Am anderen Tag erwartete ich, dass es so friedlich weiterging. Doch bei dieser Krankheit gibt es gute und schlechte Phasen und die wechseln sich fast stündlich ab. Um 6 Uhr morgens, wenn sein Wecker klingelte, nahm er ein Xarelto, eine Filmtablette, die dafür sorgte, dass der Magen von den Medikamenten etwas geschont wurde. Um halb sieben brache ich ihm dann einen Tee und eine Banane ans Bett. Danach stand er auf, ging ins Wohnzimmer und nahm dort seine Medikamente, die er immer schon am Abend vorher bereitlegte. Vor allem wegen dem Cortison war sein Gesicht schon etwas aufgedunsen.
An diesem Morgen war er nun völlig verwirrt. Er
fragte mich:
„Was passiert heute? Wann geht es weiter mit dem
Arzt?“
Er wusste die Termine nicht mehr. Ich fühlte eine leichte Verzweiflung. Normalerweise hatte er totale Kontrolle über alle seine Termine. Auch war er wahrscheinlich in einer leichten Panik, weil es so gar nicht vorwärts ging mit der Behandlung. Seit der Diagnose waren nun schon 7 Wochen vergangen ohne dass etwas gegen den Hirntumor unternommen wurde. Das Cortison war das einzige, was zumindest dafür sorgte, dass der Hirndruck nicht zunahm.
Werner war noch zuständig für eine ältere Frau,
die in einem
Heim lebte. Da sie Deutsche war, musste sie alle paar Jahre ihren
Ausländerausweis erneuern. Tanja fuhr also mit Werner zum Heim, um sie
abzuholen und mit ihr zusammen auf die Einwohnerkontrolle zu gehen.
Dort gab es
Probleme, weil sie keine ID dabei hatte. Werner wollte klar machen,
dass sie keine ID mehr habe, da die alte Frau ja nicht mehr ins Ausland
gehe. Sie hätte ja den Ausländerausweis. Da er jedoch dauernd die
Wörter
verwechselte, war es für die Beamten dort nicht nachvollziehbar und es
wurde abgemacht,
dass sie mit der ID wieder kommen würden.
Diese ID wurde jedoch nicht gefunden. Wir waren
uns nicht
klar, ob sie im Heim oder bei Werner war und ob sie überhaupt noch da
war. Im
Heim fanden sie sie jedenfalls nicht. Wir hätten eine neue ID
beantragen müssen
und dies hätte länger gedauert als die Frist, die gegeben war für die
Erneuerung des Ausländerausweises.
Etwa 3 Tage später, an dem Tag, an dem die Frist
ablief, sagte Werner morgens ganz
bestimmt:
„Ich gehe heute alleine auf die
Einwohnerkontrolle.“
Natürlich konnte er nicht
alleine in die
Stadt gehen, aber wir liessen ihn bei der Einwohnerkontrolle aussteigen
und
alleine hineingehen. Nach einer halben Stunde wollten wir ihn wieder
abholen.
Wir trafen ihn an bei einer verzweifelten Suche nach seinem
Portemonnaie. Er
hätte überall geschaut und gefragt und niemand hätte es gesehen. Doch
dann kam
eine Beamtin und meinte, er hätte das Portemonnaie am Schalter liegen
gelassen.
Werner fand die ganze Situation paradox.
„Da kommen sie plötzlich mit
meinem
Portemonnaie daher, wo ich doch alles danach abgesucht hatte.“
Ich fand im Portemonnaie dann eine Quittung für die Erneuerung des Ausländerausweises. Er hatte also Recht behalten und brauchte keine ID dazu.
Abends führten wir wieder ein klares Gespräch. Er
sprach
davon, wie er sich in den letzten Tagen gefühlt hatte, weil wir ihm
nicht
geglaubt hätten. Es wäre wie damals gewesen vor einigen Jahren. Damals
besuchte
er jemanden in der Psychiatrie. Beim Verlassen der geschlossenen
Abteilung
hatte er noch was vergessen und ging wieder rein. Doch wie es so ist in
einer
geschlossenen Abteilung, da kommt man
nicht mehr von alleine wieder raus. Er hatte alle Mühe, den
Pflegern
klar zu machen, dass er nur ein Besucher war und kein Insasse. So hätte
er sich
nun auch gefühlt.
Ich entschuldigte mich bei ihm. Er hätte Recht
gehabt und
wir hätten ihm glauben sollen. Doch ich sagte auch, dass es für uns
nicht
einfach sei, da er manchmal auch verwirrt sei oder vergesslich. Er
konnte das
nicht nachvollziehen. Beim Beispiel mit dem Portemonnaie gab er den
Beamten die
Schuld. Von der Salatschüssel, die er nicht mehr gefunden habe, wusste
er
nichts oder wollte es nicht mehr wissen.