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Die Hoffnung stirbt am letzten Tag

Diagnose Hirntumor

Kapitel 11:  Denken
27. Mai
​Unsere gemeinsame Tochter und ich haben uns schon früher manchmal etwas lustig gemacht über die Logik von Werner. Wer weiss, wie lange der Tumor schon da war und sich auf sein Denken ausgewirkt hatte. Doch nun wurde es auffallend grotesk. Er behauptete Dinge, die so völlig daneben waren, und dies mit einer Sturheit, die zwar schon immer zu seiner Charaktereigenschaft zählte, aber nun umso stärker sich auswirkte.

Es ging darum, dass Tanja die Buchhaltung für unsere Gemeinschaft übernehmen sollte, da wir ja sahen, dass er in Zukunft dazu nicht mehr in der Lage sein würde. Also installierte meine Schwester die Software von der Original-CD auf ihrem Laptop.

Doch Werner behauptete, dass nun auch alle Daten auf ihrem Laptop seien. Als ehemalige Lehrerin hatte ich den Drang, ihn davon zu überzeugen, dass seine Behauptungen unlogisch seien. So fragte ich ihn, wie denn die Daten auf den Laptop hätten übertragen werden können. Er konnte die Frage natürlich nicht beantworten, weshalb er wütend wurde.

„Du kommst doch gar nicht draus, was die Buchhaltung betrifft“, schrie er mich an.

„Aber ich kenne mich mit dem Computer aus“, entgegnete ich ebenfalls verärgert.

Ich konnte zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, wie ich mit seiner Krankheit umzugehen hatte. Keiner hatte mir das erklärt. Ich merkte nun aber, dass ich ihn nicht korrigieren oder mit Fragen in die Enge treiben durfte. Damit machte ich ihn nur aggressiv.

Dieser Tag war für mich meine erste persönliche Krise mit der Krankheit  von Werner. Es wurde mir bewusst, dass sein Denken nicht mehr funktionierte und ich hatte das Gefühl, dass ich ihn nun verloren hatte. Der Mann, mit dem ich seit 38 Jahren zusammen lebte und arbeitete, war nicht mehr da. Mit dem traurigen Bewusstsein, dass ich nie mehr normale und tiefgründige Gespräche mit ihm führen werden kann, weinte ich mich am Abend in den Schlaf.  

Für mich war Werner an diesem Tag gestorben.