5.34  "Aistulf" besiegt den "Adler" in Lyon.

Kampanien wird von einem lang anhaltenden Regen und Apulien von einer schlimmen Dürre heimgesucht werden. Die Gegenden um Neapel und Capua werden überflutet werden. Ein italienischer Neo-Langobarde "Aistulf" wird dem französischen "Adler" in Lyon eine Niederlage zufügen. Der französische "Hahn" und ein "kleiner Großer" (ein neuer Pippin der Kurze?) wollen oder können dem "Adler" nicht helfen. Sind beide vielleicht ein und dieselbe Person? Am "Himmel" wird Waffenlärm gehört werden, und das Ligurische Meer wird rot gefärbt sein.



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10/49 - 2/31 - 3/52 - 2/85


10/49

[1] Iardin du monde1) aupres de cité neufue2),
[2] Dans le chemin des montaignes cauees3),
[3] Sera saisi & plongé4) dans la Cuue,
[4] Beuuant par force eaux soulfre enuenimees.

[1] [Der] Garten der Welt1) bei [der] neuen Stadt2),
[2] auf dem Weg der ausgehöhlten Berge3),
[3] wird ergriffen und in den Bottich getaucht4) werden.
[4] [Man wird] zwangsweise [mit] Schwefel vergiftete Wasser trinken.

1) Mit der "neuen Stadt" ist Neapel (griech. "nea polis" = neue Stadt) gemeint, vgl. Anmerkung 2. Demzufolge entspricht der "Garten der Welt" deren Umland in Kampanien, das die Römer wegen seiner Fruchtbarkeit und Schönheit "Campania felix" (glückliche Landschaft) nannten. Das würde den "Garten" erklären. Doch wieso nennt Nostradamus das Gebiet um Neapel den Garten der ganzen "Welt"? Vielleicht hat er diese Gegend einfach für die schönste Region auf dem Erdenrund gehalten. Oder er hat beim Begriff "Welt" vielmehr an das lat. "mundus" gedacht (vgl. 5/96/1), das neben "Welt" auch eine runde Opfergrube auf dem Forum Romanum bezeichnete, die als Eingang zur Unterwelt galt. Am Ort dieses Mundus stand der Tempel Umbilicus Urbis ("Nabel der Stadt"), der als Mittelpunkt Roms und des gesamten Römischen Reiches betrachtet wurde. In Kampanien gab es ebenfalls einen runden Eingang zur Unterwelt, den Averner See (wenige Kilometer westlich von Neapel bzw. Pozzuoli). Insofern wäre Kampanien tatsächlich der "Garten" wenigstens eines Mundus.
2) Neapel taucht in 1/11/2, 1/24/1, 1/69/4 (?), 1/87/2, 2/16/1, 3/25/2, 3/74/1, 5/43/2, 6/97/2, 7/6/1, 8/9/3, 9/92/1 und 10/49/1 auf, wobei es in 1/24/1, 1/87/2, 6/97/2, 9/92/1 und 10/49/1 "neue Stadt" genannt wird. Um 700 v. Chr. gründeten Griechen aus Süditalien auf dem Gebiet des heutigen Neapels die Stadt Parthenope. Etwa 530 v. Chr. entstand ebenfalls auf dem Gebiet des heutigen Neapels eine zweite griechische Stadt, die Neapolis ("neue Stadt") genannt wurde. Ab ca. 470 v. Chr. überflügelte Neapolis von der Bedeutung her Parthenope, das seit dieser Zeit auch als Palaiopolis ("alte Stadt") bezeichnet wurde. Neapolis gehörte bald zu den bedeutendsten Städten des griechischen Süditaliens. Ein 326 v. Chr. mit Rom geschlossenes Bündnis garantierte lange die Unabhängigkeit der Stadt. Erst in der Folge des römischen Bürgerkrieges zwischen Marius und Sulla 88 bis 82 v. Chr. wurde Neapel, das auf der Verliererseite gestanden hatte, unter Sulla ins Römische Reich eingegliedert. Nach dem Untergang des Weströmischen Reiches kam Neapel wie ganz Italien 476 erst unter die Herrschaft des weströmisch-germanischen Heerführers Odoakers und wurde dann 493 Teil des Ostgotenreiches unter Theoderich dem Großen. 536 und 553 eroberte Ostrom die Stadt, die bis ins siebte Jahrhundert Teil des Byzantinischen Reiches blieb und nicht wie große Teile Italiens an das Langobardenreich fiel. 661 schuf Byzanz das Dukat (Militärbezirk) Neapel, aus dem sich das Herzogtum Neapel entwickelte, das vom achten bis zwölften Jahrhundert als de facto unabhängiger Staat existierte. 1139 fiel Neapel nach jahrelangem Kampf an das normannische Königreich Sizilien, das in den Jahren von 1071 bis 1130 entstanden war. 1194 eroberten die Staufer Süditalien inklusive Neapel. Abgelöst wurden sie vom Haus Anjou, das das Königreich Sizilien ab 1266 (ohne Insel-Sizilien ab 1282 Königreich Neapel) bis 1442 beherrschte. Unter der harten Herrschaft der Anjou blühte die Stadt Neapel auf und wurde zu einem der kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Zentren Italiens und Europas. 1442 besiegten die Spanier die Anjou und beherrschten in der Folge Neapel bis 1707. Dies zunächst unter dem Hause Aragon und ab 1503 unter den Habsburgern - unterbrochen nur von einer kurzen französischen Herrschaft von 1501 bis 1504. Die Stadt Neapel blieb ein Zentrum von Humanismus und Renaissance, das zuvor unabhängige Königreich Neapel wurde allerdings in das Habsburger Weltreich eingegliedert. Wichtig für die Zeit des Nostradamus war dabei v. a. die Herrschaft des spanischen Vizekönigs Pedro Álvarez de Toledo (1532-1553), der die Stadt am Vesuv nachhaltig prägte. Sein Versuch, die spanische Inquisition 1547 einzuführen, führte allerdings zu einem Volksaufstand.
3) Hier müsste die Via Domitiana gemeint sein, die im Jahr 95 n. Chr. gebaut wurde. Die Straße verband das Latium (Terracina) mit Kalabrien und durchlief auch das Gebiet am Golf von Neapel (Portus Iulius beim heutigen Arco Felice-Pozzuoli-Neapel-weiter Richtung Reggio di Calabria). Mit den "ausgehöhlten Bergen" sind Wahrscheinlichkeit die Vulkane gemeint, die in dieser Gegend liegen (u. a. Monte Gauro, Solfatara, Vesuv).
10-49-golfvonneapel.png
Leere Karte: https://d-maps.com/carte.php?num_car=191672&lang=de (Abgerufen am 31.05.2019). Bearbeitet von Jean-Claude Pfändler am 31.05.2019.
4) Die 1568er-Ausgaben aus Dresden und Paris schreiben fälschlicherweise "prolongé" (verlängert).
Lang anhaltender Regen wird die Gegend um Neapel im Wasser versinken lassen.

In 10/49 ist von Kampanien, genauer vom Umland Neapels die Rede, vgl. Anmerkungen 1 und 2. Wir erfahren in der dritten Zeile, dass die Gegend sinnbildlich "in den Bottich" getaucht, d. h. überschwemmt werden wird. Und zwar, wie in der vierten Zeile zu lesen ist, von mit Schwefel vergifteten Wassermassen.

Doch wie kommt der Schwefel in das Wasser? Schwefel findet sich in freier Natur in vulkanischen Gebieten, zu denen die erwähnte Gegend zählt (vgl. Anmerkung 3). Der Vulkankrater Solfatara in Pozzuoli bei Neapel trägt den Schwefel sogar in seinem Namen (ital. zolfo/solfo). An und bei Vulkanen stoßen Fumarole (Dampfaustrittsstellen) u. a. gasförmigen Schwefel aus, der kondensiert und sich in fester Form ablagert. Nostradamus könnte hier gemeint haben, dass lange Regenfälle (vgl. 2/31 und 3/52) den Schwefel und anderes Material von den Vulkanen waschen und ins Trinkwasser spülen werden.

Reiner, wasserunlöslicher Schwefel ist ungiftig, kann aber in großen Mengen abführend wirken. Es gibt allerdings Schwefelverbindungen, die giftig sind (vgl. https://www.lenntech.de/element-und-wasser/schwefel-und-wasser.htm Abgerufen am 19.05.2019). Es wäre möglich, dass hier auch solche Verbindungen ins Wasser gelangen.

Der Hinweis, dass man gezwungenermaßen das mit Schwefel "vergiftete" oder versetzte Wasser trinken wird, könnte verdeutlichen, in welchem Ausmaß der Regen fallen wird. Es wird so viel regnen und dadurch derartige Schwefelmengen ins Trinkwasser gelangen, dass man einfach keine andere Wahl mehr hat als auch dieses Wasser zu konsumieren.


2/31

[1] En Campanie1) Cassilin2) sera tant
[2] Qu’õ ne verra que d’eaux les chãps couuerts
[3] Deuant apres la pluye de long temps
[4] Hors mis les arbres rien l’on verra de vert.

[1] In Kampanien1) wird Casilinum2) derart [anzusehen sein],
[2] dass man nichts als die von den Wassern bedeckten Felder sehen wird.
[3] Vor [und] nach dem lange andauernden Regen
[4] wird man außer den Bäumen nichts Grünes [mehr] sehen.

1) Kampanien ist die Region, in der Neapel liegt, vgl. 10/49. Namentlich genannt wird sie in 2/31/1 und 2/84/1.
2) Die beiden 1557er-Ausgaben sowie alle 1568er schreiben "le Cassilin". Auf den Ruinen des antiken Casilinum steht das heutige Capua. Casilinum taucht nur ein einziges Mal in den Zenturien auf. "Capua" hingegen wird in 5/99/2 und 10/60/2 erwähnt. Das heutige Capua liegt etwa 25 km nordwestlich von Neapel. Das antike Capua befand sich an der Stelle des heutigen Santa Maria Capua Vetere, etwas südöstlich des modernen Capua gelegen.
          Das antike Capua dürfte wohl um etwa 800 v. Chr. entstanden sein. Der Überlieferung gemäß sollen die Etrusker am Ort eines oskischen Dorfes das antike Capua im eigentlichen Sinne im Jahr 471 v. Chr. gegründet haben. In der zweiten Hälfte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts beendeten die Samniten die etruskische Herrschaft in Kampanien. Capua wurde dabei 424 v. Chr. von ihnen erobert. Die Anbindung an Rom begann 343 v. Chr., als Capua um Hilfe gegen anrückende Samnitenstämme erbat. 312 v. Chr. verband die Via Appia die Stadt mit Rom. Im dritten vorchristlichen Jahrhundert prosperierte Capua und wurde eine der bedeutendsten Städte Italiens. Während des Zweitens Punischen Krieges wechselte Capua nach Hannibals Sieg über die Römer bei Cannae (216 v. Chr.) die Seiten und schloss sich den Puniern an. Die Römer belagerten die Stadt 212/211 v. Chr., nahmen sie ein und machten sie zu römischen Staatsgebiet. Das fortan unterworfene Capua blühte aber wirtschaftlich und war u. a. für die Austragung von Gladiatorenkämpfen berühmt. 73 v. Chr. begann der zwei Jahre dauernde Sklavenaufstand des Spartacus in eben diesem capuanischen Gladiatorenwesen. Unter Cäsar, Markus Antonius und Augustus wurden später Tausende römische Bürger in Capua angesiedelt. 456 n. Chr. zerstörten die Vandalen die Stadt, die aber wohl wieder aufgebaut wurde und eine gewisse Bedeutung behalten konnte. Erneut zerstört wurde das alte Capua in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts durch die Langobarden, existierte aber weiter. Anders nach der Verwüstung durch arabische Sarazenen 841.
          856 gründeten die Langobarden etwas entfernt davon das heutige Capua, das an der Stelle des antiken Casilinum steht (vgl. 2/31/1). Zwar entstand am Platz des alten, verwüsteten Capuas auch wieder eine Siedlung, das heutige Santa Maria Capua Vetere (bis 1861 Santa Maria Maggiore genannt), doch das Capua aus der Zeit des Nostradamus war die langobardische Neu- oder Wiedergründung wenige Kilometer davon entfernt. Die Langobarden schufen zudem das Fürstentum Capua, das spätestens ab 840 bis 1172 existierte. Ab 1058 stand das Fürstentum unter normannischer Oberhoheit, ab 1155 gehörte es zum Königreich beider Sizilien. 1501 verwüstete Cesare Borgia die Stadt Capua und tötete dabei über fünftausend Männer, Frauen und Kinder. Cesare Borgia (1475/76-1507) war der uneheliche Sohn des späteren Papstes Alexander VI. (1492-1503) sowie u. a. Feldherr des Kirchenstaates.
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Leere Karte: https://d-maps.com/carte.php?num_car=8050&lang=de (Abgerufen am 04.06.2019). Bearbeitet von Jean-Claude Pfändler am 04.06.2019.

Die Gegend um Capua wird von zwei Überschwemmungskatastrophen heimgesucht werden. Erst dürfte der Volturno über die Ufer treten und dann setzt lang anhaltender Regen das Land unter Wasser.

Wie der ersten Zeile zu entnehmen ist, geht es in dieser Strophe um Kampanien. Und zwar in Zusammenhang mit einem lange andauernden Regen (Zeile drei). Das ist eine Parallele zu 3/52/1 und 10/49. In 5.105 (1/67-6/5) ist ebenfalls von einer langen Regenperiode die Rede, die eine allgemeine Hungersnot auslöst. Allerdings wird jener Regen alles Land unter dem "nördlichen Himmel" (6/5/2) betreffen. Und ob Nostradamus Süditalien zu den Ländern unter dem "nördlichen Himmel" gezählt hat, ist mindestens unsicher.

In den ersten beiden Zeilen von 2/31 ist konkret von der Gegend um das heutige Capua die Rede. Dort werden alle Felder unter Wasser stehen. Gemäß Zeile drei aber anscheinend nicht nur nach sondern auch vor dem lange andauernden Regen. Somit muss die Überschwemmung beim ersten Mal eine andere Ursache haben. Da Capua auf etwa 25 Metern Höhe liegt, wäre ein massiver Anstieg des Mittelmeers im Rahmen einer globalen Klimakatastrophe nötig, um Stadt und Umland zu überschwemmen. Wahrscheinlicher ist deshalb wohl das Szenario, dass der Volturno, an dem Capua liegt, stark anschwillt und über die Ufer tritt.

Die zweite Überschwemmung wird wohl vom erwähnten langen Regen verursacht werden, der alles bis auf die Bäume unter Wasser setzen wird (Zeile vier). Dabei könnten beide Katastrophen nahtlos ineinander übergehen.


3/52

[1] En la Campaigne1) sera si longue pluie,
[2] Et en la Pouile2) si grande siccité.
[3] Coq3) verra l’aigle4), l’aesle mal accomplie5):
[4] Par6) Lyon7) mise8) sera en extremité9).

[1] In Kampanien1) wird es [einen] sehr lang anhaltenden Regen geben
[2] und in Apulien2) [eine] sehr großeTrockenheit.
[3] [Der] Hahn3) wird den Adler4) sehen, der in Schwierigkeiten steckt5).
[4] In6) Lyon7) wird [er]8) in äußerste Gefahr9) gebracht werden.

1) Kampanien ist die Region, in der Neapel liegt, vgl. 10/49. Namentlich genannt wird sie in 2/31/1 und 2/84/1. Die 1557er-Version aus Budapest/Moskau schreibt fälschlicherweise "Champaigne". Die Champagne liegt in Nordostfrankreich und gehört nicht den geografischen Kontext des Vierzeilers.
2) Region in Südostitalien, der Absatz des Stiefels.
3) Mit dem "Hahn" dürfte am ehesten Frankreich, eine französische Macht oder ein französischer Machthaber gemeint sein, vgl. lat. "gallus" ("Hahn" und "Gallier"). Der "Hahn" taucht in 1/31/4, 1/93/2, 2/42/1, 3/52/3, (4/4/3), 5/14/4, 5/68/4, 6/28/4, [6/54/1], 8/4/1 u. 4, 8/5/4, 8/6/4, 8/9/1, 8/46/4 und 8/61/4 auf. Gemäß 8/5/4 wird der "Hahn" im Sarg liegen, was vermutlich eher auf eine Person denn ein Land hindeutet. Das mittelfranzösische "coq" bedeutet zudem noch "Koch", vgl. lat. "coquus". In der griech. Mythologie war Alektryon (griech. "Hahn") ein Diener des Kriegsgottes Ares (Mars). Alektryon bekam von Ares die Aufgabe, vor der Tür des Raumes Wache zu halten, in dem Ares mit Aphrodite (Venus) jeweils Ehebruch beging. Eines Tages schlief Alektryon jedoch auf Wache ein, so dass der Sonnengott Helios am Morgen die beiden erwischte und die Schandtat dem gehörnten Ehemann Hephaistos (Vulcanus) berichtete. Zur Strafe für dieses Wachvergehen verwandelte Ares den Alektryon in einen Hahn, damit jener nie mehr vergäße, den Sonnenaufgang anzukünden. In der römischen Geschichte gab es weiter einige Persönlichkeiten, darunter Politiker, Feldherren und Kaiser, die in ihren Namen den Begriff "Gallus" führten. Mit Constantius Gallus (351-354) gab es sogar einen Caesar (Unterkaiser) für den Ostteil des Römischen Reiches, das gesamthaft von Kaiser Constantius II. (350-361) beherrscht wurde. Gallus residierte in Antiochia (dem heute türkischen Antakya). Er wurde auf Befehl des Kaisers hingerichtet.
4) Von einem gemäß 2/85/2 "keltischen" (französischen) "Adler" ist in 1/23/4, 1/31/4, 1/38/1, 2/44/1, 2/85/2, 3/37/2, 3/52/3, 4/70/2, 5/42/4, 5/81/1, 6/46/4, 8/4/4, 8/8/2, 8/9/1, 8/46/4 und 10/27/4 die Rede. Damit könnte ein französischer Feldherr oder Machthaber gemeint sein, der dem historischen Aëtius ähnelt, vgl. griech. "aetos" und "aietos" (Adler). Flavius Aëtius wurde um 390 in der heute nordbulgarischen Hafenstadt Silistra geboren. Sein Vater skythischer (germanischer?) Herkunft war bereits römischer "General" (magister militum), seine Mutter stammte aus einer reichen italischen Aristokratenfamilie. Flavius Aëtius diente schon früh am weströmischen Hof in Mailand und Ravenna und verbrachte einige Jahre seiner Jugend erst bei den Westgoten, dann bei den Hunnen als Geisel. Die dabei geknüpften freundschaftlichen Beziehungen zu letzteren sollten für Aëtius später sehr wichtig werden. Unter dem weströmischen Usurpator Johannes (423-425) diente Aëtius als Kuropalates ("Palastleiter", ein hohes Amt am Hof). Als solcher erhielt er im Herbst 424 den Auftrag, bei den Hunnen um militärische Hilfe gegen Ostrom zu bitten. Im Mai 425 erschien Aëtius mit einem großen hunnischen Heer in Italien und lieferte sich dort - obwohl Johannes' Usurpation bereits gescheitert und Johannes selber enthauptet worden war - eine unentschiedene Schlacht gegen die Oströmer. Seine starke militärische Präsenz in Italien ermöglichte es Aëtius, an die Spitze des Weströmischen Reiches aufzusteigen. Er verständigte sich mit dem neuen Kaiser Valentinian III. (geboren 419, Kaiser 425-455, ein Vetter des oströmischen Kaisers), bzw. mit dessen Mutter Galla Placidia (388-450), die die Amtsgeschäfte für ihren minderjährigen Sohn führte. Aëtius schickte die Hunnen zurück und wurde selber Comes (die Comites waren die höchsten Amtsträger am Kaiserhof) sowie Oberbefehlshaber der weströmischen Truppen in Gallien. Als solcher kämpfte er siegreich gegen die Westgoten bei Arles (426), gegen die Franken am Rhein (428), erneut gegen die Westgoten bei Arles (430), gegen die Bagauden (Aufständische verschieder Herkunft) in Nordwestgallien und gegen die germanischen Juthungen in Raetien und Noricum (430/431). Mit dem Sieg gegen die Juthungen sicherte er die römische Donaugrenze. Erneut schlug er zu dieser Zeit in Nordfrankreich die Franken, die er aber auf römischem Gebiet siedeln ließ und so zu "Verbündeten" (Foederati) Roms machte (431). Diese Ansiedlung bildete die Keimzelle des späteren Fränkischen Reiches unter Chlodwig I. (481/482-511) - und somit auch Frankreichs (und Deutschlands). Nach der (vermutlich von Aëtius veranlassten) Ermordung seines größten Rivalen Flavius Felix 430 in Ravenna war Aëtius einer der mächtigsten Männer des weströmischen Reiches geworden. 432 wurde er das erste Mal zum Konsul gewählt, hatte also das höchste politische Amt errreicht. Doch um ein machtpolitisches Gegengewicht zu schaffen, rief die Kaisermutter Galla Placidia den Gouverneur und - ebenfalls begabten - Oberkommandierenden der römischen Truppen in der Provinz Africa, Bonifatius (geboren vor 413-432), nach Italien zurück. Dort wurde er zum Patricius ernannt (ein hoher Ehrentitel für die engsten Vertrauten des Kaisers) und sollte Aëtius als Oberkommandierenden der weströmischen Streitkräfte ablösen. Aëtius weigerte sich aber, seine Befehlsgewalt abzugeben. In der Folge kam es noch 432 zur Schlacht von Rimini, in der Bonifatius Aëtius zwar besiegte aber selber so schwer verwundet wurde, dass er einige Monate später an den Folgen der Verletzungen starb. Aëtius floh zu den Hunnen, seinen alten Freunden. Amtsnachfolger des Bonifatius wurde dessen Schwiegersohn Sebastianus. 433 kehrte Aëtius mit einer großen hunnischen Armee nach Italien zurück. Der sich bald in einer aussichtslosen Lage befindliche Sebastianus - Galla Placidia hatte vergeblich versucht, die Westgoten zur Unterstützung zu gewinnen - wurde seines Amtes enthoben und musste nach Konstantinopel fliehen. Aëtius kaufte die Besitzungen des Bonifatius und heiratete Pelagia, dessen gotische Witwe, womit er Zugriff auf deren gewaltiges Erbe und deren Gefolgschaft bekam. Aëtius (ab 435 mit dem Titel Patricius ausgestattet) war nun bis zu seinem Tod 454 der bestimmende Machthaber des Weströmischen Reiches. Sein Hauptaugenmerk galt dabei zunächst Gallien. 436 zerstörte er mit der Hilfe hunnischer Truppen das Burgunderreich bei Worms und besiegte erneut die Bagauden in Nordwestgallien. 438 und 439 kämpfte er gegen die Sueben und Westgoten. Gegen letztere war 439 allerdings eine herbe Niederlage zu verzeichnen. In den 440er-Jahren hatte Aëtius immer wieder mit den Bagauden zu kämpfen. In Spanien (443) aber auch wieder in Nordwestgallien (447 oder 448). Die in Gallien expandierenden und eigentlich verbündeten Franken konnten besiegt und erneut zu Verbündeten (Foederati) gemacht werden (bis 447). Nach dem Tod des fränkischen Königs Chlodio (ca. 450) unterstützte Aëtius dessen jüngeren und sagenumwobenen Sohn Merowech (ca. 411-ca. 458) bei der Nachfolge seines Vaters, er adoptierte ihn sogar. Merowech war der halb legendäre Stammvater der Merowinger, des ersten fränkischen Königsgeschlechts, das bis 751 herrschte. Er war der Großvater Chlodwigs I., vgl. oben. Somit könnte man das Frankenreich - und somit indirekt auch Frankreich (und Deutschland) - wenigstens teilweise als Hinterlassenschaft des Aëtius verstehen. 451 griff der auf Erfolge und Beute angewiesene Attila das Weströmische Reich an. U. a. weil ihn eine Partei am Hof, die in Konflikt mit Aëtius geraten war, um Hilfe gebeten hatte. Aëtius gelang es allerdings, eine Koalition aus den verschienenen in Gallien ansässigen Verbündeten (Foederati) zur Abwehr Attilas zu schmieden. Eine Koalition, zu der auch die salischen Franken gehörten. Sogar die Westgoten konnte er ins Boot holen, nachdem sich Attila und der Vandalenkönig Geiserich (der Todfeind der Westgoten) verbündet hatten. Attila und seine germanischen Verbündeten (v. a. Ostgoten) drangen bis nach Orléans vor, das sie erfolglos belagerten. Die sich von Orléans zurückziehenden Hunnen und die anrückenden römisch-germanischen Verbände trafen schließlich am 20. Juni 451 auf den Katalaunischen Feldern zwischen Troyes und Châlons-en-Champagne (also rund 200 km nordöstlich von Orléans) aufeinander. Unter großen Verlusten gelang es Aëtius, Attila soweit zu schwächen, dass dieser aus Gallien abziehen musste. Der König der mit Aëtius verbündeten Westgoten (Theoderich I.) fiel in der Schlacht. 452 griff Attila Westrom erneut an. Dieses Mal kam er aber über die Alpen nach Italien, wo er u. a. Aquileia verwüstete. Aëtius stand mit den kläglichen Überresten der römischen Armee in Bologna. Es gelang ihm mit diesen aber, Attila von einem Marsch nach Süden abzuhalten. Seuchen unter den hunnischen Truppen und oströmische Angriffe auf die Gebiete der Hunnen sowie ihrer Verbündeten nördlich der Donau ließen Attila schließlich aus Italien abziehen. Aëtius selber fand ein unverdientes Ende, er wurde Opfer einer Palastintrige. Am 21. September 454 wurde er von Kaiser Valentinian III. während einer Audienz mit dem Schwert getötet, weil der Kaiser seine eigene Stellung durch den übermächtigen Heermeister bedroht glaubte.
5) Wörtlich: "[dessen] Flügel schlecht ausgeführt [ist]". Im Lateinischen wie Mittelfranzösischen bezeichnet "Flügel" auch einen Heeresflügel. Somit ließe sich die Zeile z. B. mit "[dessen] Heeresflügel schlecht aufgestellt [ist]" wiedergeben. CLÉBERT, S. 399, überträgt "l’aesle mal accomplie" mit dem modernen "battre de l’aile" (in Schwierigkeiten stecken, an Kraft verlieren).
6) Die mittelfranzösische Präposition "par" hat ein recht weites Bedeutungsspektrum. Neben "durch, wegen" u. a. kann sie auch für "in" stehen, was mit Blick auf 2/85/2 hier wohl gemeint sein dürfte.
7) Oder auch: "Wegen [des] Löwens, wegen Lyon". Das Wort "Löwe" ("lion" oder "lyon") taucht bei Nostradamus etliche Male auf. Die französische Stadt Lyon ist dabei wohl in in 1/72/3, 2/83/1, 2/85/2, 3/46/1, 3/52/4, 3/56/3, 3/93/4, 7/4/2, 8/3/4, 8/6/1, 9/68/2, 9/69/3, 9/70/2, 9/98/3 (?) und 10/59/1 gemeint. Die römische Gründung und Sitz eines Erzbischofs Lyon (Lugdunum) fiel 461 an die Burgunder, unter denen sie Königsresidenz war, gehörte aber ab 534 zum Frankenreich. 725 wurde die Stadt von den Arabern verwüstet. Nachdem Lyon durch die Teilungen des Frankenreiches nach 843 zunächst zum Lotharii Regnum und dann zum Arelat (Burgund) gehört hatte, kam die Stadt mit dem gesamten Arelat 1032 zum römisch-deutschen Reich. Endgültig französisch wurde sie 1312. Zur Römerzeit war Lyon die Hauptstadt ("caput") Galliens (der "Tres Galliae" [= der "Drei Gallien"]). Und in dieser Tradition trägt seit 1079 der Erzbischof (Kardinal) von Lyon die Ehrenbezeichnung "Primat des Gaules", ist also nominell Oberhaupt (Primas) der katholischen Kirche in Frankreich (in den [Drei] Gallien). In der Stadt fanden zwei Konzilien statt (1245 und 1274), die die religiöse Bedeutung Lyons unterstreichen. Die erste Hälfte des 16. Jh. war für die Stadt eine Zeit wirtschaftlicher und kultureller Blüte. In den 1550er-Jahren nahmen die Spannungen zwischen dem aufkommenden Protestantismus und den Katholiken jedoch immer stärker zu. Mit der Machtergreifung der Protestanten in der Stadt im Jahr 1562 und der katholischen Rückeroberung in den Folgejahren wurde Lyon schließlich in die Wirren der Religionskriege hineingezogen. Die Stadt an der Rhone trägt den Löwen (franz. "lion") in ihrem Wappen, so wie u. a. auch England und Venedig.
          Die einst große Seemacht Venedig ist wahrscheinlich in 2/94/3 mit dem "Löwen des Meeres" gemeint. Von mehreren englischen Löwen ist wohl in 1/35/1 und 7/16/3 die Rede: Das englische Wappen zeigt drei Leoparden bzw. "leopardierte" (d. h. schreitende) Löwen.
          Mehrere Löwen finden wir bei Nostradamus in 6/71/4, wobei hier allerdings noch abzuklären ist, ob es sich vielleicht um einen Verständnisfehler beim Setzen handelt.
           Auf einen einzelnen Löwen treffen wir in 1/31/4 (viertes Wort), 8/2/3, 5/25/1, 8/34/1 (sechstes Wort) und 9/19/2, wobei in diesen fünf Fällen wohl das Tierkreiszeichen gemeint ist.
           Das vierte Wort in 1/31/4 ("lyon" = Löwe) könnte aber neben dem Tierkreiszeichen gleichzeitig auch einen französischen Akteur in den Prophezeiungen des Nostradamus meinen, der an anderer Stelle auftaucht. Wir finden diesbezüglich in 1/33/2, 1/93/2, 5/99/3, 8/34/1 (viertes Wort) und 8/34/4 einen mit Blick auf 5/99/3 wohl keltischen d. h. französischen Löwen. Zum Begriff "keltisch" vgl. 6/4/1 (5.28).
          In 10/99/1 finden wir als Teil der Apokalypse ebenfalls noch einmal einen Löwen, der sicher als biblisches Zitat zu verstehen ist. Ob Nostradamus aber auch hier gleichzeitig an eine reale Macht gedacht hat (vielleicht Venedig?), ist im Augenblick noch offen.
          Doch an welche historische oder mythologische Figur könnte Nostradamus als Vorlage bei seinem französischen Löwen in 1/33/2 (?), 1/93/2, 5/99/3, 8/34/1 (viertes Wort) und 8/34/4 gedacht haben? "Löwe" heißt auf Griechisch "leon", auf Lateinisch "leo" und auf Französisch "lion". Vor diesem Hintergrund gibt es eine große Zahl an möglichen Vorbildern. Zu nennen wären u. a.: Leon, ein Gigant, der von Herakles (Herkules) erschlagen wurde; Leon, 590-560 v. Chr. König von Sparta und Großvater des bekannteren Leonidas; Leonidas I., König von Sparta 480-490 v. Chr. (vgl. 8/46); Leon, ca. 460-406 v. Chr., ein athenischer Politiker und Feldherr; sechs armenische Könige; ebenfalls sechs byzantinische Kaiser namens Leo bzw. Leon, die gut zu den "cäsarianischen" oder "kaiserlichen" Kräften passen würden, die Nostradamus in 1/33/2 erwähnt; Heinrich der Löwe, Herzog von Sachsen 1142-1180 und Bayern 1156-1180; Richard Löwenherz, König von England 1189-1199, sowie Herzog der Normandie und Aquitaniens und Graf von Maine und Anjou; Ludwig VIII. der Löwe, König von Frankreich 1223-1226; Robert III., 1305-1322 Graf von Flandern und somit Vasall sowohl des französischen Königs wie auch des römisch-deutschen Kaisers, genannt der "Löwe von Flandern".
          Wie so oft könnte Nostradamus auch bei seinem "keltischen (französischen) Löwen" Eingenschaften verschiedener Vorbilder kombiniert haben. Interessant scheint mir aber besonders der oben genannte Robert III., der "Löwe von Flandern" zu sein. Robert (1247-1322) stammte aus dem heute erloschenen französischen (= "keltischen") Haus Dampierre (Aube), dessen Wappen zwei goldene leopardierte Löwen auf rotem Grund zeigte und das seit 1246 die Grafen von Flandern stellte. Militärischen Ruhm errang Robert in den Jahren 1265-1268, als er in Italien an der Seite seines Schwiegervaters Karls I. von Anjou gegen die letzten Staufer kämpfte (eine Verbindung des "Löwens" zu Italien finden wir in 1/93 u. 5/99). Zusammen mit seinem Vater Guido I. nahm Robert am Achten Kreuzzug von 1270 teil, der unter der Führung des französischen Königs Ludwigs IX. nach Tunis führte (eine Verbindung des "Löwens" zum Orient findet sich in 8/34). Flandern, die Grafschaft der Dampierre, führte im Wappen einen nach (unheraldisch gesprochen) links blickenden, auf den Hinterbeinen stehenden schwarzen Löwen auf goldenem Grund und gehörte bis 1525 größtenteils zu Frankreich, im Osten zum römisch-deutschen Reich, dann gänzlich zum römisch-deutschen (Kaiser-) Reich (eine Verbindung zu den cäsarianischen/kaiserlichen Kräften aus 1/33). Nach der Rückkehr von Guido und Robert nach Flandern, kämpften beide politisch und militärisch gegen die Versuche der neuen französischen Könige, Flandern der Krondomäne einzuverleiben. Robert geriet dabei im Französisch-flämischen Krieg von 1297-1305 in Gefangenschaft und wurde von 1300-1305 auf der Burg Chinon an der Loire festgehalten. Nach dem Tod des Vaters und der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Athis-sur-Orge kehrte Robert 1305 als Graf nach Flandern zurück. Der Konflikt mit Frankreich brach allerdings auch danach mehrfach wieder aus. 1322 starb Robert und wurde in der Sankt-Martins-Kirche in Ypern bestattet, wo sich heute noch seine Grabplatte befindet.
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Grabplatte Roberts III. von Flandern (1249-1322), des "Löwen von Flandern" in der Sankt-Martins-Kirche (Kathedrale) in Ypern. Der Schild zeigt den flämischen Löwen. Quelle: http://mapio.net/pic/p-18300252/ bzw. http://static.panoramio.com/photos/large/18300252.jpg (Beide abgerufen am 28.12.2017).
8) Hier ist der Flügel des "Adlers" gemeint (vgl. die weibliche Endung) bzw. pars pro toto wohl der "Adler" selbst (vgl. BRIND’AMOUR, S. 401f.).
9) Das mittelfranzösische "extremité" bedeutet u. a. "extreme Lage, Leiden, letztes Ende (Tod)".
Kampanien wird von einem lang anhaltenden Regen und Apulien von einer schlimmen Dürre heimgesucht werden. Der französische "Hahn" wird sehen, wie in Lyon der französische "Adler" in große Gefahr gerät.

3/52 zerfällt in zwei Teile. In der dritten und vierten Zeile ist von einem wohl militärischen Geschehen die Rede, bei dem der französische "Adler" in Lyon durch einen nicht genannten Feind in äußerste Gefahr gebracht wird. Beobachtet werden wird das Ganze vom ebenfalls französischen "Hahn", der aber nicht einzugreifen scheint.

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Leere Karte: https://d-maps.com/carte.php?num_car=30130&lang=de  (Abgerufen am 22.06.2019). Bearbeitet von Jean-Claude Pfändler am 03.06.2019.

Zur zeitlichen Einordnung führt Nostradamus zwei Wetterphänomene in Süditalien an. Dann, wenn der "Adler" in Lyon in Not sein wird, wird Kampanien von einem sehr lang anhaltenden Regen und Apulien von einer schlimmen Dürre heimgesucht werden. Näheres erfahren wir hier nicht. Da unser Seher sie eigens erwähnt, ist allerdings davon auszugehen, dass es sich bei diesen Wetterphänomenen um wirklich einschneidende Vorgänge handeln wird. Interessant ist auch, dass in zwei einander recht nahen Regionen derart gegensätzliche Phänomene auftreten sollen.

Mit dem lang anhaltenden Regen in Kampanien ist wohl jener Regen gemeint, der in 10/49 die Gegend um Neapel und in 2/31 jene um Capua im Wasser versinken lassen wird.


2/85

[1] Le vieux plain barbe1) sous l’estatut3) seuere2),
[2] A Lyon fait dessus l’Aigle Celtique4):
[3] Le petit grand trop outre perseuere5):
[4] Bruit d’arme au ciel: mer rouge Lygustique6):

[1] Der Alte mit dem Vollbart1) unter dem harten2) Statut3)
[2] bringt in Lyon den keltischen Adler4) nach unten.
[3] Der kleine Große verharrt zu lange drüben5).
[4] Waffenlärm am Himmel. Das Ligurische6) Meer [ist] rot [gefärbt].

1) Eigentlich: "Der Alte voller Bart". Die 1557er-Ausgabe aus Budapest/Moskau schreibt fälschlicherweise "plaindre barbe" ([wird den] Bart bemitleiden/beklagen).
2) Oder auch: "strengen".
3) Auch: "Satzung, Gesetz, Regelung" u. a. Die 1557-Ausgabe aus Budapest/Moskau sowie sämtliche 1568er schreiben "le statut".
4) Lies: "französischen Adler". Zum "Adler" vgl. 3/52/3, Anmerkung 4. Die Begriffe "Kelte(n)", "keltisch" usw. tauchen in 1/93/4, 2/69/1, 2/71/3, 2/72/1, 2/85/2, 2/99/3, 3/83/1, 4/4/4, 4/63/1, 4/99/2, 5/1/1, 5/10/1, 5/99/2, 6/3/1, 6/4/1, 6/28/1, 6/53/1 und 6/60/1 auf. Wen bzw. was bezeichnet Nostradamus aber als "Kelten" bzw. "keltisch"? Dass die "Kelten" in den französischen ("gallischen") Bereich gehören, wird in 2/69/1, 2/72 und 3/83/1 deutlich. Interessant ist dabei v. a. 3/83/1. Unser Seher spricht hier von den "langen Haaren" bzw. den Langhaarigen des keltischen Galliens. Es scheint bei ihm also ein keltisches und demzufolge wohl auch ein nichtkeltisches Gallien zu geben. Die "langen Haare" verweisen dabei auf das lat. Gallia Comata ("Langhaariges Gallien"), das bei den Römern das Gallien außerhalb der Provincia Narbonensis bezeichnete. Die Gallia Comata umfasste das heutige Frankreich (außer Süd- und Südostfrankreich vom Raum Toulouse bis Genf) sowie das gesamte linksrheinische Gebiet von den südlichen Niederlanden bis in die Schweiz. Mit den "Kelten" sind bei Nostradamus somit Franzosen oder Französischsprachige gemeint, die nicht aus der alten Provincia Narbonensis stammen. Dabei ist es nicht zwingend, dass das Land der Kelten mit der gesamten Gallia Comata identisch ist, es ist jedoch mindestens Teil derselben. So ist z. B. das deutsche Rheinland zwar Teil der Gallia Comata aber nicht Teil des Keltenlandes. Etwas unlogisch ist dabei allerdings die Bezeichnung des Rheins in 6/4/1. Obwohl der Rhein zur Zeit des Nostradamus noch weit von der französischen ("keltischen") Staats- oder Sprachgrenze entfernt war, nennt ihn Nostradamus den "keltischen Fluss". Eigentlich wäre "Fluss des Langhaarigen Galliens" in seiner Zeit richtiger gewesen.
5) Unklar. Es kann sein, dass der "kleine Große" - oder auch: "große Kleine" - hier zu lange (oder zu weit) weg ist oder dass er zu sehr auf etwas beharrt, vgl. CLÉBERT, S. 323.
6) Lat. "ligusticus" (ligurisch). Hier ist der Teil des Mittelmeeres zwischen Korsika und der französisch-italienischen Riviera gemeint.
Ein neuer, italienischer "Aistulf" wird den französischen "Adler" in Lyon (oder in einem Ort in Italien?) nach unten bringen. Ein neuer französischer "Pippin der Kurze" wird zu lange irgendwo anders verharren. "Am Himmel" ist Waffenlärm zu hören, und das Ligurische Meer wird rot gefärbt sein.

In der zweiten Zeile erfahren wir, dass der französische "Adler" in Lyon einen Rückschlag oder eine Niederlage wird hinnehmen müssen. Das ist eine Parallele zu 3/52/3f. In 2/85 erfahren wir auch, wer ihm zusetzt: ein Alter mit Vollbart, der unter einem strengen Statut/Gesetz steht.

8/9/4 ist zu entnehmen, dass Rom und Venedig wegen des "Bartes" einen schrecklichen Schrei ausstoßen, wenn "Adler" und "Hahn" in Savona sein werden. Doch welche Macht könnte der Bart bzw. Vollbart vertreten oder anführen? "Vollbart", "langer Bart" lässt sich mit lat. "longa barba" übertragen. Als "Langbärte" lässt sich der Name der Langobarden deuten (lat. langobardi - "longibarbi",  vgl. DIACONUS, Historia 1,8). Im siebten und achten Jahrhundert beherrschten die Langobarden von ihrer Hauptstadt Pavia aus große Teile Italiens, v. a. den Norden. Mit dem "Vollbart" könnte also ein Neo-Langobarde gemeint sein.

Sollte diese Vermutung zutreffen, stellte sich die Frage, welchen Langobardenherrscher der Vergangenheit unser Seher als historisches Vorbild im Auge gehabt haben könnte. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Erwähnung des "kleinen Großen" aus Zeile drei. Mit Blick auf die Langobarden könnte hier Pippin der Kurze (franz. Pépin le Bref, lat. Pip(p)inus Iunior oder Brevis) gemeint sein, der von 751-768 die Franken als König beherrschte. In der Regierungszeit des historischen Pippins gab es drei langobardische Könige: Aistulf (749-756), Ratchis (756-757) und Desiderius (757-774). Am interessantesten dabei ist Aistulf.

Aistulf kämpfte mit Byzanz um die Vorherrschaft in Italien. Dort unterstanden Rom und Venedig noch immer den Byzantinern. Als der Langobardenherrscher Rom immer mehr bedrohte, wandten sich die Päpste mit der Bitte um Hilfe aus verschiedenen Gründen jedoch nicht an die Oströmer sondern an die katholischen Franken.

Der Frankenherrscher Pippin der Kurze marschierte als Reaktion darauf zwei Mal nach Italien und besiegte Aistulf (754/756). Der Langobardenherrscher musste schließlich die fränkische Oberhoheit anerkennen, jährlichen Tribut an die Franken entrichten und zuvor besetzte römische und byzantinische Gebiete in der Pippinischen Schenkung dem Papst übergeben.

Falls, wie ich vermute, dem "Alten mit dem Vollbart" der Langobardenkönig Aistulf als historisches Vorbild zugrunde liegt, entspricht das "harte Statut" der Pippinischen Schenkung bzw. dem Friedensabkommen mit den Franken, die den historischen Aistulf nicht nur jährliche Tributzahlungen sondern große Gebiete in Mittelitalien kosteten.

Gemäß 2/85/1f. würde also ein neuer und wohl italienischer "Aistulf" in Lyon den französischen "Adler" besiegen oder in die Defensive drängen ("nach unten bringen"), was zum "in äußerste Gefahr bringen" aus 3/52/4 passt. Der historische Aistulf stieß allerdings nicht ins heutige Frankreich vor sondern blieb in Italien. Somit ist es wenigstens denkbar, dass mit Lyon ("Löwe") hier ein Ort in Italien gemeint sein könnte. Als Kandidaten dafür infrage kämen u. a. das lombardische Leno (lat. "Leonis locus" = "Ort des Löwen"), etwa 18 km südlich von Brescia; das ebenfalls lombardische Castelleone ("Kastell Löwe"), etwa 27 km nordwestlich von Cremona oder San Leo (lat. "Sanctus Leo" = "Heiliger Leo/Löwe"), etwa 10 km südwestlich von San Marino.

In 3/52/3 erfahren wir, dass der französische "Hahn" den französischen "Adler" in dessen misslicher Lage "sehen" wird. Von einer etwaigen Hilfeleistung lesen wir aber nichts. Doch warum? In diesem Zusammenhang ist 2/85/3 interessant. Es scheint, als dass der "kleine Große" (ein neuer "Pippin der Kurze"?) zu lange "drüben" verharrt. Sollten der "Hahn" und der neue "Pippin der Kurze" ein und dieselbe Person sein? Ist dieses "zu lange drüben verrharren" der Grund, weshalb keine Hilfe geleistet wird? Und wo ist "drüben"? Hier könnte gemeint sein, dass "Pippin der Kurze" sich (von Lyon aus gesehen) jenseits der Westalpen, also in Italien aufhält und deswegen nicht helfend eingreifen kann. Oder umgekehrt - falls "Lyon" ein Ort in Italien sein sollte, vgl. oben - der "Adler" ist in Italien in Schwierigkeiten aber "Pippin" steht in Frankreich.

In der vierten Zeile von 2/85 ist von Waffenlärm am Himmel die Rede (vgl. 5.133: 1/64/3). Das erinnert wieder an die Vorzeichen, die wir bei OBSEQUENS finden. In Kapitel 43 tauchen dort am Himmel kämpfende Waffen auf, solche von Osten und solche von Westen. Dabei tragen anscheinend die Waffen aus dem Westen den Sieg davon.

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Leere Karte: https://d-maps.com/carte.php?num_car=30130&lang=de (Abgerufen am 05.06.2019). Bearbeitet von Jean-Claude Pfändler am 05.06.2019.

Der "Waffenlärm am Himmel" erinnert den modernen Leser natürlich zuerst an eine Luftschlacht. Doch für den "Himmel" gäbe es auch Identifizierungsmöglichkeiten am Boden. "Coele", dt. Koilesyrien (vgl. die Ähnlichkeit zum lat. "caelum, coelum" = Himmel) ist der lateinische Name eines Gebietes im Nahen Osten zwischen dem Libanon und dem Antilibanon mit der Stadt Baalbek. Möglich wäre weiter, dass Nostradamus an das griech. "olympos" gedacht hat, das auch "Himmel" bedeutet. Der Berg Olymp befindet sich im nordöstlichen Griechenland. Es gab in der Antike allerdings noch weitere Berge, die den Namen des Göttersitzes trugen, etwa den Olympos auf Zypern oder den bithynischen Olymp (Olympos Misios), den heutigen Uludag beim nordwesttürkischen Bursa. Sogar in der Provence gibt es einen Olymp, den Mont Olympe bei Trets (ca. 21 km südöstlich von Aix-en-Provence). Die antike Stadt Olympos wäre das heutige Deliktas (etwa 70 km südlich von Antalya).

2/85/4 ist weiter zu entnehmen, dass das Ligurische Meer (wohl von Blut) rot gefärbt sein wird. Das deutet auf eine kriegerische Auseinandersetzung zur See hin. Doch wer kämpft hier gegen wen? Interessant ist, dass der Mont Olympe nicht weit vom Ligurischen Meer entfernt liegt. Die Kämpfe "am Himmel" und zur See könnten also zu ein und derselben Auseinandersetzung gehören. Gemäß 1/75 wird der Tyrann von Siena die ligurische Hafenstadt Savona besetzen. Gehört diese Besetzung zum Krieg in und um das Ligurische Meer?


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