gründe geben.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Nostradamus in der ersten Zeile eigens erwähnt, dass der jüngere Sohn in England geboren sein wird. Ein Umstand, den man bei englischen Königssöhnen in der Regel als gegeben annehmen könnte. Aber sollte dies hier beim älteren Sohn vielleicht nicht zutreffen?

In der dritten Zeile ist von einem Argument die Rede (vgl. aber Anmerkung 5), dass der tote "LONOLE" liefern wird. Der letzten Zeile ist zu entnehmen, dass von "LONOLEs" Sohn die Herrschaft - mutmaßlich die Herrschaft über England - verlangt werden wird. Somit ist "LONOLE" wohl innerhalb der englischen Königsfamilie zu suchen. Falls es "LONOLE" ist, der tot ist (vgl. Anmerkung 3), ist er wohl mit dem verstorbenen König ("Vater") aus der zweiten Zeile identisch (vgl. Anmerkung 4). 

Doch was für ein Argument wird von "LONOLE" geliefert werden und wofür? Ist damit vielleicht die Tatsache gemeint, dass der von ihm bevorzugte jüngere Sohn in England geboren sein wird? Ein Umstand, der ihn nach "LONOLEs" Dafürhalten zum Besteigen des englischen Thrones berechtigt?

Zeile vier kann einmal mehr unterschiedlich verstanden werden. Mit "LONOLEs" Sohn ist entweder der übergangene ältere oder der bevorzugte jüngere Sohn gemeint. Die Stelle "von seinem Sohn verlangt" kann bedeuten, dass dieser Sohn die Herrschaft besitzt, die jetzt aber von jemand anderem (wohl dem anderen Sohn) beansprucht ("abverlangt") wird. Oder die Stelle meint, dass der leer ausgegangene Sohn die Macht anstrebt ("verlangt"). Kurz und gut: Die Entscheidung des Vaters wird nicht akzeptiert und beide Söhne beanspruchen die Krone für sich.



8/58  

Regne1) en querelle aux freres2) diuisé,3)
Prendre les armes4) & le nom5) Britannique
Tiltre Anglican6) sera tard aduisé,
Surprins de nuict7) mener à l’air8) Gallique.

[Das] Land1) im Streit [ist] unter [den] Brüdern2) aufgeteilt,3)
um das Wappen4) und den britannischen Titel5) zu ergreifen.
[Der] englische6) Titel wird spät zuerkannt werden.
Überrascht [wird man ihn] bei Nacht7) in gallische Luft8) zu bringen [haben].
1) Oder u. a. auch: "Königreich".
2) "Bruder" kann im Mittelfranzösischen wie im Lateinischen auch "Bundesgenosse", "Bündnispartner" bedeuten.
3) Vgl. 3/98/4.
4) Neben "Waffen" bedeutet das mittelfranzösische "armes" u. a. auch "Wappen". Vielleicht hat Nostradamus hier an das griech. "sema, semeion" gedacht, das neben "Wahrzeichen, Insignie" u. a. auch "Siegel" bedeutet. Im englisch-britischen Zusammenhang wäre dann wohl entweder vom großen Staatssiegel (Great Seal of England) oder dem Siegel des Königs (Privy Seal of England) die Rede.
5) Das mittelfranzösische "nom" (Name) bedeutet auch "Titel". Das lat. "nomen" u. a. auch "Volk, Nationalität". Mit dem "nom Britannique" ist sinngemäß entweder der englische Königstitel oder die Macht über England bzw. Britannien gemeint.
6) Das mittellateinische "anglicanus" bedeutet einfach "englisch". Seit 1531 ist der König bzw. die Königin von England das Oberhaupt, der "Supreme Governor" (bzw. einst "Supreme Head") der "Church of England", der katholischen Kirche Englands ("église anglicane", 1554). Mit dem "englischen (oder anglikanischen?) Titel" ist somit entweder wieder der englische Königstitel direkt gemeint (vgl. Anmerkung 5) oder der Titel des Supreme Governors der Church of England, der jedoch nur dem englischen König zusteht.
7) Unklar. Im Verborgenen? Unglücklich (vgl. griech. "nykterefes": mit Nacht bedeckt, schwarz, unglücklich)? Die "Nacht" könnte vielleicht auch im Sinne des lat. "nox" verstanden werden, das u. a. auch "Todesnacht, Tod" bedeutet.
8) Mit Blick auf das griech. "aer" vielleicht auch "Nebel, Gewölk, Dunkel". Hier ist wohl einfach "französisches Gebiet" gemeint, vgl. die Wendung "changer d’air" (die Luft = den Ort wechseln).


England ist im Thronstreit der beiden Königssöhne zweigeteilt, es herrscht Bürgerkrieg. Die Entscheidung wird erst spät fallen, und die Krone wird nach Frankreich gebracht werden.

In der ersten Zeile ist von einem Land oder Königreich die Rede, das unter Brüdern aufgeteilt ist. Gemäß 3/98, zu dem diese Strophe gehören dürfte, wird es sich dabei um zwei Brüder handeln.

Zeile zwei ist zu entnehmen, dass es in dieser Situation der Spaltung wohl um den Besitz der britannischen (englischen) Krone geht (vgl. Anmerkungen 4 und 5). Die von Nostradamus gewählte Formulierung "les armes" lässt zudem die Vermutung zu, dass dieser Konflikt auch mit Waffengewalt ausgetragen werden wird. Dazu passen würde 3/98/1f.

In der dritten Zeile erfahren wir, dass die Entscheidung im Kampf um den englischen Thron erst spät fällt. Man wird überrascht sein, aber die englische Krone wird nach Frankreich gebracht werden müssen (vierte Zeile). Wohl, weil sich der Sieger dort aufhalten wird. Oder sollte es sich vielleicht gar um einen Franzosen handeln, vgl. 2/34?

Unklar ist, weshalb Nostradamus schreibt, dass die englische Königswürde "bei Nacht" nach Frankreich zu bringen sein wird. Ist die "Nacht" vielleicht als Synonym für "Tod" zu verstehen, vgl. Anmerkung 7? In diesem Fall würde der Kampf um die Krone wohl durch den überraschenden Tod eines der beiden Kontrahenten entschieden. Dass es bei diesem Kampf auch tatsächlich um Leben und Tod der beiden Brüder gehen wird, ist 3/98/4 zu entnehmen.







2/34  

L’ire insensée du combat furieux
Fera à table par freres1) le fer luire2)
Les despartir mort, blessé, curieux3):4)
Le fier5) duelle6) viendra en France nuire7).

Der unsinnige Hass aus dem wütenden Kampf
wird dazu führen, [dass] am Tisch von Brüdern1) die Waffen gezogen2) werden.
Die [zu] Trennenden [sind] tot, verletzt [und] besorgt3).4)
Der schreckliche5) Zweikampf6) wird nach Frankreich kommen, [um ihm zu] schaden7).
1) "Bruder" kann im Mittelfranzösischen wie im Lateinischen auch "Bundesgenosse", "Bündnispartner" bedeuten.
2) "Faire le fer luire" bedeutet wörtlich "das Eisen aufblitzen lassen". Im Mittelfranzösischen steht dabei "fer" u. a. auch für "(eiserne) Waffe". Man zieht hier also blank.
3) Oder u. a. auch: "eifrig, beflissen; neugierig".
4) D. h. von den beiden wird einer tot und der andere verletzt und besorgt sein (vgl. die fehlenden Pluralendungen).
5) "Fier" bedeutet im Mittelfranzösischen neben "stolz" u. a. auch "wild, schrecklich, grausam".
6) Oder nach lat. "duellum" auch "Krieg, Auseinandersetzung, Schlacht".
7) Oder sogar: "[um es zu] zerstören".

Die beiden englischen Prinzen treffen sich am Verhandlungstisch. Dort wird blank gezogen und einer der beiden stirbt im Kampf. Der Kampf um die Krone geht aber weiter und greift auf Frankreich über, das schwer unter dem Krieg zu leiden haben wird.

In der ersten Hälfte der Strophe ist von zwei Brüdern die Rede, die sich wütend bekämpfen und zwischen denen deshalb ein Hass herrscht, der jedes vernünftige Maß überschritten hat.

Der zweiten Zeile ist zu entnehmen, dass von den Brüdern "am Tisch" die Waffen gezogen werden. Mit diesem "Tisch" könnte ein Verhandlungstisch bzw. eine Verhandlung gemeint sein, bei der einer (oder beide) vor lauter Hass überraschend (?) zu den Waffen greift.

In der dritten Zeile erfahren wir, dass "die zu Trennenden" tot, verletzt und besorgt sein werden. Mit den zu Trennenden sind wohl die beiden Brüder gemeint, die ihrerseits vielleicht von Verhandlungsdelegationen begleitet werden. Es scheint, als würde diesem Handgemenge einer der beiden zum Opfer fallen, vgl. Anmerkung 4.

Wenn einer der beiden Brüder stirbt, ist es somit der überlebende, der sowohl verletzt wie auch besorgt sein wird. Doch warum sorgt er sich?

In der letzten Zeile erfahren wir, dass der schreckliche Zweikampf mit dem Tod eines der Kontrahenten nicht einfach zu Ende gehen sondern nach Frankreich übergreifen wird. Diese letzte Zeile dürfte die Brücke zu 8/58 schlagen. Wir können mit Blick auf jene Strophe und den dazu gehörenden das Geschehen in 2/34 jetzt wohl einordnen:

Bei den (zwei) Brüdern handelt es sich um die beiden englischen Königssöhne, die ihr Land unter sich aufgeteilt haben und um die Krone kämpfen.

In 2/34 treffen sie sich möglicherweise zu Verhandlungen, die die Kämpfe beenden sollen. Ihr brennender Hass lässt allerdings wenigstens einen von ihnen die Waffen ziehen. Der Umstand, dass überhaupt Waffen zu den vermuteten Verhandlungen mitgenommen werden, könnte darauf hindeuten, dass es sich bei diesen um eine Falle handeln wird, die einer dem anderen stellt. Möglicherweise finden die Unterredungen auch kurz vor Beginn einer Schlacht statt, zu einem Zeitpunkt also, wenn die Beteiligten schon unter Waffen stehen.

Einer der beiden Brüder wird in diesem Kampf am Verhandlungstisch sterben. Wie der letzten Zeile zu entnehmen ist, geht der Bruderkrieg um die englische Krone weiter, greift allerdings nach Frankreich über.

Doch wer sollte für die Sache des toten Thronprätendenten weiterkämpfen? Dafür kommt meines Erachtens v. a. dessen Erbe infrage, der nun seinerseits einen Anspruch auf die Krone geltend machen kann (vgl. 6/77). Der Umstand, dass der Kampf auch nach dem Tod des Rivalen weitergeht und nun sogar in Frankreich ausgefochten werden muss, könnte der Grund dafür sein, dass der überlebende Bruder "besorgt" sein wird.

Warum der Kampf auf das benachbarte Frankreich übergreifen wird, ist hier nicht ersichtlich. In 8/58 erfahren wir auch nichts Genaueres. Hat der tote Prätendent bzw. dessen Erbe seine Machtbasis in Frankreich? Ist einer der beiden Brüder vielleicht (Halb-) Franzose? Das wäre vielleicht sogar eine denkbare Erklärung, weshalb der König in 10/40 die Krone dem jüngeren Sohn vererbt: um zu verhindern, dass einmal ein (halber) Franzose den englischen Thron wird besteigen können. Wenn man die gegenseitigen Aversionen im Verhältnis zwischen Engländern und Franzosen in Betracht zieht, würde eine derartige Konstellation auch den unermesslichen Hass erklären, der in diesem Thronfolgekrieg vorhanden ist. Wie auch immer, jedenfalls wird Frankreich unter diesem Krieg schwer zu leiden haben.




1/35  

Le lyon ieune le vieux surmontera,1)
En champ bellique par singulier2) duelle3),
Dans caige4) d‘or les yeux luy creuera5):
Deux classes6) vne, puis mourir,7) mort cruelle.

Den jungen Löwen wird der alte besiegen,1)
auf dem Schlachtfeld in [einem] außergewöhnlichen2) Zweikampf3).
Im goldenen Käfig4) wird [er] ihm die Augen ausstechen5).
[Von] zwei Heeren6) [wird] eines dann sterben.7) [Und zwar einen] grausamen Tod.
1) Oder natürlich auch umgekehrt: "Der junge Löwe wird den alten besiegen".
2) Oder auch: "einzelnen".
3) Oder nach lat. "duellum" auch "Krieg, Auseinandersetzung, Schlacht".
4) Oder auch: "Falle".
5) Nostradamus könnte hier auf die französische Wendung "crever les yeux" anspielen. "Crever les yeux" bedeutet "ins Auge stechen" bzw. "ins Auge springen", d. h. offensichtlich sein bzw. werden. Das in eckigen Klammern eingefügte "er" könnte also auch ein "es" sein und einen Sachverhalt oder ein Geschehen meinen.
6) Lat. "classis" (Heer, Flotte).
7) Bei der Übersetzung wurde das Komma zwischen "vne" und "puis" weggelassen. Ansonsten könnte die Stelle auch etwa mit "[Von] zwei Heeren [bleibt] eines, dann wird [es/er] sterben" übersetzt werden. Vgl. 6/77/2.


Der ältere englische Königssohn tötet den jüngeren im Zweikampf, nachdem er ihn in die Falle gelockt hat. In der darauf folgenden Schlacht wird das Heer des jüngeren vernichtet.

1/35 ist wohl eine der berühmtesten Strophen aus den Prophezeiungen des Nostradamus. Sie hat den Ruhm unseres Sehers mitbegründet. Nach klassischer Deutung - oder besser: Fehldeutung - soll Nostradamus hier den Turnierunfall des französischen Königs Heinrich II. (1547 - 1559) vom 30. Juni 1559 vorhergesehen haben, bei dem sich der König derart schwer verletzte, dass er am 10. Juli an den Folgen dieses Unfalls starb. Eine Interpretation, die in der Literatur erstmals im Jahr 1656 erscheint (PRÉVOST, S. 20).

Mit den beiden "Löwen" seien, der immer noch verbreiteten herkömmlichen Interpretation zufolge, König Heinrich II. und sein Turniergegner Gabriel de Lorges, Graf von Montgomery (1526 - 1574) gemeint. Bei diesem Turnier standen sich die beiden in einem Zweikampf gegenüber, wobei Montgomerys Lanze den Helm des Königs durchdrang und diesen in der Nähe eines der Augen schwer verletzte. Eine Verwundung, deren Folgen Heinrich einige Tage später erlag.

Gemäß LEONI (S. 575f.) wurde in der Nostradamusforschung dieser Missdeutung aber spätestens seit 1863 widersprochen. Es gibt nämlich keinen ersichtlichen Grund, weshalb unser Seher die beiden Männer als "Löwen" hätte bezeichnen sollen. Weder trugen sie in ihren Wappen Löwen noch waren es etwa Engländer. Montgomery stammte allerdings aus der Normandie, deren Wappen zwei Löwen zeigt und war Befehlshaber von Heinrichs Schottischer Garde. Doch warum sollte dann auch der König als "Löwe" bezeichnet werden?

Nostradamus schreibt, dass sich beide "Löwen" auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen werden. Doch ein Turnier ist eine Festveranstaltung, kein Schlachtfeld. Das wäre ein erster Fehler.

Der "goldene Käfig" soll sich auf den Umstand beziehen, dass Heinrich einen goldfarbenen Helm getragen habe, den Montgomerys Lanze durchstieß. Leider ist nicht belegt, ob der König einen solchen Helm getragen hat. Zudem wurden die Augen des Königs direkt nicht verletzt (vgl. PRÉVOST, S. 20 u. GRUBER, S. 248). Ein weiterer Fehler.

Zwei Heere oder Flotten ("deux classes") standen sich zum Zeitpunkt des Todes Heinrich II. nicht gegenüber. Im Gegenteil, Frankreich und Spanien hatten 1559 gerade Frieden geschlossen. Bei Nostradamus meint "classe" jedoch stets das lat. "classis". Alternativ könnte man hier vielleicht auf das griech. "klasis" zurückgreifen, das "das Brechen, das Zerbrechen" bedeutet. Doch Montgomerys Lanze durchstieß bloß einmal des Königs Helm, wobei sie zersplitterte, nicht zweimal.

In 1/35/2 ist von einem "singulier duelle", einem außergewöhnlichen oder einzelnen (Zwei)kampf, die Rede. Die Stelle erinnert an 2/34/4, wo ein schrecklicher (Zwei)kampf ("fier duelle") nach Frankreich kommt. In 2/34 dürfte es um einen Bruderkampf um die englische Krone gehen. Um einen Bruderkampf, der wohl im Rahmen einer Verhandlung auch ganz direkt ausgetragen werden wird und dem einer der beiden Rivalen zum Opfer fällt.

Falls die sprachliche Übereinstimmung von 1/35/2 und 2/34/4 mehr als ein bloßer Zufall ist, lässt sich das Geschehen in 1/35 etwa folgendermaßen verstehen:

Mit dem alten und dem jungen "Löwen" der ersten Zeile sind wohl die beiden englischen Prinzen gemeint, die um Britanniens Krone kämpfen. Neben dem Leoparden ist dabei der Löwe ein Symbol für England oder einen Engländer. Zum Thema Leopard/Löwe siehe 5.71.

Ob der jüngere Bruder den älteren besiegt oder umgekehrt, lässt sich allein aufgrund von Zeile eins nicht entscheiden. Sprachlich wäre beides möglich, vgl. Anmerkung 1. Mit Blick auf 6/77 dürfte es jedoch der ältere Löwe sein, der den jüngeren besiegt.

Wo sich der schicksalshafte Zweikampf der beiden zutragen wird, ist allerdings etwas klarer. Er scheint auf einem Schlachtfeld stattzufinden (Zeile zwei). Der siegreiche "Löwe" wird dabei dem unterlegenen in einem "goldenen Käfig" oder einer "goldenen Falle", vgl. Anmerkung 4, die "Augen ausstechen". Dem besiegten "Löwen" wird wohl zu spät klar werden, vgl. Anmerkung 5, dass er hinters Licht geführt worden sein wird.

In 2/34 dürfte beschrieben sein, wie bei einer Verhandlung der beiden Brüder plötzlich blank gezogen wird. Diese Unterredung könnte mit der "goldenen Falle" aus 1/35 gemeint sein. Möglicherweise bringt der eine Bruder den anderen mit einem sehr verlockenden ("goldenen") Angebot an den Verhandlungstisch, plant aber von Anfang an die gewaltsame Überwältigung seines Konkurrenten.

1/35/2 ist zu entnehmen, dass dieser außergewöhnliche Zweikampf der beiden Brüder auf dem Schlachtfeld stattfinden wird. Wie schon zu 2/34 ausgeführt, könnte dieses Treffen kurz vor einer angesetzten Schlacht stattfinden, vielleicht als letzter Versuch, den Waffengang noch abzuwenden. Das würde erklären, weshalb die Verhandlungen bzw. der sich daraus entwickelnde Zweikampf laut 1/35 auf dem vorgesehenen Schlachtfeld stattfindet.

Doch nach dem gewaltsamen Scheitern der Verhandlungen kommt es zur Schlacht. Wie wir in der vierten Zeile erfahren, wird eines der beiden Heere dabei eine schreckliche Niederlage erleiden, einen "grausamen Tod sterben". Leider erfahren wir nicht, um welches Heer der beiden "Löwen" es sich dabei handeln wird. Wieder mit Blick auf 6/77 wird es aber wohl das Heer des (toten) jüngeren Löwen sein.




6/77  

Par la victoire du deçeu2) fraudulente1),
Deux classes3) vne, la reuolte5) Germaine4):
Le chef meurtry & son filz dans la tente,6)
Florence, Imole7) pourchassés dans Romaine8).

Wegen des betrügerischen1) Sieges des Betrogenen2)
[werden] zwei Heere3) [zu] einem [in] der brüderlichen4) Revolte5).
Das Oberhaupt [wird] getötet und sein Sohn [ist] im Zelt.6)
Florenz [und] Imola7) [werden] in [der] Römischen8) verfolgt [werden].
1) Im medizinischen Bereich auch "gefährlich, schädlich".
2) Oder: "Verratenen".
3) Lat. "classis" (Heer, Flotte). Vgl. 1/35/4.
4) Das mittelfranzösische "germain" bedeutet in erster Linie "geschwisterlich, (eng) blutsverwandt". Die Bedeutung "germanisch/deutsch" scheint erst im 17. Jahrhundert dazu zu kommen (vgl. DUBOIS/MITTERAND/DAUZAT, S. 337).
5) Oder auch: "Umwälzung".
6) Oder auch denkbar: "Das Oberhaupt [wird] getötet, und [auch] sein Sohn, im Zelt".
7) Stadt am Nordabhang der Apenninen, etwa 35 km südöstlich von Bologna. Zur Zeit des Nostradamus war Imola Teil des Kirchenstaates.
8) Oder: "Romanischen". Hier dürfte Nostradamus entweder das Latium meinen oder aber eher die Romagna, in der auch Imola liegt. Die Romagna ist der südöstliche Teil der Region Emilia-Romagna.

Der vom sterbenden Vater um den Thron "betrogene" ältere englische Prinz besiegt den jüngeren Bruder dadurch, dass er ihn seinerseits betrügerisch in die Falle lockt. Wenn der jüngere stirbt, befindet sich sein Sohn und Erbe in einem Zelt. Zeitgleich werden dann in Italien Florenz und Imola in der Emilia-Romagna zurückgeschlagen.

Die zweite Zeile dürfte 6/77 mit 1/35 verbinden. Wir erfahren, dass sich anfangs zwei Heere gegenüber stehen werden, von denen aber nur eines auch nachher noch da sein wird. Das andere wird in dieser Schlacht wohl aufgerieben werden, vgl. 1/35/4. In einer Schlacht, die zu einer Revolte zwischen Brüdern gehören wird. Damit ist wohl der Bruderkampf um den englischen Thron, der Kampf zwischen den beiden "Löwen" aus 1/35 gemeint.

In 6/77/1 erfahren wir, dass in dieser Schlacht ein Betrogener einen betrügerischen Sieg davontragen wird. Mit dem "Betrogenen" müsste der ältere der beiden Brüder gemeint sein, der vom sterbenden Vater um die Krone gebracht wird, vgl. 10/40. Er ist es, der in der erwähnten Schlacht siegen wird. Allerdings nicht auf ehrliche Weise, er "betrügt", d. h. wendet eine (unerlaubte) List an.

Mit der erwähnten List ist meines Erachtens das persönliche Treffen der beiden Brüder gemeint, bei dem blank gezogen und einer der beiden sterben wird (vgl. 2/34 u. 1/35). Eine Falle, vgl. 1/35, die offenbar der ältere dem jüngeren Bruder stellt. Die Beseitigung des Thronrivalen scheint auch den Ausgang der Schlacht zu bestimmen. In 6/77/1 ist vom "Sieg" des Betrogenen, des älteren Bruders, die Rede. Die Tötung des Bruders reicht aber wahrscheinlich nicht aus, um schon von einem Sieg zu sprechen. Dazu braucht es wohl den entprechenden Ausgang der anschließenden Schlacht.

In 6/77/3 ist von einem getöteten Oberhaupt und dessen Sohn die Rede, der sich offenbar in einem Zelt befindet. Mit dem "Oberhaupt" müsste der jüngere der beiden Königssöhne gemeint sein, der ja vom sterbenden Vater zum König von England gemacht wurde (10/40). Wie wir erfahren, hat er offensichtlich einen Sohn, also einen Erben, der auf den Thron Anspruch erheben kann. Dieser Sohn wird sich in einem Zelt aufhalten. Doch in welchem Zelt? In jenem, in dem das Treffen der beiden Brüder stattfindet? Dann stellt sich aber die Frage, weshalb der ältere Bruder nicht auch noch den Sohn seines Rivalen tötet. Mit dem "Zelt" könnte somit eher ein anderes Zelt gemeint sein, in dem sich der Sohn in Sicherheit befindet. Etwa das Kommandozelt seines Vaters. Von hier aus könnte er als dessen Erbe seine Truppen in der Schlacht befehligen. In einer Schlacht, die er allerdings verlieren wird.

Dass mit dieser Schlacht aber der Bruderkrieg um den englischen Thron noch nicht zu Ende ist, erfahren wir in 2/34 und 8/58. Der Kampf dehnt sich vielmehr auch auf das benachbarte Frankreich aus. Nach Frankreich, wo der Sieger seine Machtbasis haben könnte.

In der letzten Zeile von 6/77 erwähnt Nostradamus ein Geschehen in Italien, das sich dann zutragen wird, wenn der jüngere der beiden englischen Prinzen stirbt. Die verbündeten Florenz und Imola werden in der Emilia-Romagna zurückgeschlagen werden. Näheres dazu erfahren wir leider nicht.



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