5 Kriterien der Klassifikation von Indikatoren

5.1 Explizitheit

Wie in Kapitel 4 bemerkt, stehen den HörerInnen bei Verstehensschwierigkeiten verschiedene Wege offen, wie sie explizit oder implizit, verbal oder non-verbal, ihr Problem anzeigen können. Wie sehr die Wahl dabei von bewusster Entscheidung beeinflusst wird, lässt sich – wie auch bei den (produktiven) Kommunikationsstrategien – nicht mit Sicherheit sagen. Tatsache ist hingegen, dass die Mittel ziemlich vielfältig sind.

Eine Klassifizierung der Möglichkeiten Verstehensschwierigkeiten zu äussern, steht vor dem Problem, dass die verwendeten Kategorien flexibel und beobachtbar sein sollten. Obwohl der Ansatz vorerst nur deskriptiv ist, soll er doch als Basis für spätere Erklärungsversuche dienen. Trotz der Flexibilität muss eine solche Klassifikation aber Kriterien einführen, an denen die Beispiele gemessen werden können. Als Massstab, der noch nicht zu sehr interpretiert und gleichzeitig beobachtbar ist, ist daher der Grad der Explizitheit des Indikators angemessen. Ein geeignetes Merkmal für eine Klassifizierung ist also, wie ausdrücklich das Problem angegangen wird.

Der grösste Grad an Explizitheit ist dann erreicht, wenn das Problem metasprachlich thematisiert wird. Mit der Thematisierung und der expliziten Formulierung des Problems ist auch ein hoher Grand an Eindeutigkeit erreicht. Die Andeutungen, dass Nichtverstehen stattfindet, werden daher immer mehrdeutiger, je impliziter sie werden. Ein plötzlicher Themawechsel kann auf Nichtverstehen hindeuten, hat möglicherweise aber auch Motivationen, die sich aus dem Thema ergeben.

Auf meine Fragestellung bezogen bedeutet das, dass je konkreter, deutlicher, eindeutiger und thematisierender daher die Indikatoren für Nichtverstehen sind, sie umso expliziter wirken. Je undeutlicher, mehrdeutiger und beiläufiger sie hingegen sind, als desto impliziter werden die Beispiele eingestuft.

5.2 Andere Kriterien

Neben der Explizitheit sind andere Kriterien denkbar, an denen die Beispiele gemessen werden können.

Spezifikation des Verstehensproblems. Bremer unterscheidet z.B. in erster Linie Verstehensprobleme, die "spezifisch angezeigt" werden von "unspezifischen Formen der Problemmanifestation" (1997: 73). Damit illustriert sie die Annahme, dass die HörerInnen ihre Gesprächspartner über die Art (die "Kategorie") des Verstehensproblems informieren wollen. Prototypisches Beispiel hierfür sind Nachfragen, die ein spezielles Wort fokussieren. In ihrem Korpus werden diese mittels Wiederholung des fraglichen Wortes plus Frageintonation verbalisiert. Vgl. folgendes Beispiel aus Bremer (1997: 74):

Beispiel 6 Herr M. (Italiener) und Herr N. (Deutscher)

1 N ((...)) und dann hier das anliegen also sie wollen
2 M anli:gän?
3 N anliegen. Das ist ihr WUNSCH.
4 M aja=ja.

Solche Fälle scheinen wegen der speziellen Stellung, die sie in Bremers Studie einnehmen, in ihrem Korpus besonders häufig zu sein. Auffällig ist hingegen, dass ein solcher Fall in meinem Korpus nur ein einziges Mal auftritt! Das Beispiel sowie die spezifischen Umstände dazu werden Ende des Abschnitts 6.1.1 vorgestellt.

Über die Ursachen dieses Ungleichgewichts kann nur spekuliert werden. Allerdings sind die Voraussetzungen bei den beirpora nicht gleich: Das Korpus des ESF-Projekts, auf das sich Bremer stützt, beinhaltet nur Konstellationen von Nicht-MuttersprachlerInnen - MuttersprachlerInnen, während im vorliegenden Fall nur Nicht-MuttersprachlerInnen miteinander kommunizieren. Auch fehlt in meinem Fall ein allfälliges Machtgefälle, das durch eine Institution entstehen kann. Die GesprächsteilnehmerInnen, von meiner Person abgesehen, sind gleichwertige PartnerInnen, die sich als AsylbewerberInnen in der selben Situation befinden. Im Allgemeinen sind auch andere Methoden der Problemspezifizierung in meinem Korpus eher schlecht vertreten, so dass diese Unterscheidung in meinem Fall als Hauptkriterium nicht sehr aussagekräftig ist.

Einbezug des Gesprächspartners.Neben der Frage, wie sehr die Hörerin mit dem Indikator das spezifische Verstehensproblem zu identifizieren vermag, steht das Interesse, wie sehr sie den Gesprächspartner einbezieht. So stehen Sprechakttypen, die eine Reaktion des Sprechers erfordern – z.B. Nachfragen –, anderen Sprechhandlungen gegenüber, die das Verstehensproblem zu überspielen versuchen oder die das Gegenüber nicht in den Klärungsprozess einbeziehen. Dadurch wird eine Einmischung, das heisst ein Reagieren des Sprechers, zwar bei weitem nicht ausgeschlossen, ist aber unwahrscheinlicher. Eine strikte Kategorisierung nach diesem Kriterium gestaltet sich eher schwierig, da die Gegebenheiten für eine Reaktion des Sprechers unterschiedlich gut beobachtbar sind. Von dem klaren Fall der direkten Frage abgesehen, gestalten sich u.a. Äusserungen des Typs ‚nicht verstanden‘ schwierig: Es ist allgemein ersichtlich, dass für den Sprecher die Verpflichtung, das ‚nicht Verstandene‘ noch einmal neu zu sagen, ziemlich stark ist. Niemand kann sich dieser Forderung nach gleichem Wissensstand entziehen – was im Übrigen auch deutlich aus den Daten hervorgeht. Dennoch ist die Aufforderung zur Klarifikation nur implizit vorhanden. Noch schwieriger wird es, wenn die Hörerin in ihrem Redeschritt ein zentrales Element aus dem vorhergehenden Turn des Sprechers wiederholt. Der Klarifizierungsversuch des Sprechers leitet sich dann nur mehr aus der Einschätzung ab, ob ein Weiterführen der Kommunikation eventuell problematisch ist. Der Sprecher könnte diesen Indikator verhältnismässig leicht übergehen, ohne dass die Hörerin einen Anspruch auf eine Erklärung daraus ableiten kann.

Diese drei Klassifikationskriterien, d.i. Explizitheit, Spezifizierung des Problems und Einbezug des Gesprächspartners, überschneiden sich teilweise. So bedingen sich Explizitheit und Einbezug des Gesprächspartners gegenseitig. Dies führt dazu, dass Beispiele, wo zusammen mit einer hohen Explizitheit auch ein starker Einbezug des Gegenübers deutlich wird, ziemlich häufig sind. Umgekehrt lässt sich kein einziger Fall finden, wo das Problem sehr versteckt angedeutet wird, aber trotzdem mittels Fragen interaktiv gelöst werden soll.

Die drei Achsen stehen deshalb nicht in einem komplementären, sondern in einem Einschliessungsverhältnis. In gewisser Weise scheint die Explizitheit die Voraussetzung für die beiden anderen zu sein, weshalb sie hier als Hauptkriterium den Vorzug erhält.

Bei den impliziten Indikatoren habe ich noch eine weitere Unterscheidung eingeführt, nämlich, ob das Gespräch nach der Verstehensschwierigkeit im gleichen Stil weitergeführt wird, oder ob es zu einem Abbruch kommt.

5.3 Klassifikation der Indikatoren von Nichtverstehen

Zunächst nehme ich eine grobe Unterteilung vor, die explizite und implizite Anzeiger von Nichtverstehen unterscheidet. Bremer et al. (1993: 168) nennen den expliziten Teil "indications of non-understanding", den impliziten Teil hingegen "symptoms of non-understanding". Ich benutze dafür die Termini ‚explizite Anzeiger‘ und ‚implizite Anzeiger‘, respektive ‚explizite Indikatoren‘ und ‚implizite Indikatoren‘. Bei den impliziten Anzeigern unterscheide ich zusätzlich zwischen ‚Ignorieren‘ und ‚Abbrechen‘. Anders als Bremer et al. finde ich einen Antagonismus zwischen ‚absichtlichen Indikatoren‘ und ‚unbewussten Symptomen‘ nicht angebracht. Ich wende den Begriff ‚Indikator‘ auf alle – explizite wie implizite – Anzeiger von Nicht-Verstehen an und betrachte ‚Indikator‘ als mit ‚Anzeiger‘ synonym.

Gruppe

Kategorie

 

Explizite

Anzeiger

 

a. Signalisation von Nichtverstehen
b. Erfragen von Zusatzinformation
c. Wiederholung eines zentralen Elements

 

Implizite

Anzeiger

Ignorieren

d. Zustimmung trotz teilweisem Nichtverstehen
e. Ignorieren und 'normal' weiterfahren – Missverständnis in Kauf nehmen

Abbrechen

f. Themawechsel
g. Lachen
h. Abbruch

Tabelle 7 Indikatoren von Nichtverstehen

Implizite Anzeiger ("Symptome") können nach Bremer et al. mehrere Ursachen haben: Entweder weisen die HörerInnen indirekt auf ihr Verstehensproblem hin, oder die SprecherInnen schliessen von der Antwort auf ein Nichtverstehen:

"Symptoms of NU [=non-understanding; J.M.] are of two types: either the learners convey indirectly that they have an understanding problem or the TLS [=target language speaker; J.M.] infers from the learner’s response that there is a NU." (1993: 168)

Ich denke jedoch nicht, dass diese Unterscheidung sinnvoll ist. Ein Schlussprozess seitens des Sprechers ist bei impliziten, mehrdeutigen Symptomen immer notwendig, hängt also nicht davon ab, wie sehr die Hörerin das ursprünglich im Sinn hatte. Eine interessante Frage ist hingegen, wie sehr die Hörerin dem Sprecher indirekt zu verstehen geben möchte, dass er sich ihrem Wissensstand anpassen solle. Dies bedeutet eine subtile Art, durch Verletzung der Konversationsmaxime der Relevanz (nach Grice 1979: 249) eine Reparatur zu initiieren, ohne explizit um eine Klärung zu bitten. Aus Sicht der Analyse ist jedoch die Absicht ohne deutliche weitere Informationen nicht klar zu bestimmen, weshalb diese Unterscheidung hier wegfällt.

Im nächsten Kapitel werden nun die acht Kategorien (a-h in der Tabelle 7) im Einzelnen mit dazugehörigen Beispielen dargestellt und diskutiert.

 

      

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