5.275  Das "slawische Volk" wird einen religiösen Herrscher- und Fürstenkult ausüben.
 

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Zusammenfassung
 

1/14: In den ersten beiden Zeilen ist von einem "slawischen Volk" oder "Sklavenvolk" die Rede (vgl. Anmerkung 1), das von Fürsten und einem Herren (oder: von Fürsten und Herren) in "Gefängnisse" gesteckt werden wird. Nostradamus könnte hier beschreiben, wie ein Volk von seiner eigenen Obrigkeit in einem Zustand der Gottferne gehalten wird, den er mit der Babylonischen Gefangenschaft der Juden vergleicht (vgl. Anmerkung 5). Anders als die Juden in Babylon scheint dieses slawische Volk jedoch Lieder zu singen und Gebete zu sprechen. Und zwar solche, die nicht an Gott gerichtet sind. Wir lesen dazu nämlich in der dritten und vierten Zeile, dass diese in der Zukunft von Unwissenden (oder: Dummköpfen) ohne Verstand wie göttliche Gebete behandelt werden, was sie aber nicht sind. Das ist wohl so zu verstehen, dass man sie als religiöse Ausdrucksformen akzeptieren und wie christliche Gesänge und Gebete behandeln wird. Es kann sogar vermutet werden, dass man den Kult des slawischen Volkes wertmäßig dem Christentum gleichsetzen wird. Jedenfalls deutet Nostradamus’ Kritik an denjenigen, die die Ausdrucksformen dieses Kultes mit denen des christlichen Glaubens auf eine Stufe stellen werden, in diese Richtung. Wo und warum dies geschehen wird, erfahren wir nicht. An dieser Stelle sei allerdings auf 5.6 verwiesen, wo "Attila" (der Anführer des slawischen Volkes) gemäß 6/80 wohl mit einer großen Armee Land und Meer überqueren wird, um "das Kreuz" (das Christentum) bis in den Tod zu verfolgen.

3/26: Wie in 1/14 ist auch hier von Fürsten und Königen (= Herrschern) die Rede und wieder in einem religiösen Zusammenhang. In der ersten Zeile erfahren wir, dass man von ihnen kultische Standbilder errichten wird, vgl. Anmerkung 1. Dass es sich dabei nicht um bloße Denkmäler handeln wird, ist zudem wohl aus den Zeilen zwei bis vier zu schließen. Nostradamus beschreibt hier religiöse Handlungen, deren Vorbilder im alten Rom zu finden sind. Man holt Vorzeichen ein und liest wieder aus den Eingeweiden von Opfertieren. Die dazu nötigen Eingeweideschauer werden dabei zahlenmäßig stark zunehmen und ihre gesellschaftliche Stellung verbessern können. Somit dürften sie und ihr Kult schon vorhanden sein, bevor letzterer zur dominierenden Religion werden wird. D. h. dieser neuheidnische Herrscher- und Fürstenkult wird über eine gewisse Basis verfügen und ist somit für dieses Volk nichts völlig Fremdes. In der dritten Zeile ist von einem Opfertier die Rede, dessen Hörner man vor der rituellen Schlachtung kostspielig mit Gold und Lapislazuli verzieren wird. In Frage kommen hier etwa ein Widder oder ein Rind. Wird dieses Tier etwa vor einem der erwähnten Standbilder geopfert werden? Die Erwähnung des gehörnten Opfertieres, vielleicht eines Rindes, ist zudem wohl eine Anspielung auf das Goldene Kalb in der Bibel (Exodus 32), das seinerseits für den heidnischen Abfall von Gott steht. Die religiöse Verehrung der Herrscher und Fürsten erinnert an den römischen Kaiserkult.

Quellen
 

1/14  

De gêt esclaue1) chansons, chãtz & requestes2),
Vom slawischen1) Volk [werden] Lieder, Gesänge und Gebete2) [zu vernehmen sein].
Captifs3) par princes & seigneur4) aux prisons5):
[Als] Gefangene3) von Fürsten und dem Herren4) [werden sie] in Gefängnissen5) [sitzen].
A l’auenir par idiots6) sans testes7)
In der Zukunft [werden ihre Lieder, Gesänge und Gebete] von Unwissenden6) ohne Kopf7)
Seront receus par8) diuins oraisons9).
wie8) göttliche Gebete9) aufgenommen werden.
1) "Oder auch: "Sklavenvolk". Die "Esclavonie" bezeichnete früher etwa den Raum Ostkroatien-Südungarn (zur Esclavonie siehe auch 5.64: 2/32 und 5.26: 4/82). Hier könnte Nostradamus  aber die Slawen im weiteren Sinne gemeint und das griech. "sklabos/sklabenos" im Auge gehabt haben, das sowohl "Slawe" wie auch "Sklave" bedeutet. Das "slawische Volk" taucht auch in 5/26 (5.6) auf.
2) Oder auch: "Bitten".
3) Das Adjektiv "captif" kann daneben auch "fasziniert, bezaubert" bedeuten.
4) In den Ausgaben von 1555 und 1557 steht hier "seigneur" (der Herr). BRIND’AMOUR, S. 66, korrigiert hier zu "seigneurs" (die Herren). Das Mittelfranzösische "seigneur" kann als Nebenform von "saigneur" u. a. auch noch "Schlächter" bedeuten.
5) Im Mittelfranzösischen kann "prison" (Gefängnis, Gefangenschaft) im übertragenen Sinn auch einen Zustand der Gottferne bezeichnen. Ein Zustand, in dem die menschliche Seele sich "im Gefängnis", etwa auf der Erde, im Fegefeuer oder in der Hölle, befindet. Die Stelle erinnert zudem an Psalm 137, der die Babylonische Gefangenschaft der Juden zum Thema hat. In Psalm 137, 1 - 4 heißt es: "An den Strömen von Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten. Wir hängten unsere Harfen an die Weiden in jenem Land. Dort verlangten von uns die Zwingherren Lieder, unsere Peiniger forderten Jubel: 'Singt uns Lieder vom Zion!' Wie könnten wir singen die Lieder des Herrn, fern, auf fremder Erde?" Ich vermute, die zweite Zeile von 1/14 ist nicht so zu verstehen, dass das slawische Volk in Justizvollzugsanstalten inhaftiert ist, sondern dass es sich im Zustand eines "Babylonischen Exils" befindet, d. h. gefangen in der Gottferne eines heidnischen Kultes, vgl. 3/26.
6) Oder auch: "Einfaltspinsel, Dummköpfe".
7) Wörtlich: "Köpfe". Hier steht der Kopf für das Hirn, den menschlichen Verstand.
8) Das mittelfranzösische "par" bedeutet u. a. auch "gleich, gleich wie". Vgl. auch BRIND’AMOUR, S. 67.
9) D. h. Gebete an Gott. Eine Parallele zu den "Liedern des Herrn" aus Psalm 137, vgl. Anmerkung 5.

3/26  

Des rois & princes dresseront simulacres1),
Von Königen und Fürsten werden [sie] Standbilder1) errichten.
Augures2), creuz3) esleués5) aruspices4):
Vorzeichen2) [werden eingeholt werden, und die] Opferschauer4) [werden] an Zahl und Rang zugenommen5) [haben].
Corne, victime6) d’orée7), & d’azur, d’acre8):
[Das] Horn [des] Opfertiers6) [wird] golden7) und lapislazulifarben8) [sein].
Interpretés seront les extispices9).
Ausgelegt werden die Eingeweideschauen9).
1) Das mittelfranzösische "simulacre" bezeichnet besonders das Standbild einer heidnischer Gottheit der Antike, vgl. auch lat. "simulacrum" (Statue, Götterbild).
2) Oder: "Auguren" (im alten Rom Beamte oder Priester, die Vorzeichen -  etwa den Vogelflug oder Blitze - beobachteten und deuteten). Im übertragenen Sinn kann das lat. "augur" auch "Weissager" oder "Seher" bedeuten.
3) "Creuz" ist entweder eine Nebenform von "creux" (leer, ausgehöhlt) oder das Partizip Perfekt des Verbes "croistre" (wachsen, anwachsen). BRIND’AMOUR, S. 370 - 372, liest hier "croix" bzw. das provenzalische "crouz" (Kreuze) und interpretiert diese vom Kontext her als "crosses" (Bischofsstäbe). Die Bischofsstäbe repräsentierten hier aber die Krummstäbe der römischen Auguren (Litui). Dann wäre die Zeile etwa so zu übersetzen: "[Es wird] Auguren [mit] erhobenen Krummstäben [und] Opferschauer [geben]. Vgl. auch GRUBER, S. 173f.
4) Die Haruspices waren im alten Rom die Opferschauer, die aus den Eingeweiden geschlachteter Opfertiere die Zukunft lasen. Im weiteren Sinne einfach Wahrsager und Seher.
5) Oder auch: "[... die] Opferschauer [werden] zahlenmäßig zugenommen [und] sich erhoben [haben]."
6) Oder einfach: "Opfers".
7) Oder: "aus Gold".
8) Oder: "hellblau". "Azur d’Acre" ist der hellblaue Lapislazuli, der als Schmuckstein oder in der Malerei als Fabpigment verwendet wurde. BRIND’AMOUR, S. 370 - 372, schlägt "d’azur" und "de nacre" (aus Lapislazuli und aus Perlmutt) vor. Eine weitere Möglichkeit wäre, hier "ocre" (ockergelb) zu lesen, was sich aber weniger gut auf "simulacres" reimt. Lapislazuli war zur Zeit des Nostradamus sowohl als Schmuckstein wie auch als Farbstoff sehr teuer.
9) Lat. "extispicium" (Opferschau, Eingeweideschau). Oder lat. "extispex" (Zeichendeuter, Eingeweideschauer), wobei in diesem Fall nicht die Eingeweideschauer selber sondern deren Deutungen von den Fragestellern weiter ausgelegt würden.


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