5.103  Ein französischer König marschiert in Rom ein und führt ein Heer von Exilierten und Verbannten mit sich. Ein populärer Oberhirte der Kirche wird die Gefolgsleute des Königs exkommunizieren. Die Exilierten retten auf Sizilien das "fremde Volk" (die Araber) vor dem Hunger.

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1/25 - 6/28 - 2/71

1/25  

Perdu, trouué, caché de si long siecle1)
Sera pasteur2) demi dieu3) honore,4)
Ains que la lune acheue son grand cycle5)
Par autres veux6) sera deshonoré7).

Verloren, gefunden [und] seit einer so langen Zeit versteckt1)
[war der] Hirte2), [der wie ein] Halbgott3) verehrt werden wird.4)
Bevor der Mond seinen großen Zyklus5) vollendet,
wird [er] von anderen Gelübden6) entehrt7) werden.
1) Das mittelfranzösische "siecle" bedeutet neben "Jahrhundert" u. a. auch "lange Zeitspanne, Epoche".
2) Lat. "pastor" (Hirte, Pfarrer, Bischof). Mit Blick auf das griech. "poimen" vielleicht auch "Hüter, Gebieter".
3) BRIND’AMOUR, S. 84, und ihm folgend GRUBER, S. 236, sehen hier Jesus gemeint. Doch Jesus war kein Halbgott wie etwa Herkules sondern die inkarnierte zweite Person der göttlichen Trinität, vereint (aber nicht vermischt!) mit einem Menschen, was der Katholik Nostradamus hätte wissen müssen. Und da Jesus ganzer Gott ist, wird er bei seiner Rückkehr auch als solcher angebetet und nicht bloß wie ein heidnischer Halbgott verehrt werden.
4) Unklar, was in den ersten beiden Zeilen gemeint ist. Vielleicht teilt uns Nostradamus den Namen oder eine Eigenschaft des "Hirten" mit. Er wird als jemand beschrieben, der "verloren"(verlieren: griech. apollynai) und lange Zeit "versteckt" (lat. latens) war, aber nun wieder auftaucht ("gefunden wird"). Das könnte man als Hinweis auf Apollo verstehen, der u. a. auch den Beinamen Latonus oder Latoius trug. Sollte hier ein Papstname gemeint sein, kämen z. B. Apollinaris oder Apollonius (zwei frühchristliche Märtyrer) in Frage, vielleicht auch Apollos (ein Begleiter des Paulus, vgl. Apostelgeschichte 18, 24 - 28). Da bisher noch kein Papst einen derartigen Namen getragen hat, wäre es seit der Antike (also seit "langer Zeit") das erste Mal, dass ein "Apollo" wieder eine derartig hervorragende Position einnehmen würde. Wie wir aus der zweiten Zeile entnehmen, scheint dieser Pontifex sehr beliebt zu sein. Dass Nostradamus in der gleichen Zeile die Verehrung für diesen Papst mit der Verehrung eines Halbgottes gleichsetzt, könnte man als Indiz für die Apollinaris/Apollonius-Hypothese interpretieren. Interessant ist möglicherweise noch eine Episode aus der Mythologie, die die von Nostradamus gewählte Bezeichnung "Hirte" erklären helfen könnte: Merkur stahl seinem Bruder Apollo eine Rinderherde und verwischte die Spuren der Tiere dadurch, dass er ihre Hufe umdrehte. Apollo durchschaute zwar diese List, überließ dem diebischen Merkur jedoch die Herde im Tausch gegen eine Lyra (Saiteninstrument), da sie ihm wertvoller erschien. Wir hätten mit "Apollo" also möglicherweise einen Hirten bzw. Eigentümer vor uns, der durchaus dazu bereit ist, seine Herde unter bestimmten Umständen abzutreten.
          Eine andere, sehr interessante Erklärung finden wir bei PRÉVOST, S. 223f. Der Autor vermutet in dem wiedergefundenen Verlorenen, das so lange Zeit versteckt war, das Grab des Apostels Jakobus d. Ä. in Santiago de Compostela. Jakobus starb 43 in Jerusalem den Märtyrertod. Der Legende nach sollen dann Gefolgsleute des Apostels dessen Leichnam in ein unbemanntes Schiff oder Boot gelegt haben, das selbstständig bis ins spanische Galicien gefahren sei. Dort hätten Helfer den Leichnam des Jakobus im Landesinnern bestattet. Allerdings sei der Ort des Grabes anschließend in Vergessenheit geraten, bis er zu Beginn des neunten Jahrhunderts einem Eremiten auf wundersame Art und Weise offenbart wurde. Über dem Grab wurde eine Kirche errichtet, um die sich der Ort Santiago de Compostela entwickelte, einer der zentralen Wallfahrtsorte der Christenheit des Mittelalters. Nostradamus könnte tatsächlich an Jakobus d. Ä. gedacht haben: Jesus nennt in Markus 3,17 die Brüder Jakobus und Johannes die "Donnersöhne" ("Boanerges"). Unser Seher könnte diese Stelle nun mit der Mythologie der Römer bzw. Griechen verbunden haben, wo der Donner Jupiter (Zeus) zugeordnet wurde. Und ein mit einer Menschenfrau gezeugter Sohn Jupiters wäre tatsächlich ein Halbgott. In 5.13 tauchen zudem zwei Jupiter- oder Donnersöhne auf: Kastor und Pollux, die beide die Kirche zu leiten scheinen. Der in 1/25 erwähnte Hirte könnte dabei Pollux sein, der anders als sein Bruder Kastor tatsächlich ein (unsterblicher) Halbgott war.
5) Der kleine Mondzyklus ist die Zeit, die der Erdtrabant benötigt um die Erde zu umrunden und dauert einen Mondmonat (27 Tage). Mit dem großen Mondzyklus könnte der Metonische Zyklus gemeint sein, der seit dem fünften vorchristlichen Jahrhundert bekannt ist und heute u. a. zur Berechnung des Ostertermins verwendet wird. Dieser Zyklus ist die Zeit, die vergeht, bis eine bestimmte Mondphase wieder auf den gleichen Tag im Jahr fällt. Sie beträgt 6940 Tage (19 Jahre). BRIND’AMOUR, S. 84, und mit ihm GRUBER, S. 236, sowie CLÉBERT, S. 92, sehen hier die Herrschaft des Mondes gemeint, die gemäß dem französischen Astrologen Roussat (vgl. 5.48: 1/48, Anmerkung 1) von 1533 bis 1887 dauerte. Doch dann wäre "cycle" eher als falsch geschriebenes "siecle" (lange Zeitspanne, Epoche) zu verstehen.
6) Oder: "Weihegaben".
7) Auch: "beleidigt" usw.


Ein populärer Oberhirte der Kirche, der aus einem Orden stammen dürfte, wird von anderen Ordensgemeinschaften entehrt werden.

In 1/25/1 ist von einem "Hirten" die Rede, der einst "verloren" und während langer Zeit "versteckt" war, aber inzwischen wieder "gefunden" worden ist. Die Bezeichnung "Hirte" ("pasteur") dürfte uns dabei auf den religiösen Bereich verweisen, vgl. Anmerkung 2. In der zweiten Zeile erfahren wir, dass dieser "Hirte" wie ein Halbgott verehrt werden wird. Das ist wohl so zu verstehen, dass er sich einer großen Popularität wird erfreuen können. Allerdings dürfte Nostradamus tiefere Gründe dafür gehabt haben, einen Kirchenmann mit der Verehrung eines heidnischen Halbgottes in Verbindung zu bringen. Und wie passen die kryptischen Angaben der ersten Zeile dazu? Ich vermute, unser Seher spielt hier auf eine Eigenschaft oder den Namen dieses "Hirten" an. Wie in Anmerkung 4 ausgeführt, hat meines Erachtens PRÉVOST die richtige Eingebung gehabt, indem er hier den Apostel Jakobus d. Ä. bzw. dessen Grab in Santiago de Compostela vermutet. Jakobus war einer der von Jesus so bezeichneten "Donnersöhne" und würde somit als Sohn des Donnergottes Jupiter zum "Halbgott" aus 1/25/2 passen. Der "Hirte" könnte also den Namen Jakobus tragen und/oder dem neuen "Pollux" aus 5.13 entsprechen.

Im zweiten Teil des Vierzeilers erfahren wir, dass der "Hirte" von anderen Gelübden entehrt werden wird. Und zwar noch bevor 19 Jahre vergangen sein werden (zu den 19 Jahren vgl. Anmerkung 5). Das dürfte bedeuten, dass der "Hirte" sein Kirchenamt mindestens 19 Jahre ausüben wird. Mit Blick auf 6/28 und 5.13 dürfte es sich dabei um einen Papst oder zumindest um einen mächtigen Kardinal oder Bischof handeln. Und dieser Kirchenfürst wird entehrt oder beleidigt werden (vgl. Anmerkung 7). Woraus diese Entehrung oder Beleidigung bestehen wird, erfahren wir nicht. Nostradamus sagt nur, dass "andere Gelübde" dahinter stecken werden. Mit diesen "Gelübden" könnten Ordensgemeinschaften gemeint sein, denen man durch die Profess (Ordensgelübde) angehört. Und da unser Seher von anderen Gelübden spricht, würde dies wohl heißen, dass der "Hirte" selber einem Orden angehören wird.






6/28  

Le grand Celtique entrera dedans Rome,
Menant amas1) d’exilés & bannis:
Le grand pasteur mettra à mort2) tout homme,
Qui pour3) le coq4) estoient aux Alpes vnis.

Der große Keltische wird in Rom einziehen
[und mit sich ein] Heer1) von Exilierten und Verbannten führen.
Der große Hirte wird alle dem Tod2) überantworten,
die wegen3) dem Hahn4) bei den Alpen versammelt waren.
1) Das kann im wortwörtlichen wie auch im übertragenen Sinne gemeint sein.
2) "Mettre à mort" kann für gewöhnlich einfach mit "töten" übersetzt werden. Neben dem physischen Tod könnte hier aber auch der "geistliche Tod", die "mort spirituelle" gemeint sein: die Exkommunikation.
3) Es ist hier sprachlich leider nicht ganz klar, ob diese Menschen bei den Alpen waren, um für den Hahn Partei zu ergreifen oder um gegen ihn zu kämpfen.
4) Der Hahn ist ein Symbol für Frankreich oder einen Franzosen (das lat. "gallus" bedeutet sowohl Gallier wie auch Hahn).

Ein französischer König wird mit einer Armee von Exilierten und Verbannten in Rom einziehen. Der populäre Oberhirte der Kirche wird dessen Gefolgsleute exkommunizieren.

In den ersten beiden Zeilen erfahren wir, dass ein "großer Keltischer", der ein Heer von Exilierten und Verbannten mit sich führt, in Rom einziehen wird. Der "große Keltische" dürfte wohl mit dem französischen König aus 5.80 identisch sein, der Frankreich gegen die Opposition von Papst und Klerus gewaltsam eint. Doch was hat es mit den Exilierten und Verbannten auf sich? Wer hat diese in die Verbannung geschickt? Der "Hirte" aus der dritten Zeile? Die weltliche Macht in Rom bzw. Italien? Exilierte tauchen auch in 9/13 (5.7) und 1/13 (5.112) auf, allerdings ist noch nicht zu entscheiden, ob es sich um dieselben wie in 6/28 handelt.

Im zweiten Teil der Strophe taucht wieder der "Hirte" auf, den wir bereits aus 1/25 kennen. Dieser Kirchenmann wird alle dem Tod oder wohl eher der Exkommunikation überantworten (vgl. Anmerkung 2), die wegen dem "Hahn" bei den Alpen versammelt sein werden. Mit dem "Hahn" ist entweder Frankreich oder ein Franzose gemeint (vgl. Anmerkung 4), hier mutmaßlich der "große Keltische" aus der ersten Zeile. Es ist zu vermuten, dass der Franzose und der "Hirte" sich als Feinde gegenüber stehen werden. In diesem Fall dürften die Exilierten und Verbannten wohl Anhänger des "großen Keltischen" oder mindestens Gegner des "Hirten" sein, die sich bei den Alpen versammeln werden, um sich dem Romzug des Franzosen anzuschließen.




2/71  

Les exilés en Secile viendront
Pour deliurer de faim la gent estrange1):
Au point du iour2) les Celtes luy faudront:
La vie demeure a raison: roy se range.3)

Die Exilierten werden nach Sizilien kommen,
um das fremde Volk1) vom Hunger zu befreien.
Bei Tagesanbruch2) werden ihm die Kelten fehlen.
Das Leben bleibt erhalten, [der] König macht ein Zugeständnis.3)
1) Mit dem "fremden Volk" dürften Araber gemeint sein. Vgl. 5/74/3 (5.39), wo das "fremde arabische Volk" ("gent estrange Arabique") erwähnt wird. Sizilien wurde vom 9. bis 11. Jahrhundert von den Arabern beherrscht.
2) Oder vielleicht auch: "Mittag".
3) Mit der vorliegenden Interpunktion bedeutet die Zeile etwa: "Das Leben bleibt wegen der Vernunft [erhalten]. [Der] König schließt sich [ihr] an." BRIND’AMOUR, S. 295, und CLÉBERT, S. 305, schlagen hier "La vie demeure: a raison roy se range" vor, was mir stimmiger zu sein scheint.

Exilierte werden nach Sizilien kommen, um dort die Araber vom Hunger zu befreien. Durch ein Zugeständnis des Königs bleibt das "Leben" erhalten.

Wie in 6/28 tauchen auch in 2/71/1 wieder Exilierte auf, und wieder in einem italienischen Zusammenhang. Hier kommen sie nach Sizilien, um Araber (das "fremde Volk") vom Hunger zu befreien. Das ist wohl so zu verstehen, dass die Araber auf der Insel belagert und ausgehungert werden, sich also im Krieg befinden. Ob es sich dabei um den gleichen Krieg handelt, bei dem sie über den Balkan nach Italien und Frankreich vorstoßen werden (vgl. 5.49), ist hier nicht zu entscheiden. Dazu passen würde allerdings 1/83 (5.49), wo die "Griechen" in Italien von den Arabern vernichtet werden. (West-) Griechen, zu deren Siedlungsgebieten auch Sizilien gehörte. Die Araber könnten also so wieder nach Sizilien gelangen, wo sie bereits im Mittelalter einmal geherrscht haben. Gegen wen die Orientalen hier im Krieg stehen, ist nicht ersichtlich.

Die zweite Hälfte der Strophe ist noch unklar. Jemandem werden gemäß dritter Zeile die Franzosen ("Kelten") am Morgen (im Osten?) oder am Mittag (im Süden?) fehlen. Doch wem? Den Arabern auf Sizilien? Das hieße, dass die Franzosen Verbündete der Araber sind, was aber dazu passen würde, dass sie gemäß 6/28 zusammen mit den Exilierten nach Rom marschieren.

In der vierten Zeile erfahren wir, dass "das Leben" erhalten bleiben und ein König ein Zugeständnis machen wird. Der König könnte der französische König sein, der laut 6/28 in Rom einzieht, aber dem "Hirten" (wohl dem Papst) gegenüber nun kompromissbereit ist. Der Oberhirte könnte daraufhin die Exkommunikation (den "geistlichen Tod") der Exilierten aufheben, d. h. deren (geistliches) Leben "erhalten" oder wiederherstellen (vgl. 6/28, Anmerkung 2). Oder das "Leben" bezieht sich auf die Araber in Sizilien, deren Belagerung durch ein Zugeständnis des (französischen) Königs beendet werden kann.



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