Diskussion

Vorgang und Äusserung

Im allgemeinen halten wir uns, bei der Beurteilung einzelner Geschehnisse der ewigen Aktualitätenschau, an die handfesten Äusserungen, welche sinnlich ohne Umweg fassbar sind (Gestaltwahrnehmung nach K. Lorenz). Den eigentlichen Vorgang nehmen wir als mechanischen Ablauf nur dann wahr, wenn wir offensichtlichen Stereotypien begegnen. Dann genügt es uns, dies als Stereotypie, als immer gleiche Wiederholung, zu erkennen. Die forschende Neugier geht selten auf dieses Angebot zur Ergründung eben jener Vorgänge ein. Bezüglich der Äusserungen liegen sehr viele Hypothesen vor, des Rätsels Lösung zu finden, wobei die eigentliche, naturgesetzliche Mechanik, die eben jene Äusserungen hervorbringt, Kerninhalt der Forschung sein müsste.
Selbstwertgefühle wurzeln in den Sozialbeziehungen, welche die Stellenwerte im Beziehungsgeflecht festlegen. Dazu gehören Normen von Verhaltensmodi, die, in sich selbst unvariabel, latent zur Verfügung stehen.
Selbsterfahrung ist oft von so bedrohlicher Härte, dass sie mit Illusionen geschönt wird. Im Extremfall schützt ein von Konrad Lorenz Lorenz Konrad, Ueber tierisches und menschliches Verhalten, Bd. II, 1965 beschriebener Übersprungreflex vor dem Selbstwertkollaps.
Sigmund Freud Freud Anna , Das Ich und die Abwehrmechanismen, 1936 hat eine Reihe solcher Funktionen als Egodefensmechanismen beschrieben.
Alfred Adler Adler Alfred , Praxis und Theorie der Individualpsychologie, 1923 hatte sich dem Studium der Bedeutung der Kompensation von Karenzen und Mängeln des Organismus gewidmet, und diese ist eben ein solcher Egodefensmechanismus aus der FreudschenListe. Bei Adler erscheint das soziale Umfeld als Bezugssystem für die Wertung dessen, was Mängel und Karenzen sind.
Carl Gustav Jung Jung C.G., Die Dynamik des Unbewussten, ges. Werke Bd. 8, 1967 steigt mit der Beschreibung des kollektiven Unbewussten in das Thema ein, allerdings mit einem eher mystifizierenden Deutungsansatz, der sich dann doch mehr oder minder an die Psychologie des Sichtbaren, eben der manifesten Aussenseite hält.
Unser hier vorgestelltes Konzept ist vor allem ein Versuch, dienaturgesetzliche Grundlage der kollektiv-psychischen Abläufe zu erfassen. Es ist deshalb eine Arbeit an der Dynamik, an der Mechanik des psychischen Geschehens, soweit es kollektiv bestimmt ist.
Es gibt sinnliche Wahrnehmungen die wie Drogen auf Gemütslagen wirken. Sie steuern unter anderem die Aktivierung der Egodefensmechanismen. Besonders das Delegieren von Verbindlichkeiten, die eigentlich die Selbstverantwortung des Individuums betreffen, und deren Natur Mühe macht, weil ihre Lösung Energie und Fähigkeiten erfordert, die zu haben der Einzelne sich nicht sicher ist, steht oft am Anfang einer kollektiven Mobilisation.

Der ganze Wertekatalog menschlicher Vorstellungen, Wünsche und Träume wird in eine charismatische Person hineingesehen (projiziert), die dann als Führer, Guru, Held, Erlöser erscheint, aber vor allem als Übervater verantwortlich ist, und so den Versager entlastet, der zu sein man sich insgeheim (unbewusst) fürchtet. Was für Individuen gilt, gilt auch für die grösseren Einheiten der Identität. Für einen Zeitraum, der durch die schliessliche Erschöpfung der Kraftquelle begrenzt ist, bewirkt jede Kraftprobe eine verstärkte Verdichtung des erprobten Beziehungskreises. Es wird das Phänomen Opferbereitschaft sichtbar, die ein denkender Mensch nicht hätte, ein fühlender aber ja, nach dem Motto: "Einer für alle!" in der vagen Hoffnung darauf, dass auch "Alle für einen!" einstehen mögen.

So ist es schon sonderbar, dass die grössten Machtkumulationen der neuesten Weltgeschichte Kriege erklärtermassen gegen jeweilen nur eine Person führten. Freilich ging es um seine "bösen" Taten, die einer allein aber nie hätte vollbringen können. Der Glaube, dass mit dem Verschwinden eines Namens auch ein vermeintlicher Defekt im System des Zusammenlebens ausgemerzt wäre, wiederholt sich also, obwohl sich immer, wenn die Hoffnung der Völker diesem Glauben vertraute, er sich als töricht erwies. Wir geben dem Ungeist, der uns auf Abwege bringt, einen Namen, damit wir ihn ächten können. In weniger "aufgeklärten" Zeiten nannte man ihn einfach Teufel, und der wurde exorziert. Jetzt heisst er Führer, und wird ausgebombt. Falls er jedoch zu stark und von zu weitläufiger Macht sein sollte, dann suchen wir mit ihm ins Einvernehmen zu kommen. Damit wird das Regiment einzelner Tyrannen dermassen gefestigt, dass sie schliesslich altersehrwürdig als "geliebte Führer des Volkes", unter Kondolenz ihrer Gegner, Rivalen, Neider, Moralprediger und Bündnisganoven ableben dürfen.

Was Gewissensbisse sind, weiss jeder der sie hat. Die allgemeine Ansicht, dass Politik gewissenlos sei, vermutet, dass ihr das soziale Gewissen fehle, weil sie sich eher als eine Arena für Selbstdarsteller eignet, als dass sie dem Wohle der Gemeinschaft diene. Die Volksmeinung scheint davon auszugehen, dass Politik ein Spielobjekt für egozentrische Profiteure sei, und nur insofern auch eine auf das öffentliche Leben zielende Tätigkeit und Bestrebung. Politik als Staatswissenschaft und Gesellschaftslehre ist dem Volke nur eine lexikalische Grösse.

Praktisch läuft diese Meinung auf einen Gegensatz vom Gewissen zur Politik hinaus. Es heisst, Gewissen sei das persönliche Bewusstsein vom sittlich Guten. Sittlich und gut sind ethische Bezugswerte, also keine angeborenen Wirkmale, sondern auf Regeln des Zusammenlebens bezogene Verhaltensmodi. Es sind Spielregeln, welche in verschiedenen Kulturen unterschiedlich sind, und auch mit der Kulturentwicklung variieren können. Die Mosaischen Gebote 5. Moses (5/1-22) und die darauf bauenden christlichen Verhaltensregeln Das Evangelium nach Matthäus (5/17-48) , sind solche sittlichen Bezugsgrössen des Gewissens. Gewissen hat der Mensch, indem er fühlt, ob er die Gesetze des sozialen Zusammenlebens befolgt oder verletzt. Es ist offenbar immer Sache des Einzelnen, neigt aber dazu,sich im Gruppenverband aufzulösen, und zwar im Lösungsmittel Sicherheit, dargestellt im Rückhalt, den die Gruppe bietet, da ja die Gruppe die Sitte bestimmt Knaak L. Ascona, Strafe und Sühne in sozialpädagogischer Sicht, in: Helmut Erhardt (Herausgeber), Aggressivität, Dissozialität, Psychohygiene, XII Jahrestagung der Europäischen Liga für Psychische Hygiene, by Verlag Hans Huber , Bern, 1975 . Wenn die ökonomische wie ethische Kompetenz dem Kollektiv übertragen wird, entstehen hierarchische Strukturen der sozialen Verantwortung. So ist es kein Zufall, dass alle demokratisch gewählten Diktatoren unserer Epoche sich zum Sozialismus bekannten, denn dieser trägt den Keim zur Tyrannei in sich, wenn autokratischer Dirigismus dem kindlichen Fürsorgebedürfnis einfacher Gemüter zu willfahren verspricht. Entmündigung ist eben der Preis, den Befürsorgte entrichten, und Fürsorge gibt demjenigen Macht, der sie verheisst.

Fehlverhalten ist dann gegeben, wenn die sittlichen Regeln des sozialen Inkreises verletzt werden. So bildet der soziale Inkreis zum Auskreis eine kritische Linie, wo Missverständnisse lauern, wenn zum Beispiel eine Nation einer ganz bestimmten Ethik und Tradition, von einem grösseren Bereich anderer Bezugswerte umschlossen ist.

Die umschliessende Gesellschaft verlangt von der umschlossenen das Bekenntnis zur gemeinsamen Idendtität, verbalisiert in Idealen, und neigt zur gewaltsamen Durchsetzung ihres Meinungsdiktats. "Gewissensfreiheit", wie sie das staatliche oder das internationale Recht der Weltorganisation "gewährleistet", erlaubt also nur die Möglichkeit, dem grösseren Machtpotential ohne Vorbehalte zuzustimmen.

Dies ist eine in sich widersprüchliche Situation, denn sie verneint den Wert geschlossener Identitäten. Widersprüchlichkeit ist in allen lebendigen Dingen. Das Leben selbst äussert sich in Widersprüchen. Es ist immer raumgreifend (philobat) bei zentripetaler (oknophiler) Verankerung. Seine Expansion dient dem Bestand des Subjektiven. Die Soziodynamik sichert die Erhaltung der Egozentrik aber nur, wenn die dazu nötige Interdipendenz (die gegenseitige Abhängigkeit, das Wechselspiel) gewahrt bleibt. Ohne Inanspruchnahme, ohne Herausforderung, entsteht kein Selbstbewusstsein, ohne Land kein Fluss, ohne Ufer kein See.

Allen missionarischen Bestrebungen ist der expansive Gleichmachungsdrang vorausgesetzt, obwohl die eingbildete Überlegenheit, die daran gebunden ist, auf die Ausmerzung des Beweisstückes, eben auf die Qualitätsunterlegenheit derer zielt, die es zu missionieren gilt. Aus dem ideellen Axiom der Rechtsgleichheit gleicher Wesen, wird eine physiologische Gleichheit aller abgeleitet und gefordert, was die Ungleichen ihrer Eigennatur berauben würde, wenn es möglich wäre, eine derart unnatürliche Wirklichkeit zu schaffen. Schon der Gedanke selbst ist utopisch, und ihn verwirklichen zu wollen vollends irreal, weil die Realität seine Abwegigkeit beweist.

Aber gerade utopische Sehnsüchte werden missionarisch verbreitet. Missionarische Bestrebungen sind Kennzeichen der Expansion des Eigenhorizontes. Sie gibt es auf jedem Niveau, sei es mit einem intellektuellen, einem religiösen oder einem atavistischen Horizont. Zu letzterem gehört der unsterbliche Wunderglaube. Ist er nicht gerade akut, so wacht er bisweilen aus seiner Latenz auf und wird überraschend lebendig, auch auf einem Bildungsniveau, wo man ihn am wenigsten vermuten würde. Dieser atavistische Wunderglaube gehört zu den Aktiven der Religionen. Das Phänomen stellt sich als ein immerwährender, unterschwelliger Konflikt mit der realen Gegenwart dar, in welchem sich das Individuum befindet, ohne die Natur dieses inneren Zwiespalts zu begreifen. Die Subjektivität kann sich nicht selbst objektivieren, weil sie das Organ der Selbsttätigkeit und der Vorgang selbst ist. Auf die Gefahr einer möglichen Missdeutung hin, sei die Analogie gewagt, den Einzelnen mit einem Tentakel zu vergleichen. Die Individuen bilden gewissermassen die Tentakel des sozialen Körpers (dem sozialen Inkreis) ihrer Zugehörigkeit, indem sie die Träger der Sinne sind, die dem Ganzen dienen. Hören, schmecken, riechen, tasten und ahnen sind körpergebunden. Sie werden zur Sinngebung des Seins aber erst durch den Austausch (Ekphorie) der Eindrücke (Engramme) aus ihren Funktionen. Der soziale Inkreis ist das konkrete Zentrum ihres Tuns, und in diesem Zusammenwirken, das eigentlich unbewusst verläuft, liegt der wirkliche Sinn . Es kann ins Bewusstsein treten wenn, beispielsweise, eine kollektive Gleichstimmung die Einzelbewusstheit aufschreckt oder verschreckt. In einem solchen Falle nimmt sie ihre Gliedhaftigkeit wahr. Sie leidet an diesem "im Allgemeinen verhaftet Sein" und erstrebt dann die singuläre Autonomie. Diese könnte sie durch eine Eingliederung in einen anderen sozialen Inkreis als Übergang auch empfinden, aber ihr Misslingen wird zur Vereinsamung und Depression. Die Expansion sozialaktiver Vorgaben kann in dieser Situation zum persönlichen Sendungsbewusstsein trasferieren, und macht dann aus dem Zweifler einen Missionar. Die Depression ist damit beseitigt. Prophetie, Intuition und Spontandiagnostik werden zur hellsichtigen Begabung (auch auf Zeit). Sie werden als paranormale Befähigungen angesehen, sind aber reale Phänomene, die sich rational durch die Natur der stereotypen Glieder von Verlaufsketten erklären lassen; andernfalls wären es keine realen Phänomene. Der Uexküllsche Funktionskreis bietet eine Grundlage zu deren Analyse. Stereotype Verlaufsreihen gliedern das tägliche Leben genau so wie das politische, beziehungsweise das gesellschaftliche Geschehen. Das lehrt auch die Geschichte. Vokabeln wechseln wie Namen, aber die Dynamik und das Muster dem sie gehorcht, sind immer dieselben. Das gilt bis hinein in die Anekdoten, die solche Glieder von Verlaufsketten festhalten.

So erzählte man sich 1948 in davon betroffenen Kreisen die Geschichte von Vater und Sohn, die aus Deutschland gekommen, in Palästina eingewandert waren und sich nun in einem Schützengraben fanden, aus dem auch nur den Kopf zu heben das endgültig letzte Abenteuer werden konnte, weil dies sofort eine wilde Schiesserei von der Gegenseite her auslöste. Nach einigen vergeblichen Versuchen die Position zu wechseln, fragte der Sohn schliesslich den Vater: "Abba, die Engländer, wenn sie uns schon müssen ein Land schenken, was ihnen nicht gehört, warum nicht die Schweiz?"

So weit, so schlecht. 50 Jahre später wurde die Schweiz, als einziges Land der Erde, vom jüdischen Weltkongress mit dem pressenden Gewicht seines Protektors, der einzigen oekonomischen wie militärischen Weltmacht USA, haftbar dafür gemacht, dass nicht alle Flüchtlinge vor der arisch- nationalsozialistischen Diktatur gerettet werden konnten. Das ist grotesk, zumal diese Folgegeschichte der Anekdote prophetische Qualität verleiht.

Um Geschichten, die das Leben schreibt, lesen zu können, braucht es die Kenntnis des entsprechenden Alphabets, und das Denken in Vorgängen erschliesst einen Zugang zur Tragikkomik des Seins.

Doch das sind Möglichkeiten die keinem aufgezwungen werden können, denn für derart Komik fehlt manchem das Organ. Mit Glossen ist also behutsam umzugehen, um niemandes Geltung herabzusetzen, denn Schlauheit wird bösartig wenn sie sich gekränkt fühlt, und wittert sie dann eine Denunziationsmöglichkeit, fädelt sie die kostspieligsten Rechtshändel ein.


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