5.99  In Deutschland entstehen neuheidnische Sekten, die sich auch in anderen Ländern ausbreiten. Ein französischer Herrscher und ein Großinquisitor werden sie erfolgreich bekämpfen.

In Deutschland entstehen neuheidnische Sekten, deren Gedankengut auf antiken Fantasien beruht. Diese neuheidnischen "Fantasten" werden ihre Wirkung auch in anderen Ländern entfalten. In Spanien und im Raum Mailand werden sie großes Unheil anrichten. Die Kirche wird dabei militärisch und theologisch angegriffen. Der Papst geht sogar in Gefangenschaft, und in der Kirche kommt es zu Spaltungen. Die neuheidnischen "Fantasten" bekämpfen die Kirche, deren Priester und Ordensleute und plündern die Kirchenschätze. Der Herrscher Frankreichs wird diese "Fantasten" später erfolgreich bekämpfen. Zunächst befinden sich die Neuheiden aber auf dem Vormarsch. In Italien stoßen sie nach ihrem Sieg bei Mailand in Richtung Romagna vor. Spanien befindet sich zu dieser Zeit in einer sehr gefährlichen Situation, die die Aufmerksamkeit der Mächtigen zur Gänze auf sich zieht. In Frankreich finden religiöse Verfolgungen statt, die auch in Zusammenhang mit dem Aufkommen der "Fantasten" stehen dürften. Eine Art Großinquisitor wird sich schließlich der Bekämpfung der Neuheiden widmen, wobei er sich des Denunziantentums bedient. Bei den Franzosen wird er dabei nicht mehr viel zu tun haben, dafür aber beim Volk der "Felsen" (Sachsen?).


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3/76 - 2/65 - 2/12 - 4/36 - 1/45 - 1/96


3/76

[1] En Germanie naistront3) diuerses1) sectes2),
[2] S’approchans fort de l’heureux paganisme,
[3] Le cueur4) captif & petites receptes5),
[4] Feront retour à payer le vray disme6).

[1] In Germanien werden üble1) Sekten2) entstehen3), [die]
[2] sich stark dem glücklichen Heidentum annähern.
[3] Das Herz4) [wird] gefangen und [die] Abgaben5) [werden] klein [sein].
[4] [Sie] werden [dazu] zurückkehren, den wahren Zehnten6) zu zahlen.

1) "Divers" bedeutet im Mittelfranzösischen u. a. "verschieden; seltsam, außergewöhnlich; schrecklich, verderblich; feindlich; schlecht".
2) Das mittelfranzösische "secte" bezeichnet eine Gruppierung im weitesten Sinne, religiöser wie nichtreligiöser Natur. Da es hier aber um den religiösen Bereich geht, wurde bei der Übersetzung auf das dt. Wort "Sekte" im heutigen Sprachgebrauch zurückgegriffen.
3) Oder auch: "erscheinen, auftauchen".
4) Mit diesem "Herzen" könnten etwa der Verstand oder die Überzeugung der Menschen gemeint sein, die in Besitz ("gefangen") genommen werden. In der Astrologie wird das Herz dem Tierkreiszeichen Löwen sowie der Sonne zugeordnet. AGRIPPA VON NETTESHEIM, Buch 1, Kapitel 23, können wir entnehmen, was dem astrologischen Herz-Planeten sonst noch angehört. Wir finden darunter u. a. den "König der Tiere", den Löwen, oder den "König der Vögel", den Adler, vgl. dazu auch Ebd., Buch 2, Kapitel 14. Falls Nostradamus an den Adler gedacht hat, könnte dies so zu verstehen sein, dass diese Sekten Deutschland bzw. das römisch-deutsche Reich in Besitz nehmen werden. Oder es könnte sich das Oberhaupt des Reiches, der Kaiser, in der Gewalt dieser Kräfte befinden.
5) Das mittelfranzösische "recepte" (ein etwas schiefer Reim auf "secte") bedeutet "Sammlung, Einsammeln, Einnahmen, Bezahlung, Abgabe; Abgabenbezahlstelle; Rezept, Herstellungsanweisung; Konzeption". Das lat. "receptum" neben "Verpflichtung" auch "Garantie".
6) Der Zehnt (= "zehnte Teil") war die mittelalterliche Abgabe an die Kirche, der sein Vorbild bereits im Alten Testament findet (Levitikus 27,30). Bei den heidnischen Römern existierte die "decuma" ("decima"), der einer Gottheit versprochene zehnte Teil der Kriegsbeute oder Einkünfte. Dieser wurde im mittelfranzösischen ebenfalls "disme" genannt.
In Deutschland werden üble neuheidnische Sekten entstehen, die u. a. dadurch attraktiv sein könnten, dass ihre "Kirchensteuern" niedrig sein werden. Der dt. Kaiser oder der Papst könnte in Gefangenschaft geraten. Schließlich wird Deutschland aber wieder zum katholischen Glauben zurückfinden.

In den ersten beiden Zeilen erfahren wir, dass in Germanien (Deutschland) üble Gruppierungen entstehen werden, die sich in ihren Vorstellungen stark an das "glückliche Heidentum" anlehnen werden. Mit dem "Heidentum" sind wohl vor- bzw. nichtchristliche religiöse Glaubenssyssteme gemeint. Doch weshalb bezeichnet Nostradamus diese Überzeugungen als "glücklich"? Das könnte damit zu tun haben, dass diese neuheidnischen Bekenntnisse die christlichen Vorstellungen von Schuld und Sünde nicht kennen bzw. ablehnen.

In der dritten Zeile lesen wir, dass das "Herz" gefangen sein wird. Wie in Anmerkung 4 ausgeführt, könnten damit die Herzen (bzw. "Köpfe") der Menschen gemeint sein, die diesen Sekten folgen. Oder das "Herz" meint hier vielleicht konkret ein Land bzw. dessen Oberhaupt (z. B. Deutschland oder dessen Kaiser). In diesem Zusammenhang ist aber ein Blick auf 2/65/3 interessant. Dort erfahren wir, dass "Feuer" im Schiff (d. h. Kirche) sein wird und "Pest" sowie "Gefangenschaft" folgen werden. Zusammen mit der Information aus 3/76/3 könnte dies so verstanden werden, dass das Oberhaupt ("Herz") der Kirche - der Papst - gefangen genommen wird.

Weiter ist 3/76/3 zu entnehmen, dass die "Abgaben" klein sein werden. Da in der vierten Zeile vom Zehnt die Rede ist, wäre es naheliegend, hier ebenfalls Abgaben im religiösen Bereich zu vermuten. Es könnte sich dabei konkret um die Abgaben der Gläubigen an die neuheidnischen Sekten handeln. Diese scheinen niedrig zu sein. Ein Umstand, der die Attraktivität dieser Gruppierungen für eher diesseitsorientierte Menschen wohl zusätzlich steigern würde.

Doch in der vierten Zeile erfahren wir, dass das ganze neuheidnische Sektenunwesen nur von vorübergehender Natur sein wird. Die katholische Kirche wird wieder nach Deutschland zurückkehren, und die Menschen werden in diesem Zusammenhang auch wieder den "wahren Zehnt", d. h. die Abgaben an Kirche bezahlen.




2/65

[1] Le parc1) enclin2) grande calamité
[2] Par l’Hesperie3) & Insubre4) fera:
[3] Le feu en nef, peste5) & captiuité:
[4] Mercure6) en l’Arq7) Saturne8) fenera9).

[1] Die Herde1) in Abfall2) [wird] großes Unheil
[2] in der Hesperia3) und Insubrien4) anrichten.
[3] Das Feuer [ist] im Schiff, Pest5) und Gefangenschaft [folgen].
[4] Merkur6) [steht] im Schützen7) [und] Saturn8) wird mähen9).

1) Das mittelfranzösische "parc" bedeutet neben "Pferch, Park" u. a. auch "Vieh, Tierherde; Herde der Gläubigen". BRIND’AMOUR, S. 287, zerlegt den Begriff in "p. arc." und deutet ihn mit Blick auf 6/5/2 und 6/21/1 als "pole arctique" (nördlicher Himmel), worauf in den Quellen allerdings nichts hindeutet. CLÉBERT, S. 298, sieht hier das lat. "parcus" (sparsam, genügsam) und verweist dabei auf 1/59/4 und 1/70/4.
2) Das mittelfranzösische "enclin" bedeutet "geneigt, gebeugt, unterworfen; traurig, niedergeschlagen". Obwohl in allen Ausgaben wie oben geschrieben, könnte hier aber auch "en clin" (in Neigung, in Krümmung) gemeint sein. Da es hier meines Erachtens um die "Herde" (Gläubigen) der Kirche geht, dürfte diese "Neigung, Krümmung" aber konkret als "Abweichung, Abfall" (vom Glauben, von der Kirche) zu verstehen sein. BRIND’AMOUR sieht hier über "incliné" das lat. "inclinatio" bzw. das griech. "klima" (geografische Breite) gemeint, was er zusammen mit "p.arc.", vgl. Anmerkung 1, als "geografische Breite des nördlichen Himmels" liest.
3) Das lat. "Hesperia" bezeichnet das "Abendland", nach antiker Auffassung Italien, Spanien und Westafrika. Nostradamus meint damit Spanien, vgl. 5/40/2 (5.23).
4) Die Insubrer waren ein Keltenstamm in Norditalien mit der Hauptstadt Mailand. Sie (bzw. ihr Gebiet) werden in 2/65/2, 4/19/1, 4/36/2, 4/37/2 und 7/15/1 namentlich genannt.
5) Die "Pest" bezeichnet im Lateinischen und Mittelfranzösischen nicht nur verschiedene ansteckende Krankheiten mit hoher Sterblichkeit, sondern bedeutet auch einfach "Unglück, Unheil".
6) "Merkur" taucht bei Nostradamus namentlich in 2/65/4, 3/3/1, 4/28/3, 4/29/1, 4/97/1, 5/93/2, 9/12/1, 9/55/4, 9/73/2, 10/67/2 und 10/79/3 auf. Neben dem Planeten könnte der Götterbote dabei einen französischen Herrscher meinen, den Nostradamus mit Herzog Ludwig II. von Bourbon (1337-1410) vergleicht, vgl. 5.58 (4/28, 4/29, 9/55, 5/93, 10/79) und 5.255 (10/75).
7) Lies: "arquitenens" (der Bogenhaltende, Schütze). Die 1568er-Ausgaben von Dresden, Paris und Gregorio scheinen fälschlicherweise "Art" (Kunst) zu schreiben. Dem Tierkreiszeichen Schützen zugeordnet sind die Toskana, die Celtica (Oberitalien u. a.), Spanien sowie die Arabia Felix (Südwesten der Arabischen Halbinsel), vgl. PTOLEMÄUS, Tetrabiblos 2,3 und AGRIPPA VON NETTESHEIM 1,31.
8) Saturn (griech. Kronos) war im römischen Heidentum der Gott des Ackerbaus. Selber ein Sohn des Uranus, wurde er von seinem eigenen Sohn Jupiter gestürzt und floh daraufhin ins Latium, wo er die Menschen den Ackerbau lehrte. Sein Tag war der Samstag (lat. "dies Saturni"), weshalb er bei Nostradamus auch für das Judentum steht. CLÉBERT, S. 596f., führt aus, dass die Zuordnung Saturn-Judentum bereits bei der hl. Birgitta von Schweden (1524) existiert. Dem Planeten Saturn ("dem großen Unglück") werden in der Astrologie u. a. die Trauer, die Leichen und die Gräber zugeordnet. Er wird in menschlicher Gestalt oft mit einer Sichel oder Sense dargestellt und entspricht so in etwa "Gevatter Tod".
9) In der 1557er-Ausgabe aus Budapest/Moskau steht fälschlicherweise die Verneinung "Saturne ne fenera". Mit Blick auf die Sense des Saturns ist "fenera" wohl als Nebenform von "fanera" (wird mähen, heuen) zu verstehen. Das mittelfranzösische "fener" hieße sonst auch noch "verhexen, verzaubern".
Die von der katholischen Kirche abgefallenen Gläubigen werden in Spanien und im Raum Mailand großes Unheil anrichten. Die Kirche oder der Kirchenstaat wird  in Feuer stehen. Es folgen Unheil (Unglauben) und die Gefangenschaft der Kirche oder des Papstes.

In der ersten Zeile ist meines Erachtens von einer "vom wahren Glauben abgewichenen Herde der Gläubigen" die Rede, vgl. Anmerkungen 1 und 2. Diese Häretiker werden großes Unheil anrichten.

Und zwar konkret in Spanien und in der Region Mailand (Zeile zwei). Die gemeinsame Nennung von Spanien und Mailand taucht auch in 4/36 auf. Und ebenfalls in Zusammenhang mit Konflikten oder sogar Krieg. Über 1/45 wird dann meiner Meinung nach der Bogen zu den "Sekten" in 3/76 usw. gespannt.

In der dritten Zeile lesen wir, dass "Feuer" im "Schiff" sein wird und "Pest" und "Gefangenschaft" folgen werden. Mit dem "Schiff" ist wohl das Schiff des Menschenfischers Petrus gemeint, die Kirche. Es scheint in Feuer zu stehen, d. h. in existenzieller Not zu sein. Da das Feuer u. a. dem Planeten Mars zugeordnet wird, könnte dies konkret auch bedeuten, dass die Kirche (der Kirchenstaat) direkt mit kriegerischer Gewalt konfrontiert sein wird. Es folgt dann die "Pest", lies: Unheil (für die Kirche) und "Gefangenschaft". Mit Blick auf 3/76/3 könnte sich diese "Gefangenschaft" auf das Kirchenoberhaupt, den Papst beziehen, der festgesetzt wird. Bemerkenswert ist hier möglicherweise noch, dass Nostradamus für das Unheil im religiösen Bereich den Begriff der "Pest" verwendet. Dies erinnert an 5.70 (4/94/4 und 8/21/2), wo Unglauben und Pestilenz gemeinsam genannt werden.

Zeile vier scheint zunächst eine Aufgabe für einen Astrologen bzw. Astronomen zu sein. Wir erfahren, dass Merkur im Sternzeichen Schütze stehen wird. Der Sensenmann Saturn wird mähen. Doch wo? Auch im Schützen?

Wie in Anmerkung 6 ausgeführt, könnte bei Nostradamus der Merkur auch einen französischen Herrscher meinen, einen Doppelgänger von Ludwig II. von Bourbon (1337-1410). Interessant ist in diesem Zusammenhang 2/12/3, wo wohl von einem französischen Herrscher die Rede ist, der den Wahnsinn der neuheidnischen "Fantasten" bestrafen wird. Gemäß 5.58 wird "Merkur" den ebenfalls neuheidnischen "Jupiter"-Kult militärisch vernichten. Diese "Jupiter"-Religion scheint innerhalb des Judentums zu entstehen und als erstes die Ukraine zu unterwerfen. Doch könnten die deutschen Sekten aufgrund ihrer neopaganen Ausrichtung in enger Beziehung zum "Jupiter"-Kult stehen, so dass die "Bestrafung" durch "Merkur" durchaus passen würde.

Sollte "Merkur" die Neuheiden vielleicht in Italien (Oberitalien und Toskana, vgl. Anmerkung 7) bekämpfen? Und wofür steht hier Saturn? Ist er einfach ein Hinweis darauf, dass Gevatter Tod reiche Ernte einfährt, d. h. dass viele Menschen sterben werden? Oder meint der Ringplanet die Juden? An dieser Stelle sei auf 5/24/4 (5.58) verwiesen, wo wir erfahren, dass die neuheidnische "Jupiter"-Religion unter den Israeliten das Schlimmste wird erdulden müssen, was zum "mähenden Saturn" aus 2/65/4 passen würde.












2/12

[1] Yeux clos, ouuerts d’2) antique fantasie1)
[2] L’habit des seulz3) seront mis à neant4),
[3] Le grand monarque5) chastiera leur frenesie:
[4] Rauir des temples7) le tresor par deuant

[1] [Ihre] geschlossen Augen [werden], was die antike Fantasie1) betrifft2), offen [sein].
[2] [Die mit dem] Ornat der Alleinstehenden3) werden vernichtet4) werden.
[3] Der große Monarch5) wird ihren Wahnsinn bestrafen.
[4] [Doch] zuvor [wird man6)] den Schatz aus den Tempeln7) rauben.

1) Lies: "fantaisie" (so auch in den 1568ern von Dresden, Paris und Gregorio), was sich besser auf das "frenesie" der dritten Zeile reimt. Der Begriff der "Fantasie" taucht in 1/96/2 und 2/12/1 auf. Das griech. "fantasia" bedeutet "Aussehen, Erscheinung; Gedankenbild, Vorstellung; Traumbild; Fantasie; Pomp, prunkhafte Erscheinung". Das lat. "phantasia" steht für "Gedanke, Einfall". Das mittelfranzösische "fantaisie" meint u. a. auch "bizarre Idee, Schrulle, Hirngespinst".
2) Das Mittelfranzösische "de" bedeutet u. a. auch "was ... betrifft". Ansonsten ließe sich die Zeile dahingehend verstehen, dass die "antike Fantasie" ihre Augen öffnen wird. In diesem Fall könnte man bei der "antiken Fantasie" vielleicht tatsächlich an Trancezustände oder antike Wahrsagepraktiken denken, vgl. BRIND’AMOUR, S. 210f., u. CLÉBERT, S. 224.
3) Oder vielleicht als "D’habit les seulz" (die Alleinstehenden mit Ornat) zu lesen. Mit diesen alleinstehenden Ornatsträgern sind wohl Geistliche oder Ordensleute gemeint.
4) Oder auch nur: "besiegt, herabgesetzt".
5) Oder auch nur: "Alleinherrscher". Von einem "großen Monarchen" ist in 1/99/1, 2/12/3, 4/97/2 und 5/38/1 die Rede.
6) Oder: "er".
7) Damit sind hier entweder Kirchen oder die Tempel der "Fantasten" gemeint, vgl. lat. "templum" (u. a. Tempel, Kirche).
Anhänger einer religiösen "antiken Fantasie" wenden sich gegen die Kirche, deren Priester und Ordensleute, und rauben die Kirchenschätze. Der Herrscher Frankreichs wird diese "Fantasten" aber erfolgreich bekämpfen.

In der ersten Hälfte der Strophe ist von Leuten die Rede, die - sinnbildlich - sowohl verschlossene wie auch offene Augen haben werden. Offen werden sie sein für etwas, das Nostradamus abwertend "antike Fantasie" nennt (vgl. Anmerkung 1). Der Begriff "Fantasie" taucht ebenfalls in 1/96/2 auf, dort in Zusammenhang mit veränderten Tempeln (Kirchen) und Sekten. Die "antike Fantasie" gehört also in den religiösen Bereich. Dazu passen auch Zeilen zwei und vier von 2/12.

Über die genaue Natur dieser "antiken Fantasie" erfahren wir hier nichts. Nostradamus war Zeitzeuge der Reformation, die sich zentral auf die antike Schrift (Bibel) bezogen hat ("sola scriptura"-Prinzip). Die unterschiedlichen Auslegungen der einen Schrift durch die verschiedenen Reformatoren könnte man vielleicht als fehlgeleitete "antike Fantasien" bezeichnen. Ich vermute hier allerdings vielmehr ein Aufflackern neuheidnischer Kulte, die sich auf ihre antiken Vorbilder beziehen, aber auch neue Elemente ("Fantasie") beinhalten werden.

In 2/12/2 erfahren wir, dass die unter dem Zölibat Lebenden (Priester und Ordensleute) herabgesetzt oder sogar vernichtet werden (vgl. Anmerkung 4). D. h. speziell die katholische Kirche wird sich im Fadenkreuz der "Fantasten" befinden. Somit ist wohl leicht zu erahnen, wofür die Augen in der ersten Zeile verschlossen sein werden: für die Lehre der Kirche bzw. das Licht des wahren Glaubens. Bleibt nur die Frage, wieso Nostradamus bei diesem Bild die Augen und nicht die Ohren bemüht (vgl. 1/96/4). Vielleicht deshalb, weil der Mensch die Augen sehr einfach selber öffnen und schließen kann. Anders als die Ohren, bei denen das komplizierter ist.

Der vierten Zeile ist zu entnehmen, dass "man" - damit sind wohl wieder die "Fantasten" gemeint - die katholischen Kirchen ihres Kirchenschatzes berauben wird. Man wird sich also auch materiell auf Kosten der Kirche schadlos halten.

Doch in der dritte Zeile erfahren wir, dass das Treiben der "Fantasten" nicht ungestraft bleiben wird. Nostradamus spricht vom "großen Herrscher", der ihren Wahnsinn, die "antike Fantasie", bestrafen wird. Da nicht von einem sondern dem großen Herrscher die Rede ist, ist die Vermutung naheliegend, dass diesem "groß" hier eine tiefergehende Bedeutung zukommt. Wie etwa aus 5.23 (4/8 und 5/45) zu ersehen ist, kann das Attribut "groß" bei Nostradamus gelegentlich auch für "französisch" stehen. Wir könnten somit gut einen französischen Herrscher vor uns haben, der die "Fantasten" bekämpfen wird.


4/36

[1] Les ieux2) nouueaux1) en Gaule redressés,
[2] Apres victoire3) de4) l’Insubre champaigne5):
[3] Monts d’Esperie6), les grands liés7), troussés8),
[4] De peur trembler la Romaigne9) & l’Espaigne.

[1] Die neuen1) Spiele2) [werden] in Gallien wieder eingeführt [werden],
[2] nach [dem] Sieg3) des4) Insubrerlandes5).
[3] [Wegen den] Bergen der Hesperia6) [werden] die Großen gebunden7) [und] belastet8) [sein].
[4] Vor Angst [werden] die Romagna9) und Spanien zittern.

1) Im Mittelfranzösischen kann das Adjektiv "nouveau" auch im adverbialen Sinn verstanden werden. Dann wären die ersten beiden Zeilen etwa folgendermaßen zu begreifen: "Die Spiele [werden] in Gallien neuerdings nach [dem] Sieg des Insubrerlandes wieder eingeführt [werden]."
2) Die 1557er-Ausgabe aus Budapest/Moskau schreibt hier "geux", eine Nebenform von "jeux" ("gueux" hingegen hieße u. a. "Bettler").
3) Die 1568er-Ausgaben von Dresden, Paris und Gregorio schreiben den Plural "victoires" (Siege).
4) Dieses "des, vom" kann so verstanden werden, dass das Insubrerland selber einen Sieg erringt oder dass "im" bzw. "über" das Insubrerland ein Sieg errungen wird, vgl. BRIND’AMOUR, S. 516.
5) Die Insubrer waren ein Keltenstamm in Norditalien mit der Hauptstadt Mailand. Sie (bzw. ihr Gebiet) werden in 2/65/2, 4/19/1, 4/36/2, 4/37/2 und 7/15/1 namentlich genannt. Das Wort "champaigne" kann unterschiedlich verstanden werden. Als Variante des Substantivs "campagne/champagne" bedeutet es "Region, Gegend", so dass wir hier einfach das "Insubrerland" vor uns hätten. Als Eigenname aufgefasst wäre damit wohl das süditalienische Kampanien, die Region um Neapel gemeint, die auch in 3/52/1 genannt wird, vgl. BRIND’AMOUR, S. 516, und CLÉBERT, S. 502. Die nordostfranzösische Champagne hingegen dürfte wohl den geografischen Rahmen von 4/36 (Italien, Spanien) verlassen.
6) Das lat. "Hesperia" bezeichnet das "Abendland", nach antiker Auffassung Italien, Spanien und Westafrika. Nostradamus meint damit Spanien, vgl. 5/40/2 (5.23). Von welchen Bergen hier konkret die Rede ist, ist nicht ersichtlich. Vielleicht die Pyrenäen?
7) Oder u. a. auch "umzingelt; vereint, verbunden".
8) Das mittelfranzösische "trousser" bedeutet u. a. "binden; aufbinden, beladen, aufladen". Nostradamus hat das Verb wohl als verstärkendes Synonym zu "lier" gewählt. Daneben könnte es aber gut auch auf die belastete ("beladene") Situation dieser "Großen" verweisen, weswegen obige Übersetzung gewählt wurde.
9) Die 1557er-Ausgabe aus Budapest/Moskau schreibt: "Romanie". Anders als in 4/82/3, 5/50/2 und 8/60/1, wo tatsächlich von der "Romanie" (wohl Süditalien) die Rede ist, ist hier schon hinsichtlich des Gleichklangs mit "Espaigne" vermutlich die norditalienische Romagna gemeint (vgl. BRIND’AMOUR, S. 516, und CLÉBERT, S. 502). Die Romagna umfasst den südöstlichen Teil der Emilia-Romagna zwischen Apennin und Adria mit Ravenna und Rimini als wichtigsten Städten. Zur Zeit des Nostradamus gehörte die Region zum Kirchenstaat.
Nach dem Sieg der Neuheiden ("Fantasten") bei Mailand werden in Frankreich religiöse Verfolgungen ähnlich den Christenverfolgungen im alten Rom durchgeführt. Die Verurteilten werden dabei - sinnbildlich oder wortwörtlich - den wilden Tieren vorgeworfen. Ob damit die Untaten der Neuheiden oder der spätere Gegenschlag der Christen gemeint sind, ist allerdings unklar. Die kritische Situation in Spanien wird die Aufmerksamkeit der Mächtigen binden. In Italien werden die Neuheiden gegen die Romagna vorrücken.

In Gallien (Frankreich) werden "neue Spiele" wieder eingeführt werden (erste Zeile). Mit diesen "neuen Spielen" könnte das "Theater" aus 1/45/2 gemeint sein, in dem sich ein Tier befindet. Etwas verwirrend ist dabei allerdings der Umstand, dass Nostradamus von "neuen" Spielen spricht, die "wieder" eingeführt werden. Sinngemäß könnte dies so zu verstehen sein, dass in Frankreich eine Neuauflage der antiken Zirkusspiele stattfindet. In diesem Fall wäre "redressés" als "dressés" zu verstehen. Oder die Lösung liegt im "nouueaux", das wie in Anmerkung 1 beschrieben zu übersetzen wäre.

Denkbar wäre aber auch, dass "neue (Zirkus-) Spiele" tatsächlich zweimal eingeführt werden. Das erste Mal (im wortwörtlichen Sinne) von den Neuheiden, die wir etwa aus 3/76 und 2/12 kennen und das zweite Mal (sinnbildlich) von deren christlichen Gegnern, die die Neuheiden nun bekämpfen.

Geschehen wird das Ganze nachdem entweder im Raum Mailand ein Sieg errungen worden ist oder Mailand selber gewonnen hat. Die Erwähnung der Insubrerstadt dürfte die Strophe jedenfalls mit 2/65 verbinden, wo zudem wie auch in 4/36/3 von der Hesperia (Spanien) die Rede ist.

Gemäß 2/65 werden neuheidnische Häretiker im Raum Mailand und Spanien großes Unheil anrichten. Vermutlich werden sie es sein, die bei Mailand siegen (4/36/2). Mit Blick auf 4/36/4 vermute ich weiter, die gesamten drei letzten Zeilen der Strophe gehören zum Vormarsch der Neuheiden:

Die ursprünglich aus Deutschland stammenden Neuheiden (vgl. 3/76) werden sich bei Mailand durchsetzen und dann Richtung Südosten, Richtung Romagna marschieren (vierte Zeile). Gleichzeitig wird Spanien bedroht. Dort ist die Lage so kritisch, dass die Kräfte und Aufmerksamkeit der "Großen" (Machthaber) auf diesem Schauplatz gebunden sind. Vielleicht ist es das, was es den Neuheiden überhaupt erst ermöglicht, sich in Italien erfolgreich durchzusetzen?


1/45

[1] Secteur1) de sectes2) grand preme4) au delateur3):
[2] Beste5) en theatre6), dressé le ieu scenique7):
[3] Du faict antique ennobli9) l’inuenteur8),
[4] Par sectes monde confus & scismatique.

[1] [Der] Schnitter1) der Sekten2) [wird] dem Denunzianten3) [eine] hohe Belohnung4) [auszahlen].
[2] [Das] Tier5) [ist] im Theater6), das Bühnenspiel7) [ist] vorbereitet.
[3] Der Erfinder8) der antiken Tat wird ausgezeichnet9).
[4] Wegen Sekten [ist die] Welt [zu diesem Zeitpunkt] verworren und schismatisch.

1) Lat. "sector" (u. a. Abschneider, Schnitter). BRIND’AMOUR, S. 115, sieht hier das lat. "secutor" (Verfolger) gemeint, was ebenfalls denkbar wäre. "Secutor" war auch die Bezeichnung eines Gladiatortyps. Ebenso interessant ist aber, dass auch der Saturn, das astrologische "große Unglück" als Sichel- oder Sensenträger zu dieser Beschreibung passen würde, vgl. 2/65/4.
2) Das mittelfranzösische "secte" bezeichnet eine Gruppierung im weitesten Sinne, religiöser wie nichtreligiöser Natur. Da es hier aber um den religiösen Bereich geht, wurde bei der Übersetzung auf das dt. Wort "Sekte" im heutigen Sprachgebrauch zurückgegriffen.
3) Vgl. lat. "delator" (Denunziant, Angeber, Ankläger). In der römischen Antike gab es den berufsmäßigen Denunzianten, der mit den Belohnungen für das Zutragen von Informationen seinen Lebensunterhalt bestritt. Das mittelfranzösische "delateur" weist daneben aber auch die nicht wertende Bedeutung von "Berichterstatter, Enthüller" auf.
4) In den beiden 1555er-Ausgaben lesen wir "preme". Die beiden 1557er und alle 1568er schreiben "peine" (Strafe, Leiden). "Preme" geht wohl auf das lat. "praemium" (Belohnung, Gunst) zurück, vgl. BRIND’AMOUR, S. 115, und CLÉBERT, S. 123f.
5) Die 1557er-Ausgabe aus Budapest/Moskau schreibt fälschlicherweise "peste" (Seuche, Unglück).
6) Mit Blick auf das lat. "theatrum" u. a. auch "Amphitheater, Zirkus", was hier wahrscheinlich gemeint ist.
7) BRIND’AMOUR, S. 115, weist auf den Unterschied zwischen den "ludi scaenici" (Theateraufführungen) und den "ludi circenses" (Zirkusspiele) im alten Rom hin. Das "Tier im Theater" gehört klar in den Bereich der Zirkusspiele, das "Bühnenspiel" allerdings zu den Theateraufführungen. Entweder hat Nostradamus nun (bewusst) die beiden Bereiche Zirkus und Theater vermengt (vgl. Anmerkung 6) oder wir haben hier zwei verschiedene Dinge vor uns. Ich vermute, das "Tier im Theater" ist als die Todesstrafe zu verstehen, die diejenigen erwartet, die in einem Gerichtsprozess für schuldig befunden werden. Und dieser Prozess entspricht dabei dem "Bühnenspiel". Bei dieser Gleichsetzung wäre ein solcher Prozess allerdings möglicherweise als Schauprozess zu verstehen, bei dem das Urteil schon von vorneherein feststeht.
8) Oder u. a. auch: "Urheber".
9) Oder auch: "geadelt".
Die neuheidnischen Sekten der "Fantasten" führen in der Welt zu Verwirrung und in der Kirche zu Spaltungen. Mit Denunziantentum bekämpft eine Art Großinquisitor die Sekten und deren Anhänger. Diese könnten dabei in Schauprozessen zur Todesstrafe verurteilt werden.

In der vierten Zeile wird vorhergesagt, dass "Sekten" die Welt in Verwirrung stürzen werden. Da Nostradamus zudem den Begriff "schismatisch" (kirchenspalterisch) verwendet, ist anzunehmen, dass die Sekten auch gerade innerhalb der Kirche ihre schädliche Wirkung entfalten können und es in dieser zu Spaltungen kommen wird.

Von Sekten ist auch in 1/96 die Rede. Und zwar in Zusammenhang mit der "Fantasie", die wir schon in 2/12 angetroffen haben. In 1/96 ist auch von jemandem die Rede, der die Aufgabe haben wird, die Sekten und die von der "Fantasie" veränderten Kirchen zu zerstören. Er dürfte es sein, der mit dem "Schnitter der Sekten" in 1/45/1 gemeint ist.

Nostradamus könnte hier von einem "Schnitter" sprechen, um an den Sensenmann (franz. "la Grande Faucheuse") als Personifizierung des Todes zu erinnern. Den Tod, den dieser Mann über die Sekten und ihre Anhänger bringen wird.

In der ersten Zeile wird beschrieben wie der Sektenschnitter, vermutlich eine Art kirchlicher Großinquisitor (vgl. 1/96/1), vorgehen wird. Er arbeitet mit Denunzianten, denen er für ihr Wirken eine hohe Belohnung zukommen lässt.

Zeile zwei ist ein Rückgriff auf die Antike. Wie in Anmerkungen 6 und 7 ausgeführt, geht es hier meines Erachtens um die Todesstrafe, die auf die überführten Häretiker ("Fantasten") wartet - sie werden den wilden Tieren vorgeworfen werden wie einst die Christen im alten Rom. Ob dies wortwörtlich oder doch vielmehr sinnbildlich zu verstehen ist, ist hier allerdings nicht zu entscheiden. Möglicherweise gehen den Urteilen aber Schauprozesse ("Bühnenspiel") voraus, deren Ausgang von Anfang an festgelegt ist. Zu den "Spielen" vgl. auch 4/36.

In der dritten Zeile ist von einer "antiken Tat" und deren Urheber die Rede. Mit der "antiken Tat" könnte die Sektenverfolgung gemeint sein, die an die Christenverfolgungen der Römer erinnern wird (zweite Zeile). Der Urheber wäre in diesem Fall wohl mit dem Sektenschnitter identisch, der für sein Vorgehen ausgezeichnet wird. Oder die "antike Tat" bezieht sich auf das Wirken der Sekten aus der vierten Zeile. Dann wäre der Urheber oder "Erfinder" der "antiken Fantasie" derjenige, der - zunächst - Anerkennung bei seinen Gefolgsleuten erfährt.



1/96

[1] Celui qu’aura la charge1) de destruire
[2] Temples3), & sectes2), changés par fantasie4),
[3] Plus aux rochiers5) qu’aux viuãs viêdra nuire6)
[4] Par langue7) ornée8) d’oreilles ressaisies9).

[1] Der, der die Aufgabe1) haben wird,
[2] [die] Sekten2) und [die] Tempel3), [die] durch Fantasie4) verändert [wurden, zu zerstören],
[3] wird mehr zu den Felsen5) kommen, [um sie zu] zerstören6) als zu den Lebenden
[4] im Volk7), [das] geschmückt8) [ist] mit wieder in Besitz genommenen9) Ohren.

1) Oder auch: "Last".
2) Das mittelfranzösische "secte" bezeichnet eine Gruppierung im weitesten Sinne, religiöser wie nichtreligiöser Natur. Da es hier aber um den religiösen Bereich geht, wurde bei der Übersetzung auf das dt. Wort "Sekte" im heutigen Sprachgebrauch zurückgegriffen.
3) Damit sind hier Kirchen gemeint, vgl. lat. "templum" (u. a. Tempel, Kirche).
4) Lies: "fantaisie", was sich auch besser auf das "ressaisies" in der letzten Zeile reimt. Der Begriff der "Fantasie" taucht in 1/96/2 und 2/12/1 auf. Das griech. "fantasia" bedeutet "Aussehen, Erscheinung; Gedankenbild, Vorstellung; Traumbild; Fantasie; Pomp, prunkhafte Erscheinung". Das lat. "phantasia" steht für "Gedanke, Einfall". Das mittelfranzösische "fantaisie" meint u. a. auch "bizarre Idee, Schrulle, Hirngespinst".
5) Oder vielleicht auch: "Berg, Hügel" (nach "roche"). Wer oder was mit diesen "Felsen" gemeint ist, ist im Moment leider noch unklar. Falls Nostradamus an das lat. "saxa" (die Felsen) gedacht hat, könnte das franz. "Saxe" (Sachsen) gemeint sein. Nach hochmittelalterlichem Vorbild würde dieses "Sachsen" das heutige Niedersachsen, Bremen, Hamburg sowie Teile Nordrhein-Westfalens, Schleswig- Holsteins und Sachsen-Anhalts umfassen. Das Kurfürstentum Sachsen-Wittenberg aus der Zeit des Nostradamus umfasste hingegen das heutige Sachsen sowie Teile des südlichen Sachsen-Anhalts und Brandenburgs.
6) Oder: "[ihnen zu] schaden". Analog zu 1/87/3 sieht BRIND’AMOUR, S. 183, in "nuire aux rochiers" die Wendung "faire la guerre aux rochers" ("gegen Felsen Krieg führen", d. h. sich in vergeblichen Kämpfen aufreiben) gemeint.
7) "Langue" bedeutet im Mittelfranzösischen nicht nur "Zunge" sondern auch "Volk, Nation". Zur "Zunge" vgl. Anmerkung 9. Die Zeile könnte auch etwa folgendermaßen verstanden werden: "mit [der] Zunge, [die] geschmückt/versehen ist mit wieder in Besitz genommenen Ohren". Damit wäre dann wohl Ogmios (Herkules), ein französischer Machthaber gemeint, vgl. Anmerkung 9.
8) Oder auch: "ausgestattet, versehen".
9) In den beiden Ausgaben von 1555 steht hier "ressaisies" (wieder in Besitz genommene), ebenso in jenen von 1557. Da es sich bei "fantasie" in der zweiten Zeile wohl um einen Druckfehler handeln dürfte (für "fantaisie"), gibt es meines Erachtens keinen trifftigen Grund, hier ein passendes "ressasies" (befriedigt, gesättigt) zu vermuten (vgl. PRÉVOST, S. 78, und CLÉBERT, S. 207f.). Zusammen mit BRIND’AMOUR, S. 182-188, sehen die beiden genannten Autoren hier Ogmios, den keltischen Herkules gemeint. Ogmios war extrem alt, hatte wenig Haare, eine brandschwarze Haut, trug ein Löwenfell und eine Keule in der rechten Hand. Zudem war er mit Pfeil und Bogen ausgestattet. Er zog eine große Masse von Männern nach sich, die an den Ohren aneinandergekettet waren. Diese Kette zog Ogmios mit der Zungenspitze, die er dazu eigens durchstochen hatte. Überdies identifizierten die Kelten Ogmios mit der Beredsamkeit. Ogmios bzw. Herkules wäre wohl ein französischer Machthaber.
Der Großinquisitor, der die Sekten und die durch die "antike Fantasie" veränderten Kirchen zu zerstören hat, wird stärker das Volk der "Felsen" (Sachsen?) heimsuchen als die Franzosen.

Wie in 2/12/1 geht es in 1/96/2 um eine "Fantasie". Und wie in 2/12/1 offenbar um eine "Fantasie", ein Hirngespinst, im religiösen Bereich. Diese "Fantasie" wird die Kirchen verändern - wohl zerstören oder selber nutzen. In 2/12/4 lesen wir dazu, dass man den Kirchenschatz aus den Kirchen rauben wird. Dafür verantwortlich sein dürften die in 1/96/2 erwähnten "Sekten". Gruppierungen, die - so lässt sich die Zeile gleichfalls verstehen - ebenfalls von der genannten "Fantasie" verändert bzw. geleitet sein werden.

In der ersten Zeile taucht ein Akteur auf, der die Aufgabe haben wird, die erwähnten "Sekten" und veränderten Kirchen zu zerstören. Das erinnert uns an den großen (wohl französischen) Herrscher aus 2/12/3, der den Wahnsinn der "Fantasten" bestrafen wird. Er könnte hier gemeint sein. Allerdings stellt sich die Frage, wer - außer Gott - einem solchen Herrscher eine Aufgabe ("charge") zuteilen könnte. Es ist deshalb wahrscheinlicher, dass hier ein anderer Akteur gemeint ist, nämlich der Großinquisitor bzw. "Sektenschnitter" aus 1/45/1.

Die zweite Hälfte der Strophe kann wieder einmal auf mehrfache Weise verstanden werden. Es geht im Kern aber darum, wo der sektenbekämpfende Großinquisitor aktiv werden muss und wo weniger. Nostradamus scheint dabei von zwei Völkern zu sprechen. Zum Ersten von den "Felsen", denen der Großinquisitor schaden oder sogar die Zerstörung bringen wird. Zum Zweiten von einem Volk der "Lebenden", das mit "wieder in Besitz genommenen Ohren" geschmückt ist und wo es für den Großinquisitor nicht viel zu tun gibt.

Das zweite Volk dürfte ein Volk sein, dass vom katholischen Glauben abgefallen war, aber nun wieder in den Schoß der Kirche zurückgekehrt ist. Die "Lebenden" sind diejenigen, die wieder am "Leben" - wohl dem wahren Glauben - teilhaben, vgl. Johannes 17,3: "Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast". Ihre Ohren konnte die Kirche "wieder in Besitz nehmen", d. h. sie hören wieder auf sie und ihre Lehre. Nostradamus’ vielsagende Umschreibung, die an den keltischen Ogmios (Herkules) erinnert, vgl. Anmerkung 9, könnte gut ein Hinweis auf die Gallier und somit die Franzosen sein. Sie dürften von ihrem "großen Herrscher" aus 2/12/3 wieder auf den rechten Weg gebracht werden. Da aber die antike Fantasie, die Lehre der Sekten bereits von diesem großen Herrscher erfolgreich bekämpft wurde, bleibt für den Großinquisitor bei den Franzosen nicht mehr viel zu tun.

Wie zu 2/65 ausgeführt, könnte dieser französische "große Herrscher" mit "Merkur" identisch sein, der auch an anderen Stellen in den Zenturien auftaucht (namentlich in 2/65/4, 3/3/1, 4/28/3, 4/29/1, 4/97/1, 5/93/2, 9/12/1, 9/55/4, 9/73/2, 10/67/2 und 10/79/3). An dieser Stelle sei aber auch darauf hingewiesen, dass gleichfalls ein "Herkules" ("Ogmios") in Zusammenhang mit Frankreich erscheint (vgl. 5.23, 5.37, 5.106, 5.151, 5.187 und 5.216).

Anders sieht die Sache beim erstgenannten Volk aus. Nostradamus bezeichnet es als "die Felsen". Dort wird der Sektenbekämpfer so viel zu tun haben, dass Nostradamus sogar von der "Zerstörung" der "Felsen" berichtet. Welches unglückliche Volk hier gemeint ist, lässt sich im Moment allerdings noch nicht sagen. Vielleicht die "Sachsen" (vgl. Anmerkung 6)? Oder einfach ein Volk, dessen Angehörige ihre Herzen zu Felsen versteinert haben und so in ihrem Irrtum verharren?


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(Letzte Änderung dieser Seite: 04.05.2016)