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Die Hoffnung stirbt am letzten Tag

Diagnose Hirntumor

Kapitel 16: Wutausbruch
9. Juni

Das Duschen wurde nun allmählich zum Problem. Er musste sich beim Aussteigen aus dem Becken festhalten, doch die Vorhangstange war dafür natürlich nicht geeignet. Er brauchte unbedingt Duschhilfen. Solange keine vorhanden waren, wollte ich kein Risiko mehr eingehen und wir stellten das Duschen vorläufig ein. Werner wollte sowieso nicht duschen. Wahrscheinlich war es auch ihm zu gefährlich.

Bill anerbot sich, ihm eine Griffstange zu montieren. Doch Werner wollte eine Griffstange, an dem gleichzeitig der Duschvorhang befestigt war. Es gab wiedermal Missverständnisse, weil Werner sich nicht klar ausdrücken konnte und uns und sich mit Duschstange und Vorhang verwirrte, weil er immer wieder die Begriffe vertauschte. Einen Stuhl, um in der Dusche zu sitzen, wollte er nicht. Meine Argumente, dass er sich nicht gleichzeitig festhalten und einseifen könne, verstand er nicht. Wiedermal fühlte er sich unverstanden und wurde aggressiv. Bill machte sich auf die Suche nach der gewünschten Duschstange. Er hatte Glück und fand so eine. Es war aber schon zu spät, um sie noch zu  montieren. Am nächsten Tag war Pfingstsonntag.

Es wurde der schlimmste Pfingstsonntag meines bisherigen Lebens. Schon am morgen früh griff Werner mich an. Ich erzählte ihm eigentlich nur, dass Bill die Duschstange gekauft hätte, aber sie heute noch nicht montieren könne, weil Pfingsten sei. Nun wurde er wieder wütend. Wir hätten einfach über seinen Kopf hinweg entschieden und die Stange gekauft. Er hätte noch warten sollen. Ich versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen, um ihn nicht noch mehr aufzuregen. Doch dies bemerkte er auch und hatte einen furchtbaren Wutausbruch. Unter anderem schrie er: „Ihr behandelt mich wie einen Vollidioten! Er haue ab.“ Den ganzen Morgen brachte er mich immer wieder zum Weinen, so dass ich schliesslich nicht zum Mittagessen ging. Werner sass ohne mich an seinem Platz und als die Leute nach mir fragten, zuckte er nur mit den Schultern. Die Pizza im Ofen nahm niemand heraus. Zum Glück war der Ofen nicht mehr an, sonst wäre sie verbrannt. Nach einer Viertelstunde kam dann jemand zu unserer Wohnung hinauf und fragte mich, ob sie die Pizza rausnehmen könnten.  Werner sass völlig teilnahmslos am Tisch, als ob ihn das überhaupt nichts anging.

Am Nachmittag kamen plötzlich Peter und seine Frau zu Besuch. Ich konnte sie noch abfangen und erklärte die Situation. Es war mir unmöglich, jetzt mit ihnen und Werner Kaffee zu trinken und so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Sie verstanden es sofort und wir vereinbarten, dass sie am anderen Tag, am Pfingstmontag, wieder kommen würden.

Später kam dann unsere Tochter. Eigentlich hätten wir zu dritt Fussball im Fernsehen anschauen wollen. Doch ich hatte Regula zuvor über die momentane aggressive Stimmung informiert und bat sie, mit ihren Vater zu reden. Regula war als Schulsozialarbeiterin darin geschult, mit schwierigen Situationen und Menschen umzugehen. Ich liess sie dann extra alleine und sie hörte ihm einfach mal zu, als er über mich schimpfte. Er war immer noch sehr aufgebracht und fühlte sich einfach unverstanden.  Aber Regula konnte das Ganze dann etwas beruhigen. Später brachte sie ihn dann dazu, genauer zu sagen, was er wollte. Sie markierte dann mit einem Stift an der Duschwand, wo genau die Duschstange eingebaut werden sollte.

Für mich war jedenfalls von diesem Tag an klar, dass ich mir nie mehr Hoffnungen machen würde, wenn es ihm  mal besser ginge. 

"Es kommt immer wieder und mit doppelter Wucht zurück und dann bin ich umso enttäuschter", sagte ich zu meiner Schwester.

Abends kam noch ein Besuch für Werner. Ich war nicht dabei. Aber die Besucher teilten mir mit, wie es gewesen war. Werner hatte erzählt, dass er letztes Mal noch einen Vortrag gehalten habe und genau danach hätte es mit dem Tumor angefangen.

Dies stimmte ja überhaupt nicht.

Weiter berichtete er, dass es noch 20 Tage seien bis zum nächsten Vortrag und er hätte noch kein Wort beisammen. Er wisse nicht, ob er den nächsten Vortrag halten könne.

Dies zeigte, dass er sich bewusst war, dass er mit dem Denken und Schreiben Schwierigkeiten hatte und er sich darüber auch Sorgen machte. Der Besuch befand jedoch Werners Verhalten normal. Solange man ihm nicht etwas erklären musste oder er missverstanden wurde, schien er für Aussenstehende natürlich normal. Aber Werner erzählte viele Sachen, die überhaupt nicht stimmten. Er wusste einfach nicht mehr, wie es wirklich gewesen war.

Ich merkte, dass er Mühe hatte, etwas zu erklären und dann wütend wurde, wenn wir es nicht verstanden. Er verstand unsere Erklärungen auch oft nicht. Er vergass auch, was man am Vortag besprochen hatte. Ich war mir auch nicht sicher, ob er TV und Radio noch verstand, denn es gab Null Kommentare.

Am Pfingstmontag kamen dann wie abgemacht sein Sohn Peter mit Familie und unsere Tochter Regula zu einem Kaffee am Nachmittag. Werner sprach fast nichts, obwohl er sonst immer sehr gesprächig war. Während wir in der Gemeinschaftsküche sassen, wurde bei uns drüben die Duschstange montiert.