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Harry Potter
und der Stein der Weisen
Ein Junge überlebt
Mr. und Mrs. Dursley im Ligusterweg Nummer 4 waren stolz darauf, ganz und gar
normal zu sein, sehr stolz sogar. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sie
könnten sich in eine merkwürdige und geheimnisvolle Geschichte verstricken,
denn mit solchem Unsinn wollten sie nichts zu tun haben. Mr. Dursley war
Direktor einer Firma namens Grunnings, die Bohrmaschinen herstellte. Er war
groß und bullig und hatte fast keinen Hals, dafür aber einen sehr großen
Schnurrbart. Mrs. Dursley war dünn und blond und besaß doppelt so viel Hals,
wie notwendig gewesen wäre, was allerdings sehr nützlich war, denn so konnte
sie den Hals über den Gartenzaun recken und zu den Nachbarn hinüberspähen.
Die Dursleys hatten einen kleinen Sohn namens Dudley und in ihren Augen gab es
nirgendwo einen prächtigeren Jungen. Die Dursleys besaßen alles, was sie
wollten, doch sie hatten auch ein Geheimnis, und dass es jemand aufdecken
könnte, war ihre größte Sorge. Einfach unerträglich wäre es, wenn die Sache
mit den Potters herauskommen würde. Mrs. Potter war die Schwester von Mrs.
Dursley; doch die beiden hatten sich schon seit etlichen Jahren nicht mehr
gesehen. Mrs. Dursley behauptete sogar, dass sie gar keine Schwester hätte,
denn diese und deren Nichtsnutz von einem Mann waren so undursleyhaft, wie man
es sich nur denken konnte. Was würden bloß die Nachbarn sagen, sollten die
Potters eines Tages in ihrer Straße aufkreuzen? Die Dursleys wussten, dass auch
die Potters einen kleinen Sohn hatten, doch den hatten sie nie gesehen. Auch
dieser Junge war ein guter Grund, sich von den Potters fernzuhalten; mit einem
solchen Kind sollte ihr Dudley nicht in Berührung kommen. Als Mr. und Mrs.
Dursley an dem trüben und grauen Dienstag, an dem unsere Geschichte beginnt,
die Augen aufschlugen, war an dem wolkenverhangenen Himmel draußen kein
Vorzeichen der merkwürdigen und geheimnisvollen Dinge zu erkennen, die bald
überall im Land geschehen sollten. Mr. Dursley summte vor sich hin und suchte
sich für die Arbeit seine langweiligste Krawatte aus, und Mrs. Dursley
schwatzte munter vor sich hin, während sie mit dem schreienden Dudley rangelte
und ihn in seinen Hochstuhl zwängte. Keiner von ihnen sah den riesigen Waldkauz
am Fenster vorbeifliegen. Um halb neun griff Mr. Dursley nach der Aktentasche,
gab seiner Frau einen Schmatz auf die Wange und versuchte es auch bei Dudley mit
einem Abschiedskuss. Der ging jedoch daneben, weil Dudley gerade einen Wutanfall
hatte und die Wände mit seinem Haferbrei bewarf. »Kleiner Schlingel«,
gluckste Mr. Dursley, während er nach draußen ging. Er setzte sich in den
Wagen und fuhr rückwärts die Einfahrt zu Nummer 4 hinaus. An der Straßenecke
fiel ihm zum ersten Mal etwas Merkwürdiges auf - eine Katze, die eine
Straßenkarte studierte. Einen Moment war Mr. Dursley nicht klar, was er gesehen
hatte - dann wandte er rasch den Kopf zurück, um noch einmal hinzuschauen. An
der Einbiegung zum Ligusterweg stand eine getigerte Katze, aber eine
Straßenkarte war nicht zu sehen. Woran er nur wieder gedacht hatte! Das musste
eine Sinnestäuschung gewesen sein. Mr. Dursley blinzelte und starrte die Katze
an. Die Katze starrte zurück. Während Mr. Dursley um die Ecke bog und die
Straße entlangfuhr, beobachtete er die Katze im Rückspiegel. Jetzt las sie das
Schild mit dem Namen Ligusterweg - nein, sie blickte auf das
Schild. Katzen konnten weder Karten noch
Schilder lesen. Mr. Dursley gab sich einen kleinen Ruck und verjagte die Katze
aus seinen Gedanken. Während er in Richtung Stadt fuhr, hatte er nur noch den
großen Auftrag für Bohrmaschinen im Sinn, der heute hoffentlich eintreffen
würde. Doch am Stadtrand wurden die Bohrmaschinen von etwas anderem aus seinen
Gedanken verdrängt. Er saß im üblichen morgendlichen Stau fest und konnte
nicht umhin zu bemerken, dass offenbar eine Menge seltsam gekleideter Menschen
unterwegs waren. Menschen in langen und weiten Umhängen. Mr. Dursley konnte
Leute nicht ausstehen, die sich komisch anzogen - wie sich die jungen Leute
herausputzten! Das musste wohl irgendeine dumme neue Mode sein. Er trommelte mit
den Fingern auf das Lenkrad und sein Blick fiel auf eine Ansammlung dieser
merkwürdigen Gestalten nicht weit von ihm. Ganz aufgeregt flüsterten sie
miteinander. Erzürnt stellte Mr. Dursley fest, dass einige von ihnen überhaupt
nicht jung waren; nanu, dieser Mann dort musste älter sein als er und trug
einen smaragdgrünen Umhang! Der hatte vielleicht Nerven! Doch dann fiel Mr.
Dursley plötzlich ein, dass dies wohl eine verrückte Verkleidung sein musste
die Leute sammelten offenbar für irgendetwas ja, so
musste es sein. Die Autoschlange bewegte sich, und ein paar Minuten später fuhr
Mr. Dursley auf den Parkplatz seiner Firma, die Gedanken wieder bei den Bohrern.
In seinem Büro im neunten Stock saß Mr. Dursley immer mit dem Rücken zum
Fenster. Andernfalls wäre es ihm an diesem Morgen schwer gefallen, sich auf die
Bohrer zu konzentrieren. Er bemerkte die Eulen nicht, die am helllichten
Tage vorbeischossen, wohl aber die Leute unten auf der Straße; sie deuteten in
die Lüfte und verfolgten mit offenen Mündern, wie eine Eule nach der andern
über ihre Köpfe hinwegflog. Die meisten von ihnen hatten überhaupt noch nie
eine gesehen, nicht einmal nachts. Mr. Dursley jedoch verbrachte einen ganz
gewöhnlichen, eulenfreien Morgen. Er machte fünf verschiedene Leute zur
Schnecke. Er führte mehrere wichtige Telefongespräche und schrie dabei noch
ein wenig lauter. Bis zur Mittagspause war er glänzender Laune und wollte sich
nun ein wenig die Beine vertreten und beim Bäcker über der Straße einen
Krapfen holen. Die Leute in der merkwürdigen Aufmachung hatte er schon längst
vergessen, doch nun, auf dem Weg zum Bäcker, begegnete er einigen dieser
Gestalten. Im Vorbeigehen warf er ihnen zornige Blicke zu. Er wusste nicht,
warum, aber sie bereiteten ihm Unbehagen. Auch dieses Pack hier tuschelte ganz
aufgeregt, und eine Sammelbüchse war nirgends zu sehen. Auf dem Weg zurück vom
Bäcker, eine Tüte mit einem großen Schokoladenkringel in der Hand, schnappte
er ein paar Worte von ihnen auf. »Die Potters, das stimmt, das hab ich gehört
- ja, ihr Sohn, Harry - « Mr. Dursley blieb wie angewurzelt stehen. Angst
überkam ihn. Er wandte sich nach den Flüsterern um, als ob er ihnen etwas
sagen wollte, besann sich dann aber eines Besseren. Hastig überquerte er die
Straße, stürmte hoch ins Büro, fauchte seine Sekretärin an, er wolle nicht
gestört werden, griff nach dem Telefon und hatte schon fast die Nummer von
daheim gewählt, als er es sich anders überlegte. Er legte den Hörer auf die
Gabel und strich sich über den Schnurrbart. Nein, dachte er, ich bin dumm.
Potter war kein besonders ungewöhnlicher Name. Sicher gab es eine Menge Leute,
die Potter hießen und einen Sohn namens Harry hatten. Nun, da er darüber
nachdachte, war er sich nicht einmal mehr sicher, ob sein Neffe wirklich Harry
hieß. Er hatte den Jungen noch nicht einmal gesehen. Er konnte auch Harvey
heißen. Es hatte keinen Sinn, Mrs. Dursley zu beunruhigen, sie geriet immer so
außer sich, wenn man ihre Schwester auch nur erwähnte. Er machte ihr deswegen
keinen Vorwurf - wenn er eine solche Schwester hätte... Und dennoch,
diese Leute in den Umhängen... An diesem Nachmittag fiel es ihm um einiges
schwerer, seine Gedanken auf die Bohrer zu richten, und als er das Büro um
fünf Uhr verließ, war er immer noch so voller Sorge, dass er beim ersten
Schritt nach draußen gleich mit jemandem zusammenprallte. »Verzeihung«,
grummelte er, als der kleine alte Mann ins Stolpern kam und beinahe hinfiel.
Erst nach ein paar Sekunden bemerkte Mr. Dursley, dass der Mann einen violetten
Umhang trug. Dass er ihn fast umgestoßen hatte, schien ihn gar nicht weiter zu
ärgern. Im Gegenteil, auf seinem Gesicht öffnete sich ein breites Lächeln,
und die Leute, die vorbeigingen, blickten auf, als er mit piepsiger Stimme
sagte: »Heute verzeih ich alles, mein lieber Herr, heute kann mich nichts aus
der Bahn werfen! Freuen wir uns, denn Du-weißt-schon-wer ist endlich von uns
gegangen! Selbst Muggel wie Sie sollten diesen freudigen, freudigen Tag
feiern!« Und der alte Mann umarmte Mr. Dursley ungefähr in Bauchhöhe und ging
von dannen. Mr. Dursley stand da wie angewurzelt. Ein völlig Fremder hatte ihn
umarmt. Auch hatte er ihn wohl einen Muggel genannt, was immer das sein mochte.
Völlig durcheinander eilte er zu seinem Wagen und fuhr nach Hause. Er hoffte,
sich diese Dinge nur einzubilden, und das war neu für ihn, denn von
Einbildungskraft hielt er normalerweise gar nichts. Als er in die Auffahrt von
Nummer 4 einbog, fiel sein Blick als Erstes - und das besserte seine Laune nicht
gerade - auf die getigerte Katze, die er am Morgen schon gesehen hatte. Sie saß
jetzt auf seiner Gartenmauer. Gewiss war es dieselbe Katze; sie hatte dasselbe
Muster um die Augen. »Schhhh!«, zischte Mr. Dursley laut. Die Katze regte sich
nicht. Sie blickte ihn nur aus ernsten Augen an. War so etwas denn normal für
Katzen, fragte sich Mr. Dursley. Er versuchte sich zusammenzureißen und
öffnete die Haustür. Immer noch war
er entschlossen, nichts von alledem seiner Frau zu sagen. Mrs. Dursley hatte
einen netten, gewöhnlichen Tag hinter sich. Beim Abendessen erzählte sie ihm
alles über Frau Nachbarins Probleme mit deren Tochter und dass Dudley ein neues
Wort gelernt hatte (»pfui«). Mr. Dursley versuchte sich ganz wie immer zu
geben. Er brachte Dudley zu Bett und ging dann ins Wohnzimmer, wo er sich das
Neueste in den Abendnachrichten ansah. »Und hier noch eine Meldung. Wie die
Vogelkundler im ganzen Land berichten, haben sich unsere Eulen heute sehr
ungewöhnlich verhalten. Obwohl Eulen normalerweise nachts jagen und tagsüber
kaum gesichtet werden, wurden diese Vögel seit Sonnenaufgang hunderte Male
beobachtet, wie sie kreuz und quer über das Land hinwegflogen. Die Fachleute
können sich nicht erklären, warum die Eulen plötzlich ihre Gewohnheiten
geändert haben.« Der Nachrichtensprecher erlaubte sich ein Grinsen. »Sehr
mysteriös. Und nun zu Jim McGuffin mit dem Wetter. Sind heute Abend noch
weitere Eulenschauer zu erwarten, Jim?« »Nun, Ted«, meinte der Wetteransager,
»das kann ich nicht sagen, aber es sind nicht nur die Eulen, die sich heute
seltsam verhalten haben. Zuschauer aus so entfernten Gegenden wie Kent,
Yorkshire und Dundee haben mich heute angerufen und berichtet, dass anstelle des
Regens, den ich gestern versprochen hatte, ganze Schauer von Sternschnuppen
niedergegangen sind! Vielleicht haben die Leute zu früh Silvester gefeiert -
das ist noch eine Weile hin, meine Damen und Herren! Aber ich kann Ihnen für
heute eine regnerische Nacht versprechen.« Mr. Dursley saß starr wie ein
Eiszapfen in seinem Sessel. Sternschnuppen über ganz Großbritannien? Eulen,
die bei Tage flogen? Allerorten geheimnisvolle Leute in sonderbarer Kleidung?
Und ein Tuscheln, ein Tuscheln über die Potters... Mrs. Dursley kam mit zwei
Tassen Tee ins Wohnzimmer. Es hatte keinen Zweck. Er musste ihr etwas sagen.
Nervös räusperte er sich. »Ahm - Petunia, Liebes - du hast in letzter Zeit
nichts von deiner Schwester gehört, oder?« Wie er
befürchtet hatte, blickte ihn Mrs. Dursley entsetzt und wütend an.
Schließlich taten sie für gewöhnlich so, als hätte sie keine Schwester.
»Nein«, sagte sie scharf. »Warum?« »Komisches Zeug in den Nachrichten«,
murmelte Mr. Dursley. »Eulen... Sternschnuppen... und heute waren eine Menge
komisch aussehender Leute in der Stadt... « »Und?«, fuhr ihn Mrs.
Dursley an. »Nun, ich dachte nur... vielleicht... hat es etwas zu tun mit... du
weißt... ihrem Klüngel.« Mrs. Dursley nippte mit geschürzten Lippen
an ihrem Tee. Konnte er es wagen, ihr zu sagen, dass er den Namen »Potter«
gehört hatte? Nein, das konnte er nicht. Stattdessen bemerkte er so beiläufig,
wie er nur konnte: »Ihr Sohn er wäre ungefähr in Dudleys Alter, oder?« »Ich
nehme an«, sagte Mrs. Dursley steif. »Wie war noch mal sein Name? Howard,
nicht wahr?« »Harry. Ein hässlicher, gewöhnlicher Name, wenn du mich
fragst.« »O ja«, sagte Mr. Dursley, und das Herz rutschte ihm in die Hose.
»Ja, da bin ich ganz deiner Meinung.« Bis es Zeit zum Schlafen war und sie
nach oben gingen, verlor er kein Wort mehr darüber. Während Mrs. Dursley im
Bad war, schlich sich Mr. Dursley zum Schlafzimmerfenster und spähte hinunter
in den Vorgarten. Die Katze war immer noch da. Sie starrte auf den Ligusterweg,
als ob sie auf etwas wartete. Bildete er sich das alles nur ein? Konnte all dies
etwas mit den Potters zu tun haben? Wenn es so war... und wenn herauskäme, dass
sie verwandt waren mit einem Paar von - nein, das würde er einfach nicht
ertragen können. Die Dursleys gingen zu Bett. Mrs. Dursley schlief rasch ein,
doch Mr. Dursley lag wach und wälzte alles noch einmal im Kopf hin und her.
Bevor er einschlief, kam ihm ein letzter, tröstender Gedanke. Selbst wenn die
Potters wirklich mit dieser Geschichte zu tun hatten, gab es keinen Grund, warum
sie bei ihm und Mrs. Dursley auftauchen sollten. Die Potters wussten sehr wohl,
was Petunia von ihnen und ihresgleichen hielt... Er konnte sich nicht denken,
wie er und Petunia in irgendetwas hineingeraten sollten, was dort draußen vor
sich ging - er gähnte und drehte sich auf die Seite, damit würden er und seine
Frau jedenfalls nichts zu tun haben... Wie sehr er sich täuschte. Mr. Dursley
mochte in einen unruhigen Schlaf hinübergeglitten sein, doch die Katze draußen
auf der Mauer zeigte keine Spur von Müdigkeit. Sie saß noch immer da wie eine
Statue, die Augen ohne zu blinzeln auf die weiter entfernte Ecke des
Ligusterwegs gerichtet. Kein Härchen regte sich, als eine Straße weiter eine
Autotür zugeknallt wurde oder als zwei Eulen über ihren Kopf hinwegschwirrten.
In der Tat war es fast Mitternacht, als die Katze sich zum ersten Mal rührte.
An der Ecke, die sie beobachtet hatte, erschien ein Mann, so jäh und lautlos,
als wäre er geradewegs aus dem Boden gewachsen. Der Schwanz der Katze zuckte
und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Einen Mann wie diesen hatte man im
Ligusterweg noch nie gesehen. Er war groß, dünn und sehr alt, jedenfalls der
silbernen Farbe seines Haares und Bartes nach zu schließen, die beide so lang
waren, dass sie in seinem Gürtel steckten. Er trug eine lange Robe, einen
purpurroten Umhang, der den Boden streifte, und Schnallenstiefel mit hohen
Hacken. Seine blauen Augen leuchteten funkelnd hinter den halbmondförmigen
Brillengläsern hervor, und sein Nase war sehr lang und krumm, als ob sie
mindestens zweimal gebrochen wäre. Der Name dieses Mannes war Albus Dumbledore.
Albus Dumbledore schien nicht zu bemerken, dass er soeben in einer Straße
aufgetaucht war, in der alles an ihm, von seinem Namen bis zu seinen Stiefeln,
keineswegs willkommen war. Gedankenverloren durchstöberte er die Taschen seines
Umhangs. Doch offenbar bemerkte er, dass er beobachtet wurde, denn plötzlich
sah er zu der Katze hinüber, die ihn vom andern Ende der Straße her immer noch
anstarrte. Aus irgendeinem Grunde schien ihn der Anblick der Katze zu
belustigen. Er gluckste vergnügt und murmelte: »Ich hätte es wissen
müssen.« In seiner Innentasche hatte er gefunden, wonach er suchte. Es sah aus
wie ein silbernes Feuerzeug. Er ließ den Deckel aufschnappen, hielt es hoch in
die Luft und ließ es knipsen. Mit einem leisen »Plop« ging eine
Straßenlaterne in der Nähe aus. Er knipste noch mal - und die nächste Laterne
flackerte und erlosch. Zwölfmal knipste er mit dem Ausmacher, bis die einzigen
Lichter, die in der ganzen Straße noch zu sehen waren, zwei kleine
Stecknadelköpfe in der Ferne waren, und das waren die Augen der Katze, die ihn
beobachtete. Niemand, der jetzt aus dem Fenster geschaut hätte, auch nicht die
scharfäugige Mrs. Dursley, hätte nun irgendetwas von dem mitbekommen, was
unten auf dem Bürgersteig geschah. Dumbledore ließ den Ausmacher in die
Umhangtasche gleiten und machte sich auf den Weg die Straße entlang zu Nummer
4, wo er sich auf die Mauer neben die Katze setzte. Er sah sie nicht an, doch
nach einer Weile sprach er mit ihr. »Was für eine Überraschung, Sie hier zu
sehen, Professor McGonagall.« Mit einem Lächeln wandte er sich zur Seite, doch
die Tigerkatze war verschwunden. Statt ihrer lächelte er einer ziemlich ernst
dreinblickenden Frau mit Brille zu, deren Gläser quadratisch waren wie das
Muster um die Augen der Katze. Auch sie trug einen Umhang, einen smaragdgrünen.
Ihr schwarzes Haar war zu einem festen Knoten zusammengebunden. Sie sah recht
verwirrt aus. »Woher wussten Sie, dass ich es war?«, fragte sie. »Mein lieber
Professor, ich habe noch nie eine Katze so steif dasitzen sehen.« »Sie wären
auch steif, wenn Sie den ganzen Tag auf einer Backsteinmauer gesessen hätten«,
sagte Professor McGonagall. »Den ganzen Tag? Wo Sie doch hätten feiern
können? Ich muss auf dem Weg an mindestens einem Dutzend Feste und Partys
vorbeigekommen sein.« Verärgert schnaubte Professor McGonagall durch die Nase.
»O ja, alle Welt feiert, sehr schön«, sagte sie ungeduldig. »Man sollte
meinen, sie könnten ein bisschen vorsichtiger sein, aber nein - selbst die
Muggel haben bemerkt, dass etwas los ist. Sie haben es in ihren Nachrichten
gebracht.« Mit einem Kopfrucken deutete sie auf das dunkle Wohnzimmerfenster
der Dursleys. »Ich habe es gehört. Ganze Schwärme von Eulen...
Sternschnuppen. Nun, ganz dumm sind sie auch wieder nicht. Sie mussten einfach
irgendetwas bemerken. Sternschnuppen unten in Kent ich wette, das war Dädalus
Diggel. Der war noch nie besonders vernünftig.« »Sie können ihnen keinen
Vorwurf machen«, sagte Dumbledore sanft. »Elf Jahre lang haben wir herzlich
wenig zu feiern gehabt.« »Das weiß ich«, sagte Professor McGonagall gereizt.
»Aber das ist kein Grund, den Kopf zu verlieren. Die Leute sind
einfach unvorsichtig, wenn sie sich am helllichten Tage draußen auf den
Straßen herumtreiben und Gerüchte zum Besten geben. Wenigstens könnten sie
Muggelsachen anziehen. »Dabei wandte sie sich mit scharfem Blick Dumbledore zu,
als hoffte sie, er würde ihr etwas mitteilen. Doch er schwieg, und sie fuhr
fort: »Das wäre eine schöne Bescherung, wenn ausgerechnet an dem Tag, da
Du-weißt-schon-wer endlich verschwindet, die Muggel alles über uns
herausfinden würden. Ich nehme an, er ist wirklich verschwunden, Dumbledore?
»Es sieht ganz danach aus«, sagte Dumbledore. »Wir müssen für vieles
dankbar sein. Möchten Sie ein Brausebonbon?« »Ein was?« »Ein
Zitronenbrausebonbon. Eine Nascherei der Muggel, auf die ich ganz scharf bin.«
»Nein, danke«, sagte Professor McGonagall kühl, als sei jetzt nicht der
richtige Moment für Zitronenbrausebonbons. »Wie ich schon sagte, selbst wenn
Du-weißt-schon-wer wirklich fort ist - « »Mein lieber Professor, eine
vernünftige Person wie Sie kann ihn doch sicher beim Namen nennen? Der ganze
Unsinn mit >Du-weißt-schon-wer< - seit elf Jahren versuche ich die Leute
dazu zu bringen, ihn bei seinem richtigen Namen zu nennen: Voldemort.«
Professor McGonagall zuckte zurück, doch Dumbledore, der zwei weitere Bonbons
aus der Tüte fischte, schien davon keine Notiz zu nehmen. »Es verwirrt doch
nur, wenn wir dauernd >Du-weißt-schon-wer< sagen. Ich habe nie
eingesehen, warum ich Angst davor haben sollte, Voldemorts Namen
auszusprechen.« »Das weiß ich wohl«, sagte Professor McGonagall halb
aufgebracht, halb bewundernd. »Doch Sie sind anders. Alle wissen, dass Sie der
Einzige sind, den Du-weißt- ahm, na gut, Voldemort fürchtete.« »Sie
schmeicheln mir«, sagte Dumbledore leise. »Voldemort hatte Kräfte, die ich
nie besitzen werde.« »Nur weil Sie zu ja nobel sind, um sie
einzusetzen.« »Ein Glück, dass es dunkel ist. So rot bin ich nicht mehr
geworden, seit Madam Pomfrey mir gesagt hat, ihr gefielen meine neuen
Ohrenschützer.« Professor McGonagall sah Dumbledore scharf an und sagte: »Die
Eulen sind nichts gegen die Gerüchte, die umherfliegen. Wissen Sie, was
alle sagen? Warum er verschwunden ist? Was ihn endlich aufgehalten hat?«
Offenbar hatte Professor McGonagall den Punkt erreicht, über den sie unbedingt
reden wollte, den wirklichen Grund, warum sie den ganzen Tag auf einer kalten,
harten Mauer gewartet hatte, denn weder als Katze noch als Frau hatte sie
Dumbledore mit einem so durchdringenden Blick festgenagelt wie jetzt. Was auch
immer »alle« sagen mochten, offensichtlich glaubte sie es nicht, bis sie es
aus dem Mund von Dumbledore gehört hatte. Der jedoch nahm sich ein weiteres
Zitronenbrausebonbon und schwieg. »Was sie sagen«, drängte sie weiter,
»ist nämlich, dass Voldemort letzte Nacht in Godric's Hollow auftauchte. Er
war auf der Suche nach den Potters. Dem Gerücht zufolge sind Lily und James
Potter - sie sind - tot.« Dumbledore senkte langsam den Kopf. Professor
McGonagall stockte der Atem. »Lily und James... Ich kann es nicht glauben...
Ich wollte es nicht glauben... Oh, Albus... « Dumbledore streckte die Hand aus
und klopfte ihr sanft auf die Schultern. »Ich weiß... ich weiß... «, sagte
er mit belegter Stimme. Professor McGonagall fuhr mit zitternder Stimme fort:
»Das ist nicht alles. Es heißt, er habe versucht, Potters Sohn Harry zu
töten. Aber - er konnte es nicht. Er konnte diesen kleinen Jungen nicht töten.
Keiner weiß, warum, oder wie, aber es heißt, als er Harry Potter nicht töten
konnte, fiel Voldemorts Macht in sich zusammen - und deshalb ist er
verschwunden.« Dumbledore
nickte mit düsterer Miene. »Ist das - wahr?«,
stammelte Professor McGonagall. »Nach all dem, was er
getan hat - nach all den
Menschen, die er umgebracht hat -, konnte er einen kleinen Jungen nicht
töten?
Das ist einfach unglaublich... ausgerechnet das setzt ihm ein Ende... aber wie
um Himmels willen konnte Harry das überleben?« »Wir können nur mutmaßen«,
sagte Dumbledore.
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