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Die Hoffnung stirbt am letzten Tag

Diagnose Hirntumor

Kapitel 38: Essen
15. Juli

Für das Essen musste Werner vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer. Auch dieser Weg wurde immer beschwerlicher. Die Spitex versuchte natürlich auch, ihn für einen Rollator in der Wohnung zu überzeugen, doch vergeblich. So machte ich Werner den Vorschlag, ein Tischen neben das Bett zu stellen, so dass er nur aufsitzen musste, um zu essen. Er müsste dann nicht mehr ins Wohnzimmer. Das fand Werner wieder total schlecht. Er meinte:

"Deine Schwester macht das hervorragend, bei deinen Ideen bekomme ich Horror."

Das tat weh, obwohl ich ja wusste, dass er es nicht mehr richtig erkennen konnte. Tanja hatte ihn noch nie ins Wohnzimmer begleitet. Mit dem Rollstuhl wäre das auch gar nicht möglich bei unserer Wohnung. Aber er hatte nur das Erfolgserlebnis mit dem Rollstuhl in der Radioonkologie in Erinnerung.

Nachdem zwei Tage keine Bestrahlung war, musste Werner heute wieder die Treppe runter. Es war sehr mühsam, trotzdem jetzt beidseitig ein Geländer war. Wir mussten ihn zu zweit sichern. Wir waren noch etwas früh dran und da das Wetter angenehm war, schob ich ihn mit dem Rollstuhl hinter das Haus in den Schatten, wo wir die Wärme und Stille geniessen konnte. Werner fand es auch schön.

Nach der Bestrahlung fuhren wir mit dem Rollstuhl bis zum Treppenanfang. Doch Werner war der Überzeugung, dass er mit dem Rollstuhl die Treppe hochfahren könne. Er glaubte, dass Tanja ihn das letzte Mal so hochgebracht hatte. Wir konnten ihn nicht vom Gegenteil  überzeugen. Also riefen wir Tanja an und sie erklärte Werner am Telefon, dass er sich da irre und es nicht möglich ist, ihn mit dem Rollstuhl hochzubringen. Er glaubte es immer noch nicht. Tanja musste herkommen. Erst dann hatte er sich seinem Schicksal ergeben und die Treppe in Angriff genommen. Nach drei Stufen war es schon total ausser Atem. Ich fragte mich voller Sorgen, wie das wohl weitergehen würde.

Abends sass er auf dem Stuhl am Tisch im Wohnzimmer zum Essen. Normalerweise setzte er sich anschliessend in den Fernsehsessel. Ich sah, wie er immer wieder versuchte, sich vom Tisch abzustossen. 1,5 Stunden sass er am Tisch und konnte nicht mehr aufstehen. Sein Atem ging stossweise. Ich wollte ihm helfen, doch er nahm meine Hilfe nicht an. Er wolle hier sitzen bleiben, meinte er. Doch beim anschliessenden Fernsehen fielen ihm immer wieder die Augen zu und er kippte fast vom Stuhl. Ich musste schliesslich meine Schwester zu Hilfe rufen, damit wir ihn zusammen ins Bett bringen konnten.

Dies hatte aber den positiven Effekt, dass Werner nun das Tischchen neben dem Bett akzeptierte.