5.189  Ein Herzog erwacht aus seiner falschen Ruhe und erblickt plötzlich die arabische Flotte. Kräfte aus Tripolis, Chios und Trapezunt nehmen ihn gefangen und verwüsten die türkische Schwarzmeerküste.
 

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Zusammenfassung
 

6/55 gehört wahrscheinlich zum iranisch-arabischen Angriff auf Europa, den wir schon früher angetroffen haben (vgl. 5.101, 5.102, 5.157 und 5.179). In den ersten beiden Zeilen ist von einem Herzog oder vielleicht auch Heerführer (vgl. Anmerkung 2) die Rede, den man in falsche Sicherheit zu wiegen versucht. Man versucht sogar, ihn regelrecht zu "betäuben" (vgl. Anmerkung 3). Doch der Herzog merkt gerade noch, was man mit ihm vorhat und entzieht sich dem "Betäubungsversuch". Da erblickt er, was auf ihn zukommt: ein arabisches "Schiff" - wahrscheinlich eine arabische Flotte. Und der Herzog geht in Gefangenschaft (vierte Zeile). Ergreifen werden ihn laut dritter Zeile Leute aus Tripolis, Chios und Trapezunt (vgl. Anmerkungen 5 bis 7), zur Zeit des Nostradamus alles Städte im Machtbereich des Osmanischen Reiches. Ob diese Angreifer aus den genannten Städten von der erwähnten arabischen Flotte transportiert werden, ist noch unklar aber möglich (vgl. Anmerkung 8). Gemäß vierter Zeile werden sie aber das Schwarze Meer bzw. die türkische Schwarzmeerküste verwüsten (vgl. Anmerkung 9). Interessant ist dabei, dass in diesem Zusammenhang von "denen aus Trapezunt" die Rede ist. Das könnten die iranischen Streitkräft sein, die in 5/27 (5.101) diese Stadt besetzen und hier der Küste entlang nach Westen ziehen. In der vierten Zeile von 6/55 erwähnt Nostradamus eine Stadt, die von der Allianz aus der dritten Zeile verwüstet werden wird. Welche Stadt unser Seher damit gemeint hat, ist nicht ersichtlich. Vielleicht Istanbul? Das würde jedenfalls zu 5/86 (5.101) passen, wo der persische Anführer die Stadt am Bosporus "stark quälen" wird.

Noch unklar ist, wer hinter diesem Herzog stecken könnte. Da in 6/55 offensichtlich von Vorgängen in und um Kleinasien die Rede ist, wäre es naheliegend, in diesem Raum nach einem historischen Vorbild zu suchen. Herzogtümer gab es hier in der Epoche der Kreuzzüge. Namentlich das Herzogtum Athen und das Herzogtum Archipelagos (bzw. Naxos). Letzteres war eine venezianische Gründung, umfasste eine Reihe von Inseln in der Ägäis und extistierte von 1207 bis 1579. Das Herzogtum Athen im zentralen Griechenland bestand von 1205 bis 1460. Gegründet wurde es von Otto de la Roche, einem burgundischen Ritter, dessen Familie bis 1308 die Herzöge stellte. 1311 bis 1388 beherrschten Spanier (Aragon) das Herzogtum, was deswegen interessant ist, da Nostradamus in der vierten Zeile das Schwarze Meer mit dessen aragonesisch-spanisch-portugiesischem Namen bezeichnet. Konkrete Einzelkandidaten finden wir in Ludwig von Blois, Herzog von Nikäa (ca. 110 km südöstlich von Istanbul) und Bohemund, Herzog von Tarent. Ludwig, von 1191 bis 1205 Graf von Blois, beteiligte sich am vierten Kreuzzug. Er fiel 1205 in der Schlacht von Adrianopel (Edirne) gegen die Bulgaren. Interessanter ist allerdings der Normanne Bohemund, 1085 - 1111 Herzog von Tarent. 1096 schloss er sich dem ersten Kreuzzug an und traf im darauf folgenden Jahre in Konstantinopel ein. Bohemund zog dann mit den Kreuzfahrern durch Anatolien, das vorher zum großen Teil von den turkstämmigen Seldschuken erobert worden war. 1097 wurde Nikäa erfolgreich belagert. Im gleichen Jahr schlugen die Kreuzfahrer die Seldschuken bei Doryläum nahe des heutigen Eskisehir (nordwestliches Anatolien). 1098 nahmen die Kreuzritter Antiochia nach längerer Belagerung ein. 1099 wurde Bohemund offiziell Fürst von Antiochia, wo er blieb, während die anderen Kreuzfahrer weiterzogen und im Sommer des gleichen Jahres Jerusalem eroberten. Nach dem Tod Gottfried von Bouillons, des Königs von Jerusalem, wurde dessen Krone im Jahr 1100 Bohemund angetragen. Bohemund konnte die Herrschaft über das Königreich Jerusalem allerdings nicht übernehmen, da er in die Gefangenschaft des Emirs von Sivas (östliches Zentralanatolien) geriet. Eine Gefangenschaft, aus der er erst 1103 wieder freigekauft werden konnte. Nach der Niederlage der Kreuzfahrer gegen die Seldschuken 1104 bei Harran (bei Sanliurfa, nahe der heutigen türkisch-syrischen Grenze) kehrte Bohemund nach Italien zurück, um neue Streitkräfte aufzustellen. Mit seiner neuen Armee verteidigte er allerdings nicht Antiochia, das inzwischen von den Byzantinern angegriffen worden war, sondern griff das westgriechische Epirus und die Hafenstadt Durres (Albanien) an. Eine byzantinisch-venezianische Allianz besiegte aber Bohemund, der im Friedensvertrag von 1108 als Fürst von Antiochia Vasall des byzantinischen Kaisers wurde.

Wie Bohemund geht auch der Herzog bei Nostradamus in Gefangenschaft. Parallelen finden wir zudem in 5.102. Dort erfahren wir, dass eine französische Flotte lange in einem ionischen Hafen vor Anker liegen wird (3/64). Bohemunds Tarent läge am Ionischen Meer. Wartet die französische Flotte vielleicht deswegen so lange in Süditalien, weil ihr Kommandant, der Herzog aus 6/55, ruhig gestellt ("beruhigt") werden wird und man ihn sogar "einzuschläfern" versucht? Gemäß 1/74 (5.102) fahren die Franzosen dann zunächst nach Epirus, bevor sie nach Antiochia vorstoßen. Für Bohemund waren Epirus und Antiochia letztlich Orte der Niederlage. Ob dies für die Franzosen aus 5.102 ebenfalls zutrifft, ist allerdings noch unklar.

Quellen
 

6/55  

Au chalmé1) Duc2), en arrachant l’esponce3),
Vom beruhigten1) Herzog2), der den Schwamm wegreißt3),
Voile4) Arabesque voir, subit descouuerte:
[wird das] zu sehende arabische Segel4) plötzlich entdeckt [werden].
Tripolis5) Chio6), & ceux de Trapesonce7),8)
[Von denen aus] Tripolis5) [und] Chios6) und denen aus Trapezunt7) 8)
Duc prins, Marnegro9) & la cité deserte.
[wird der] Herzog gefangen [und das] Schwarze Meer9) und die Stadt verwüstet [werden].
1) Lies: "calmé" (beruhigt).
2) Oder: "Feldherr", nach lat. "dux".
3) "Esponce" ist im Mittelfranzösischen eine Nebenform von "esponge" (Schwamm). Mit diesem Schwamm ist hier möglicherweise eine spongia somnifera (Schlafschwamm) gemeint. In der mittelalterlichen Medizin wurde die spongia somnifera (auch: spongium somniferum) als Narkosemittel etwa bei Operationen eingesetzt. Man nahm dabei einen mit Pflanzenextrakten behandelten Schwamm, befeuchtete ihn und legte ihn dann dem Patienten auf Nase und Mund. Auch wenn dieses Narkosemittel eher ins Mittelalter als ins 16. Jahrhundert gehört, dürfte es der Arzt Nostradamus wohl mindestens noch aus der Literatur gekannt haben. Die erste Zeile könnte demnach - sinnbildlich - etwa so zu verstehen sein: Zuerst beruhigt man den Herzog. Dann versucht man in einem zweiten Schritt, ihn vollends einzuschläfern, indem man ihm einen Schlafschwamm ins Gesicht legt. Doch irgend etwas geht schief. Der Herzog merkt, was man mit ihm vorhat und reißt sich noch rechtzeitig den Schwamm aus dem Gesicht. Eine andere Erklärung finden wir bei LEONI. Er führt "esponce" auf das provenzalische "esponcio" (u. a. Vertrag) zurück und "arrachant" auf das mittellateinische "aracare" (u. a. einen Vertrag unterzeichnen). Dann hätten wir anstelle eines Narkosemittels einen unterzeichneten Vertrag, der beim Herzog aber unter Umständen die gleiche Wirkung haben könnte ...
4) Oder auch: "Schiff".
5) Es gibt Tripolis, die Hauptstadt des heutigen Libyens, die Hafenstadt Tripolis im nördlichen Libanon und das griechische Tripolis auf der Peloponnes.
6) Chios ist eine griechische Insel nahe der türkischen Ägäisküste, auf der Höhe von Izmir. Der Hauptort der Insel heißt ebenfalls Chios.
7) Türkische Hafenstadt an der Südostecke des Schwarzen Meeres.
8) Es wäre möglich, dass das in der zweiten Zeile erwähnte Segel aus den genannten Städten kommen wird. Dann würde das griechische Tripolis, vgl. Anmerkung 5, aber wohl als Möglichkeit ausscheiden, da es nicht an einer Küste liegt. Zudem wäre dann das Segel bzw. Schiff wahrscheinlich pars pro toto als Flotte zu verstehen.
9) "Mar Negro" bedeutet u. a. auf Aragonesisch, Spanisch und Portugiesisch "Schwarzes Meer". Nostradamus zielt hier möglicherweise auf das griech. "Pontos" ab, das sowohl das Schwarze Meer wie auch das Küstengebiet südöstlich dieses Meeres bezeichnete.

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