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Die Hoffnung stirbt am letzten Tag

Diagnose Hirntumor

Kapitel 3:  Zwei Jahre zuvor
Juli 2017

​Ein Sonntagnachmittag im Juli. Ich fragte Werner, ob wir einen Spaziergang machen wollten. Es war an diesem Tag nicht so heiss. Er meinte, dass es ihm eigentlich heute Morgen nicht so gut ginge, aber vielleicht wäre ja ein Spaziergang das Richtige. Werner hatte einen angeborenen Herzfehler, den man erst ein Jahr zuvor erkannt hatte und musste entsprechende Medikamente nehmen. In letzter Zeit hatte er vermehrt mit dem Atmen Mühe und da wir an einer Steigung wohnten, kam er beim Spazieren schon gleich am Anfang etwas ausser Atem, obwohl er seine Wanderstöcke benutze.


Diesmal war es jedoch besonders schlimm. Gleich zu Beginn blieb er schon stehen und musste Luft holen. Nach ein paar weiteren Schritten hielt er sich an einem Gartenzaun fest. „Das hat doch keinen Sinn.“, meinte ich, „Gehen wir wieder zurück!“. Doch Werner konnte gar nichts mehr. „Willst du dich nicht hinsetzen?“ Ich hielt ihn am Arm, da ich befürchtete, dass er fallen könnte. „Auf den Boden? Nein!“ Er wollte nicht. Aber ich wusste, dass ich ihn nicht halten könnte, wenn er fallen würde. Er war um die 90 kg schwer. Doch Werner war schon immer ziemlich stur. Und sich auf den Asphalt zu setzen war vielleicht ein Eingeständnis, dass es ihm sehr schlecht ging.


Es kam wie es kommen musste. Er liess sich plötzlich fallen. Ich versuchte, den Fall zu mildern. Doch die letzten ca. 20 cm musste ich ihn fallen lassen. Er war ohnmächtig und seine Finger verkrampften sich um den Stock. Ich versuchte die Finger vom Stock zu lösen, damit er nicht in einer so unnatürlichen Körperhaltung dalag. Das Handy, das er zum Glück immer mitnahm auf unsere Spaziergänge, war beim Sturz aus seiner Jacke gefallen. Ich nahm es in die Hand und wollte eben den Notruf wählen. Da kam Werner wieder zu sich und meinte entrüstet: „Du wirst doch jetzt wohl nicht die Ambulanz wählen.“ „Natürlich!“, erwiderte ich. „Das ist viel zu teuer!“ regte er sich auf. Ich hatte zu einem früheren Zeitpunkt schon mal die Ambulanz unnötigerweise kommen lassen, was eine hohe Rechnung zur Folge hatte.  „Aber das ist doch jetzt Nebensache.“ Ich sah, dass seine Hose nass war. „Du hast in die Hose gemacht!“ „ Nein, ich habe nur geschwitzt.“


Aus Unsicherheit wählte ich zuerst die Nummer meiner Schwester, die ja nur ein paar Häuser weiter wohnte. Gemeinsam beschlossen wir, dass sie die Ambulanz anrief und dann zum Ort des Geschehens kam, um diese dort einzuweisen, was sie dann auch sofort tat.


Werner liess es nun geschehen, denn er war ja nicht in der Lage, wieder aufzustehen. Ein Auto fuhr die schmale Strasse an uns vorbei. Eine ältere Frau sass am Steuer. Sie wohnte gleich im Haus nebenan. Sie kam mit einem Kissen, um Werner den Kopf weicher zu platzieren.

Inzwischen war meine Schwester Tanja da. Das beruhigte mich schon etwas. Die Sirenen hörten wir auch schon bald und innert 10 Minuten war die Ambulanz da. Ein Mann und eine Frau. Sie kümmerten sich sofort um ihn und alles Nötige wurde gefragt und getestet. Sie wollten wissen, welche Medikamente er nimmt. Tanja holte aus unserer Wohnung seine Brieftasche mit seinem Ausweis und der Versicherungskarte.


Dann versuchte die Sanitäterin mit meiner Hilfe, Werner auf die Beine zu stellen, um ihn anschliessend auf die Trage zu legen. Er lag kaum drauf, wurde es ihm schlecht. Sie stellten das Kopfteil höher.


Plötzlich wurde es hektisch. Die Sanitäterin rannte zu Werner, stellte das Kopfteil wieder runter und begann ihn zu reanimieren. Meine Schwester und ich schauten einander entsetzt an. Ich stellte mich an das Ende der Trage und streichelte seinen Kopf, während die Sanitäterin Schwerstarbeit verrichtete. Ich wusste gar nicht, dass der Brustkorb sich so voller Luft ansammelt und diese bei der Reanimation wieder rausgepresst werden musste. Über zwei Minuten ging es, bis Werner wieder zurück war. „Reden Sie mit ihm, damit er bei uns bleibt!“ sagte die Sanitäterin. Der andere Sanitäter hatte unterdessen den Notarzt alarmiert, der bald darauf mit dem Notarztauto eintraf.


Nachdem Werner wieder stabil war, wurde er mit der Trage in den Krankenwagen geschoben. Obwohl sich alle eigentlich auf sein Herz konzentrierten, informierte ich sie noch spontan darüber, dass Werner vor über 10 Jahren einmal eine Lungenembolie hatte, deren Ursache nie geklärt worden war. Die Tests damals ergaben, dass keine entsprechende Veranlagung vorlag, so dass er kein Dauerrezept für Blutverdünner erhielt.


Als seine Lebenspartnerin durfte ich vorne einsteigen und mitfahren. Mit Sirenenalarm ging es die Strasse hinunter, durch die Stadt, bis zum Kantonsspital. Auf der Fahrt dankte ich dem Fahrer: „Sie haben ihm das Leben gerettet.“ Er entgegnete: „Nein, das haben sie getan, weil sie uns alarmiert haben.“


Im Spital angekommen, brachten sie ihn direkt in den Schockraum. Ein Arzt erklärte mir, ich müsste im Wartebereich bleiben und sie würden sich sofort melden, wenn sie mehr wüssten. Ausserdem sollte ich alle Personalien am Empfang angeben und diverse Papiere ausfüllen.


Etwa eine halbe Stunde später kam eine Ärztin und klärte mich darüber auf, dass Werner wieder eine Lungenembolie erlitten hatte, eine doppelseitige. „Kann ich zu ihm?“, fragte ich. Sie bejahte und führte mich in den Schockraum. Dort lag Werner nun wieder ansprechbar. Er erzählte mir:“ Ich habe für etwas Chaos im Schockraum gesorgt. Ich musste plötzlich erbrechen“. Es war ihm etwas peinlich. Ich meinte: „ Die haben hier bestimmt schon Schlimmeres erlebt“. Die Sanitäterin, die ihn reanimiert hatte, verabschiedete sich von uns. Ich klärte Werner darüber auf, dass sie diejenige war, die ihn ins Leben zurückgeholt hätte und bedankte mich bei ihr. Werner reagierte nicht. Ich glaube, er war sich gar nicht bewusst, was da wirklich passiert war.


5 Tage später konnte er nach diversen Untersuchungen wieder nach Hause entlassen werden. Sie hatten die Ursache für die doppelseitige Lungenembolie nicht gefunden. Aber in Zukunft musste er immer Blutverdünner nehmen zur Vorbeugung. Bei der Reanimation wurden ihm zwei Rippen gebrochen, aber das war normal. Eine befreundete Krankenschwester sagte uns später, dass man normalerweise eine doppelseitige Lungenembolie nicht überlebt.