5.155  Ein "guter Alter" wird "lebendig begraben" werden.
 

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Zusammenfassung
 

3/72: In der ersten und dritten Zeile ist von zwei "Alten" die Rede. Damit sind vermutlich zwei Machthaber oder Würdenträger gemeint (vgl. Anmerkung 1). Den ersten "Alten", den Nostradamus als "gut" charakterisiert, wird man "lebendig begraben" (erste Zeile). Und zwar in der Nähe des "großen Flusses", vielleicht der Seine (vgl. Anmerkung 3). Der Grund für dieses voreilige "Begräbnis" ist eine falsche Vermutung (zweite Zeile). Der Arzt Nostradamus hat bei der Formulierung dieses Vierzeilers auf sein Berufsleben zurückgegriffen. Er vergleicht die falsche Vermutung, die das Schicksal des "guten Alten" bestimmt mit wohl einem der schwerwiegendsten Kunstfehler, die einem Mediziner unterlaufen können: jemanden fälschlicherweise für tot zu erklären und somit dafür verantwortlich zu sein, dass der Patient lebendig begraben wird. Doch was geschieht hier mit dem "guten Alten" konkret? Wird er tatsächlich als Scheintoter bestattet? Betrachten wir dazu den zweiten Teil des Vierzeilers. In der dritten Zeile ist von einem "neuen Alten" die Rede. Das könnte der Nachfolger oder Stellvertreter des außer Gefecht gesetzten "guten Alten" sein. Es scheint sich dabei um jemanden zu handeln, der über große finanzielle Mittel verfügt. In der vierten Zeile lesen wir, dass sich der "neue Alte" mit Lösegeld auf den Weg machen wird. Ob dieses Lösegeld aus seinem privaten Vermögen stammt, ist hier allerdings nicht ersichtlich. Doch seine Mission, offensichtlich jemanden freizukaufen, scheitert. Er und das Lösegeld, das aus Gold besteht, fallen in die Hände nicht näher beschriebener Dritter. Die eigentliche Frage ist hier aber, wen er hätte freikaufen sollen. Ich vermute, es handelt sich dabei um den "guten Alten" aus der ersten Zeile. Um seinen Vorgänger, der auf Grund einer falschen Beurteilung oder eines ungerechten Urteils ("falsche Vermutung") eingesperrt ("lebendig begraben") worden ist (vgl. dazu Anmerkung 2).

3/36: In den ersten beiden Zeilen führt Nostradamus die medizinische Analogie aus 3/72 fort. Der irrtümlicherweise lebendig begrabene "gute Alte" war nicht "tot" (schuldig) sondern nur Opfer eines "Schlaganfalls" bzw. "betäubt" (also unschuldig), vgl. Anmerkung 1. Die zweite Zeile berichtet, dass man ihn mit "aufgegessenen Händen" finden wird. Das könnte so zu verstehen sein, dass man den Fall des eingesperrten "guten Alten" noch einmal aufrollt ("das Grab öffnet") und objektiv feststellt, dass man ihn zu Unrecht eingekerkert hat (die aufgegessenen Hände eines Scheintoten, die er sich im Wahn abgenagt hat, beweisen, dass er im Grab noch gelebt hat). Eine andere Möglichkeit wäre, dass der "gute Alte" selber seine Lähmung überwindet (etwa aus dem Gefängnis entkommen kann) und dabei angetroffen wird, wie er wieder aktiv wird und kämpft (vgl. Anmerkung 2). Der zweite Teil des Vierzeilers handelt von einer Stadt und einem Ketzer. Der Ketzer hat nach Auffassung der Bewohner der Stadt deren Gesetze verändert und wird wohl deswegen von dieser verdammt werden. Um welche Stadt es sich dabei handelt und was dieser Ketzer genau getan hat, lässt sich im Augenblick nicht sagen. Auch nicht, ob er etwas mit der Inhaftierung des "guten Alten" zu tun hat (siehe aber weiter unten).

Da Nostradamus bekanntlich Arzt war, erstaunt es nicht, dass in seinen Prophezeiungen auch gelegentlich Motive aus dem Bereich der Medizin auftauchen. Es stellt sich aber die Frage, ob hier nicht mehr dahinter stecken könnte. Eine mögliche Parallele finden wir im Italien des 15. Jahrhunderts, genauer gesagt in Florenz. Cosimo de Medici (1389 - 1464), genannt Cosimo il Vecchio ("Cosimo der Alte"), beherrschte Florenz in den Jahren 1434 bis 1464 und begründete die Macht der Familie der Medici (der Name bedeutet, lateinisch verstanden, "Ärzte" oder "des Arztes"). 1433, als noch die konkurrierende Familie der Albizzi Florenz beherrschte, wurde Cosimo inhaftiert und zur Verbannung nach Urbino verurteilt, nachdem ein Mordanschlag auf ihn gescheitert war. Cosimo entzog sich allerdings der Vebannung und flüchtete nach Venedig. Der in 3/36 erwähnte "Ketzer" könnte scherzhaft auf die Familie der Albizzi verweisen, aus deren Namen die südwestfranzösische Stadt Albi herausgelesen werden kann. Albi war eine Hochburg der Katharer (auch "Albigenser", franz. "albigeois", genannt), die im 13. und 14. Jahrhundert als Häretiker (Ketzer) blutig verfolgt und ausgelöscht wurden. Somit könnte der "Ketzer" aus 3/36 ein Gegner des "guten Alten" sein. Dass Nostradamus bei diesen beiden Vierzeilern möglicherweise an das Italien des 15. Jahrhunderts und Cosimo de Medici gedacht hat, muss aber nicht bedeuten, dass die in den Versen beschriebenen Geschehnisse sich ebenfalls auf der Apenninenhalbinsel zutragen werden (wie wir etwa in 5.151 gesehen haben, vermischt Nostradamus in seinen Vierzeilern gerne verschiedene Themen und Ereignisse). Mit Blick auf 3/72 (Anmerkung 3) könnten wir hier genauso gut Vorgänge in Frankreich vor uns haben.

Quellen
 

3/72
 
Lebon viellard1) tout vif enseueli2),
Der gute Alte1) [wird] vollkommen lebendig begraben2) [werden],
Pres du grand fleuue3) par fauce souspeçon:
[und zwar] nahe des großen Flusses3) wegen [der] falscher Vermutung.
Le nouueau vieux de richesse ennobli4)
Der neue Alte, durch Reichtum bekannt geworden4),
Prins au chemin tout l’or de la rançon.
[wird] auf dem Weg gefangen [werden mit] dem ganzen Gold des Lösegeldes.
1) Nostradamus hat hier vielleicht an das griech. "presbys" gedacht, das neben "alt" auch "ehrwürdig, mächtig; schlimm" bedeuten kann.
2) Möglicherweise im Sinne des lat. "condere", das neben "begraben" u.a. auch "einsperren, verstecken" bedeutet.
3) Unklar, welchen Fluss Nostradamus hier meint. Das Attribut "groß" wird bei Nostradamus jedoch auch in Verbindung mit Paris verwendet ("große Stadt"), so dass vielleicht der Fluss gemeint sein könnte, der durch diese Stadt fließt - die Seine.
4) Lies: "anobli". Das mittelfranzösische "anoblir" bedeutet "bekannt werden, edler werden".
 

3/36
 
Enseueli non mort apopletique1)
[Der] Begrabene [wird] nicht tot [sondern nur] vom Schlaganfall getroffen1) [sein].
Sera trouue auoir les mains mangées:2)
[Er] wird [mit] aufgegessenen Händen2) gefunden werden.
Quand la cité damnera l heretique,
[Dann,] wenn die Stadt den Ketzer verdammen wird,
Qu’auoit leurs loys si leur sembloit chãgées.
der ihre Gesetze, so erschien [es] ihnen, verändert hatte.
1) Das griech. "apoplektos" bedeutet "vom Schlag getroffen; betäubt, nicht bei Sinnen, starr".
2) Diese "aufgegessenen Hände" können auch ganz anders übertragen werden: Das mittelfranzösische "manger" bedeutet nicht nur "essen" sondern u.a. auch "einen Kampf beginnen". Und die "Hände" lassen sich, betrachtet man das lat. "manus", ebenfalls als "Kämpfe, Handgemenge" begreifen. So ließe sich die Zeile im übertragenen Sinne etwa folgendermaßen verstehen:

    "[Er] wird angetroffen werden, [wie er] die Kämpfe begonnen [haben wird]".

In diesem Fall wäre der "Scheintote" aus der ersten Zeile wohl ein Machthaber oder Feldherr, den man irrtümlicherweise bereits abgeschrieben hat, der sich aber als äußerst "lebendig" erweist und kämpft.


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