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Die Hoffnung stirbt am letzten Tag

Diagnose Hirntumor

Kapitel 1:  Erste Symptome
Ende März
​Es war Ende März 2019. Eine Strasse in der 30er-Zone. Werner fuhr gerne etwas zu schnell und ich musste ihn oft darauf ansprechen. Doch diesmal war es anders. Er reagierte überhaupt nicht, fuhr nicht langsamer.  Ein Auto kam uns entgegen. Auf der rechten Seite standen parkierte Autos. Es wurde eng. Wir fuhren mit einem grossen Kastenwagen. Ich schrie: Was machst du? Er fuhr ohne anzuhalten und kreuzte mit dem entgegenkommenden Personenwagen neben den parkierten Autos. Es waren Millimeter und wir hätten die Autos gestreift. "Ich kenn dich nicht mehr.", rutschte mir heraus. So was hatte ich noch nie gesagt. Und wir waren ja schon 38 Jahre zusammen. Aber wahrscheinlich war das mein unbewusster Eindruck, dass er nicht mehr sich selbst war.

Erst später wurde mir klar, dass er nicht reagieren konnte. Der Befehl des Hirns, dass er bremsen oder anhalten soll, kam nicht zum rechten Fuss.

Doch so schnell wurde das noch nicht klar. Werner sprach nicht über den Vorfall. Für mich war es unverständlich. Einem Kollegen, mit dem Werner manchmal unterwegs war, erzählte ich die Geschichte. Er meinte, Werner hätte sich beim Autofahren verschlechtert. Klar, er war ja im Januar schon 80 Jahre geworden. Doch den Test für das Autofahren hatte er erst gerade glänzend bestanden.

Immer mittwochs früh fuhren wir zusammen zum CC. Wir machten den Einkauf für unsere Gemeinschaft, wo wir auch seit vielen Jahren zusammen kochten. Diesmal achtete ich natürlich auf seine Fahrweise. Unser Kastenwagen war schon alt und man konnte ihn nicht mehr reparieren. Das nächste Vorführen in der Strassenverkehrskontrolle würde er nicht bestehen. Man hatte ihn provisorisch noch so hergerichtet, dass er bis dann noch benutzt werden konnte. Doch der Motor starb in der ersten Minute ab, wenn man nicht dauernd das Gaspedal drückte.

Auf einer geraden Strecke hielt er plötzlich an. Ich fragte, warum hältst du an? Danach fuhr er wieder weiter. Ich hatte irgendwie schon das Gefühl, dass da was nicht stimmt. Aber Werner hatte lauter Entschuldigungen. Es lag am Auto, an den Schuhen, der Sitz war verändert worden und nun zu nah an den Pedalen.

Eine Woche später wurde es schlimmer. Er verwechselte das Gaspedal mit dem Bremspedal. Das war ja weniger gefährlich wie umgekehrt. Aber es war doch nicht normal. Ich drängte ihn, dass er seinen Hausarzt aufsuchen sollte.  Doch er wollte nicht. Vielleicht hatte er Angst vor der Diagnose.

Ich fragte meine Schwester Tanja, ob sie ihn am Montag begleiten würde. Normalerweise fuhr Werner montags alleine zum Einkauf in die Migros. Sie sagte zu und meinte danach, die Fahrt sei schon etwas unruhig gewesen, aber das Auto wäre ja auch kompliziert zu fahren. Sein Fuss wäre mal neben dem Gaspedal gewesen und er hätte gedacht, dass er auf ihm wäre.

Wieder kam der Mittwoch. Es war offensichtlich, dass es immer schlimmer wurde. Beim Heimweg fuhr Werner wie ein Fahranfänger. Der Wagen sprang immer nach vorne, weil das Gefühl für Kupplung und Gas nicht mehr stimmte. Ich schrie nur noch: "Halt Abstand!" Hoffentlich kommen wir ohne Unfall nach Hause, so dachte ich.

Zu Hause machte ich ihm klar, dass es so nicht weitergeht. Er dürfe nicht mehr Auto fahren. Ich glaube, ihm war es nun auch klar, dass was nicht stimmte. Aber zugeben wollte er es nicht. Wieder drängte ich ihn, dass er seinen Hausarzt aufsuchen sollte.  

Irgendwann in den nächsten Tagen zeigte er mir eine Schriftprobe. Werner hatte immer eine sehr schöne Handschrift, doch nun war die Schrift ziemlich krakelig. Ausserdem merkte ich an seiner Gangart, dass er Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht beim Gehen hatte.

Dies musste auch Werner zu schaffen gemacht haben, so dass er am kommenden Montag doch den Hausarzt anrief. Er tat es jedoch nur, weil er nun plötzlich der Überzeugung war, dass die Probleme vom Rücken kämen, wo er manchmal Schmerzen hatte.  Im Gehirn sei alles in Ordnung, beschwichtigte er mich oder besser sich selbst immer wieder. Den Termin bekam er für den darauffolgenden Mittwoch, den 17. April, um 10.00 Uhr. Am Montag davor war noch ein Termin beim Friseur und jemand musste ihn fahren. Aber es war offensichtlich, dass er nervös war. Diese Unsicherheit, was der Grund für diese Koordinationsstörungen sein könnte, machte ihm zu schaffen. Wir mussten auch besprechen, wer nun die Fahrten für den Einkauf übernehmen könnte und ob wir den Einkauf eventuell auch online bestellen könnten. Werner war absolut dagegen und als jemand meinte, er müsse mit der Zeit gehen, wurde er wütend. Es war ihm wichtig, dass er weiter zum Einkauf konnte. Er brauchte nur einen Fahrer.