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Ronners Nachdenklichkeiten Archiv 2008
 

 

 

246 - Nobelpreis – Die Nobelstiftung vergibt seit 1901 jährlich Preise für die bedeutendsten Leistungen auf den fünf Gebieten Physik, Chemie, Medizin (oder Physiologie), sowie des Schrifttums und des Völkerfriedens. Fehlt da ein Fach? Richtig: Während die Schriftsteller – also die Buchautoren – preisfähig sind, gehen die Musiker leer aus. Müssen wir diese Lücke bedauern?
Einem Bach, Mozart, Beethoven oder Richard Wagner kann die Auszeichnung nicht mehr verliehen werden; die alten Meister sind alle längst gestorben. Gibt es an ihrer Stelle zeitgenössische Tonschöpfer, die vom Nobel-Komitee auszuzeichnen eine würdige und längst fällige Aufgabe wäre? Welche lebenden Tonsetzer mit Anspruch auf weltweite Ehrung und existenzsichernde Zuwendung würden uns und den Scouts des Stockholmer Gremiums aus dem außereuropäischen Raum wohl einfallen?
James Last? Einer der experimentell bewegten Preisträger in Donaueschingen? Einer vom Schlage Pink Floyds oder der Rock-Pop-Musiker mit den jeweils meisten „Albums“? Also schlicht das Zugpferd der finanzorientierten Musikindustrie, deren dröhnende Produktionen die Arenen füllt? Oder am Ende ein gänzlich unbekannter, von der Zivilisation bisher unbeachteter Mensch aus Afrika, China oder Polynesien?
Man denke einmal in unaufgeregter Verfassung darüber nach. Eine lautstarke und damit chancenreiche Jubelriege für umwerfend Neues, Queres und Abseitiges formiert sich immer. Ob, ausgezeichnet mit dem Nobelpreis, der Musik und nicht nur mit irgendwie Ertönenden, der Menschheit ein Dienst erwiesen würde?

Januar 2008  -  © by Kurt-Rolf Ronner

 

247 -  „Positiv! Positiv, mein Lieber! Denken Sie an Goethe...!“

Mit diesen hohlen Phrasen speist der Kabarettdirektor in Wolfgang Borcherts vor 60 Jahren entstandenem Hörspiel und Bühnenstück „Draußen vor der Tür“ die Figur des Rußland-Heimkehrers Beckmann ab – das ist „einer von denen, die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen“, erläuterte Borchert und starb einen Tag vor der Uraufführung seines Stücks.

„Nach vorne blicken“, „Positiv denken“, „Dem Wandel folgen“, „Freiheit schützen...!“

Das sind die vergleichbar hohlen Phrasen, mit denen die späten Nachfahren der einstigen Achtundsechziger jugendliche Intensivtäter und Kriminelle mit schlechter Besserungsprognose nicht als Täter, sondern als tragische Opfer einer postfaschistischen Gedankenwelt beschreiben.

Whitewash für die Rechtsbrecher und ein Mundschloß für die Mahner aus dem konservativen Lager? Nur weiter so, und der ausufernde Begriff „Freiheit“ nimmt der abendländischen Restkultur ihr Zuhause, setzt sie nach draußen vor der Tür.

Februar  2008  -  © by Kurt-Rolf Ronner

 

248 - „Das Neue“ und seine sich verkürzende Halbwertszeit“

Ist auf unserem Planeten schon alles Erfindbare erfunden? Bleibt nach allem, was der Mensch mit seinem Geist und seinen Sinnen in Jahrtausenden entdeckt und durch kluge Erfindungen in den Dienst des menschlichen Fortschritts genommen hat, nichts mehr übrig, was die bekannten Perspektiven verschieben und ein neues Verständnis wecken könnte? Ist kein Geheimnis mehr zu erschließen – von der Raumfahrt zum Mars und klinischen Reparaturen mit Stammzellen einmal abgesehen?

Ein junger Dozent an der Musikhochschule Basel mit modischem Dreitagebart und jenem fest in sich ruhenden Auferstehungsblick, der an jenen der Familienministerin Ursula von der Leyen erinnert, gibt einem Journalisten zu Protokoll, er könne nicht etwas unterrichten, das in drei Jahren bereits veraltet sei. Folgerichtig lehrt er nicht Musik – atonale nicht und schon gar nicht klassische –, sondern beschäftigt sich und seine Schüler mit neuen Möglichkeiten des professionellen Umgangs mit dem technischen Inventar eines Tonstudios. Neugierige Besucher sind – klar, sonst weckte diese zur Kunst erhobene Beschäftigung keine Neugier in der Breite – internationale Pop-Größen.

Öffnet dieses Lehrfach für kurze Zeit ein Fenster, durch das wir auf den düsteren Hintergrund des verbrauchten Alten schauen, vor dem das herbeigeredete Neue sich umso leuchtender abhebt? Ist unser Dozent, der mehr Künstler als Techniker sein will, ein Scout auf der Suche nach der letzten möglichen Neuerung, ehe sich jener Teufelskreis schließt, bei dem der Endpunkt des Neuen den Ausgangspunkt des Alten berührt? Oder stellt er nach dem Muster werbewirksamer Rhetorik als eine neue, verbessernde Entdeckung vor, was letztlich auf dem Urgrund verschmähter Vergangenheiten wurzelt?

Noch 36 Monate Zeit gibt unser Dozent seiner technisch realisierten Kunst, aktuelle Fast-Food-Weltmusik klanglich zu veredeln. In solcher Zeitverkürzung schwingt die Ahnung mit, wie dünn die Luft dafür geworden ist, fruchtbares Neuland für die musikalischer Kultur zu finden. Aber selbst diese Erkenntnis ist nicht mehr neu.

März 2008 -  © by Kurt-Rolf Ronner

 

251 – Olympia in Beijing

Vor sieben Jahren hat das Internationale Olympische Komitee die jetzt bevorstehenden Olympischen Spiele an Beijing vergeben.

Schon damals muß den betagten Berufsolympioniken die eigenwillige Auslegung universaler Menschenrechte durch die chinesischen Regenten bekannt gewesen sein.

Die gegenwärtigen Ereignisse in Tibet und Drohungen gegenüber Taiwan werfen in aller Schärfe die Frage auf, ob die seinerzeitige Wahl zu gutgläubig getroffen worden war, oder ob es nicht eher – sagen wir mal – wirtschaftliche Interessen gewesen sind, die mithalfen, über ein menschenrechtlich vermintes Feld im Osten gütig hinwegzusehen.

Müssen aufgrund aktueller Ereignisse die olympischen Spiele abgesagt werden, passend zum allegorischen Bild vom Kind, das aus Ungeschicklichkeit in den Brunnen gefallen ist?

Für Ungeschicklichkeiten dieses Formats sind die Herren vom IOK denn doch zu clever. Augen zu und durch, ist außerdem ihre Devise. Im Übrigen sind die Brunnen der mit Sport und wirtschaftlichen Interessen verquirlten Politik für den ernstlichen Fall des Kindes Olympia (und seiner Geschwister überall in der Welt) bei weitem nicht tief genug.

April 2008 -  © by Kurt-Rolf Ronner

 

252 – Die Egalité-Elite – Klassischer Musik hängt das Odium des Elitären an; das scheint ihr nicht gut bekommen zu sein.

Die ihr zugeschriebenen Schwächen sind die Vornehmheit ihrer Präsentation; die Jugendferne; poetische, subjektive Andichtung semantischer Bezüge; ihr Verharren auf unverrückbaren Formen. Und nicht zuletzt ihr betagtes Publikum, das nach dem Dafürhalten der Jüngeren auf einer nur noch eingebildeten sozialen Höhenstufe steht und sich nicht mehr weiterentwickelt, aber gerade vom Konservieren einer aristokratischen Ordnung ihre Wertmaßstäbe ableitet. Das bedroht einen der tragenden Pfeiler der Französischen Revolution: die Egalité, die Gleichheit aller Bürger.

Erst der Jazz und später der Pop spielen als Sammelbegriff gegenüber klassischer Musik den schlagenden Vorteil aus, in Amerika Fuß gefaßt und die dortige Jugend schon vor Woodstock begeistert zu haben. Die zeitgenössische Kulturindustrie hat die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Chancen rasch erkannt und den Pop zur Weltmusik schlechthin gemacht. Überall aus Radios, iPods und Kopfhörern dröhnt sie der Jugend bei Tag und Nacht in die Ohren. Bereits Theodor W. Adorno hatte hellsichtig von „auftrumpfender Trivialität“ und von „Befangensein in der Oberfläche als zweifelsfreie Gewißheit“ gesprochen, mit der eine „feige Abwehr jeglicher Selbstbesinnung verklärt“ werde. Daraus entstand um den ganzen Erdkreis herum die leidenschaftliche Gier nach einer inzwischen Generationen übergreifende Sucht, sich in allgegenwärtiger Gewöhnlichkeit geborgen zu fühlen. Der Staat steht hinter dieser Entwicklung. Unter dem Begriff „Kulturleistung“ fördert er sie mit warmer Hand. Das läßt auf den politischen Willen schließen, ein leicht zu führendes Substrat fügsamer Bürger mit bescheidenen Ansprüchen heranzubilden, die bald beim läppischen Säuseln unausgebildeter Stimmchen, bald bei dröhnenden Kakaphonien ihr großes Glück zu erfahren meinen. Ihr Nachwuchs pflegt den Ehrgeiz, im Stadium vorzeitig einsetzender und verspätet endender Pubertät Popstar zu werden.

Nun ist eine neue Entwicklung im Gange: Der Pop verdrängt die Klassik, indem er deren lange innegehabten Status in veränderter Begrifflichkeit übernimmt. Das fällt leicht, denn auch in der E-Musik gibt es bekiffte Musiker und neurotische Dirigenten, die von ihren Agenten rund um den Globus gehetzt werden und feste Plätze in der Klatschpresse besetzen. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen verglich der Bayreuth-Sänger Endrik Wottrich das Operngeschäft mit dem Radsport. Das gilt übrigens auch für das Sprechtheater mit seinen Regisseuren, die eine real dargestellte Unterwelt auf die Bühne holen. Solchem Paradigmawechsel widmete die Oboistin Blair Tindall 2005 ihr Buch, das den Titel „Mozart in the Jungle: Sex and Drugs and Classical Music“ trägt.

Damit fällt die Aura geistiger Größe von der Klassik ab. Sie ist zur leichten Beute derer geworden, die nach äußerlichen und deshalb auch einfacher zu erreichenden Werten streben. Es entfällt das taktische Bemühen, die Klassik an die Wand zu drücken und als elitären Gegenpol zu schmähen. Die Masse im Sinne einer verhaltenskonformen Gesellschaft hat die Elite weitgehend dadurch besiegt, daß jene sich ihrer einst innegehabten Autorität selbst entledigte.

M
ai 2008 -  © by Kurt-Rolf Ronner

 

253 - Sorgen – Einst war Wilhelm Buschs der frommen Helene untergeschobene Sinnspruch »Wer Sorgen hat, hat auch Likör« buchstäblich in aller Munde.

Der süß-sämige Kräuterbranntwein hat härter zupackende Nachfolger gefunden. Das muß mit einer neuen Qualität der Sorgen zu tun haben. Sie sind größer und drängender geworden, kommen früher, fallen später oder gar nicht mehr ab. Nachtfüllendem Fun folgt die innere Leere bei Tage. Dort nistet sich allmählich die dunkle Ahnung ein, daß Versäumnisse Verluste nach sich ziehen, die man nicht wie E-Mails erinnerungslos löschen und in den elektronischen Orkus entsorgen kann.

Vergangenheit ist out, Gegenwart in, Zukunft uncool. Diesem Leitsatz entsprechen beispielsweise jene Jungmänner, wenn sie nur mit der temporären Partnerin, einem Rucksack und ein paar Pappkartons als Umzugsgut von einer Wohnung zur nächsten ziehen und die Bierdose, die sie eben leergetrunken haben, gleichgültig auf die Straße werfen. Die kleinen Sorgen lassen sie hinter sich. Die noch kommenden werden größer sein. Dann helfen auch die härter zupackenden Nachfolger des Likörs nicht mehr.

Juni 2008 -  © by Kurt-Rolf Ronner

 

254 - Schuldsuche – Wer ein langes Leben lebt und dabei die Augen offen hält, begegnet vielen Menschen und betrachtet viele Formen weltlichen Geschehens. Auffallend groß ist die Zahl von Begegnungen mit glücklosen natürlichen und juristischen Personen, gegen deren Ehrgeiz die Erfüllung keine Chance haben kann.

Um hohe Ziele trotz mangelnder Voraussetzungen zu erreichen, steigen sie – Menschen wie du und ich oder auch Geschäftsleute, Sportfunktionäre und zur Verdeutlichung bildlich beschrieben – unablässig auf die Zehenspitzen, um größer zu scheinen und mehr von sich herzumachen. In ihrer Phantasie sind sie stets schon dort, wo sie nie hinkommen werden.

Die Überanstrengung läßt schließlich nicht nur die Kraft der Zehen erlahmen, sondern auch den Geist trüben, wenn die Zehenspitzensteiger – nunmehr mit einem Bild aus der Welt des Sports verdeutlicht – beim Hochsprung die zu hoch gesetzte Latte immer wieder reißen.

Dann schlägt die Stunde der Erklärungen. Die Zehen schmerzten wegen eines krumm gewachsenen Nagels und behinderten den Absprung – oder war es das zuvor getragene Schuhwerk? Genossen die Konkurrenten Startvorteile, war Ungleichheit der Chancen als Folge ungünstiger Witterung im Spiel? Lenkte der neuliche Unfall eines nahen Freundes oder das unverständliche Zögern eines Geschäftspartners von der Konzentration auf den Gipfelsturm ab?

Ach, die Großen stellen sich nicht klüger an als ihre Sprößlinge, wenn sie Klausur um Klausur vergeigen und stets Erklärungen dafür finden, daß der Fehlschlag nicht im Ungenügen, sondern beim Schicksal lag.

Juli 2008 -  © by Kurt-Rolf Ronner

 

255 - Nachahmen – Der Kunstspekulant Emile Schuffenecker kopierte in den späten Jahren des 19. Jahrhunderts Van-Gogh-Bilder. Er beherrschte dessen Maltechnik so hervorragend, daß nur die absichtlich seinen Nachahmungen nicht hinzugesetzte Signatur das Unterscheidungsmerkmal zum Original war. Hätte er die Nachahmungen als Originale ausgegeben und verkauft, wäre er früher oder später entlarvt und als Fälscher, ja als Betrüger gefänglich eingezogen worden.

Nun besitzt das Wiederholen eines Vorbilds oder fremden Tuns eine tief negative Bedeutung. Es ahmt jemand etwas nach, wenn ihm selbst eigenschöpferische Kräfte abgehen. Mag die Kunsttechnik noch so herausragend sein – das entstandene Werk gilt sodann als unecht und wertlos.

Es gibt aber auch das Adjektiv „nachahmenswürdig“. Einem großen, überzeugenden Vorbild zu folgen, ist kein sträfliches, sondern ein löbliches, heute eher in Vergessenheit geratenes Tun.

In Berlin versuchten Architekten der Moderne lange, den Wiederaufbau des Stadtschlosses mit historischer Fassade um jeden Preis zu verhindern. Es entstehe ein Replikat, originalgetreu, aber eben nicht original. Unter ihresgleichen bauten sie mächtigen Druck auf, um abtrünnig gesonnene Mitglieder ihrer Bruderschaft auf Linie zu halten.

Der Streit um Kaisers Bart ist eine typisch deutsche, in Verbissenheit geführte Beschäftigung, hinter der viele Fragezeichen stehen bleiben. Merkwürdig, daß sich kein entsprechender Protest erhob, als die Dresdner Bürger Geld sammelten, um ihre Frauenkirche so wiederherzustellen, wie sie vor der Kriegszerstörung gewesen war. Beispiele gibt es außerhalb Deutschlands erst recht: das Kloster Montecassino, ebenso wie das Warschauer Schloß, der Campanile in Venedig – alles „Nachahmungen“ eines durch Kriege oder den Zahn der Zeit zerstörter Baudenkmäler.

Es wäre interessant, zu ergründen, wann die sogenannten Star-Architekten sich schämen, bedeutende Bauwerke nach originalen Plänen wiederherzustellen, deren Bedeutung wichtig für eine Stadt, eine Region, ein Land und seine Bürger ist, und wann sie sich mit Stolz an eine Rettungstat, eine Erneuerung eines geschichtlich gewachsenen, großartigen Bauwerks machen, das sodann zu einer Kopie seiner selbst wird.

August 2008 -  © by Kurt-Rolf Ronner

 

256 - Transfiguration – Daß Nietzsches einst als verwegen beurteiltes Räsonnement „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ nicht in Vergessenheit geriet, dürfte Thomas Mann zuzuschreiben sein. Er nutzte das philologisch-philosophische Werk als Leitfaden für seinen Faustus-Roman. Aber wer denkt schon noch daran!

Die Versuchung liegt nahe, allein mit dem veränderten Titel „Die Geburt von Rock und Pop aus dem Geiste des Dionysos“ eine Diskussion anstoßen, die Betagtes in moderne Bezüge kleidet.

Während die klassische Musik Apollon, dem zu Ordnung und Schönheit gebändigten Gott des Lichts zuzuordnen ist, wären Rock und Pop seinem Gegenpart, dem Dionysos zugehörig zu betrachten. Der Sohn des Zeus und der thebanischen Königstochter Semele ist die hellenistische Leitfigur des Kults rauschhafter Ausgelassenheit und Zügellosigkeit.

Dabei ist denn wohl doch ein Unterschied nicht zu verkennen. Dionysos verehrte den Weinbau und das daraus gewonnene Gärgetränk. Die Rock- und Popjugend unserer Tage kommt dem Rausch mit hämmernden Beats und namentlich mit Gebranntem weit schneller, geistloser und gefährdender zur Volltrunkenheit.

September 2008 -  © by Kurt-Rolf Ronner

 

257 – Verformung unseres Zuhauses. – Der 1870 in Brünn geborene und 1933 in Berlin gestorbene Architekt Adolf Loos litt schwer unter dem verspielten Jugendstil, der zuvor die Ehrfurcht einflößende Wucht des Neobarocks abgelöst hatte. Er kämpfte für einen sachlichen, auf Ornamente und Verzierungszeichen verzichtenden Stil. Einer seiner Kampfschriften verlieh er den Titel „Ornament und Verbrechen“. Architektur „muß brennen, stechen, schmerzen“, schrieben die Wiener noch vor Adolf Nazi, und heute verkünden sie es erneut mit den potenten Verstärkern vernetzter Interessengruppen.

Die Gegenwarts-Moderne hat die Bauhaus-Ideen der Architekten Walter Gropius und Mies van der Rohe weit hinter sich gelassen. Inzwischen werden Wohnhäuser den Geschäftshäusern in Industriearealen nachgebildet. Wenn in Berlins zu sanierendem Neuen Museum die ausgebrannte und verwitterte Treppenhalle – dem geistigen Zentrum des Baus – wiederhergestellt werden soll, wird dem Original kein Respekt gezollt. Betonwände, die an einen Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg erinnern, sollen der Nachwelt die Präsenz des 21. Jahrhundert vor Augen führen. Bürgerliche Ästhetik und vertraute Urbanität gelten als spießig, aus der Zeit herausgefallen. Architekten, deren Name zu Statussymbolen stilisiert worden sind und von staatlichen Behörden zu eigener Imagepflege gerne in den Dienst genommen werden, sind auch mit den Richtlinien der UNESCO kaum zu beeindrucken. Selbst die Provinz will sich mit Nachahmereien der Städte die Aufmerksamkeit von Investoren sichern. Damit – als Beispiel – das restaurierte Schloß im Basler Vorort Binningen nicht zu hübsch und historisch aussehe, ließ die Gemeindeverwaltung gegen den Protest der Einwohner die Sichtblende einer Betonmauer zu, die an eine Lärmschutzwand an einer Autobahn erinnert und den Treppenaufgang zum Eingang unkenntlich macht. Wer ist für diese monströse Verformung unseres „Zuhauses“ verantwortlich?

Dieter Bartetzko ist der Antwort nahe, wenn er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F.A.Z. vom 16. September 2008) schreibt: „Die Entscheidungen [...] fallen jenseits der Architektur, in jenen ökonomischen Schlachten, an denen Architekten mittun, wenn sie nicht gerade einen Beitrag für die Biennale vorbereiten.“

Oktober 2008 -  © by Kurt-Rolf Ronner

 

258 – Vordemokratisch – In den kontrovers geführten Diskurs um den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses mit historischer Fassade hatte sich auch das Sonntagsmagazin der schweizerischen Bild-Zeitung (12. Oktober 2008) eingeschaltet. In einem doppelseitigen Beitrag über die temporäre Kunsthalle von Dieter Rosenkranz wird zu dessen Person vermerkt: „Wie andere Berliner auch, sympathisiert Dieter Rosenkranz nicht mit dem Wiederaufbau der historischen Schloßfassade aus vordemokratischer Zeit.

Die Rosenkranz stellvertretend zugeschobene Botschaft an den Leser ist klar erkennbar: die DDR habe die Zwingburg der Hohenzollern mit besten menschenfreundlichen Absichten weggesprengt. Jetzt drohe mit der zu erstellenden Barockfassade des Humboldt-Forums ein reaktionärer Rückfall in die undemokratische Vorgeschichte.

Wer sich diese Folgerung zu eigen macht, dürfte Goethes Dichtungen nicht mehr lesen, denn das deutsche Nationalidol verfaßte seine Schriften in vordemokratischen Zeiten. Unter diesem Aspekt verhielte sich bekennend konsequent, wer auch Kunstmuseen nicht mehr betritt, weil die Gemälde und Statuen der Maler und Bildhauer einen vordemokratisch ansteckenden Bazillus freisetzen könnten.

November 2008 -  © by Kurt-Rolf Ronner

 

Göttlicher Auftrag?

258 - Machtvorstellungen – Der christliche Glaube ist bei der westlichen Menschheit nicht mehr verankert genug, um auch noch unter den Kerzen der Weihnachtsbäume, die schon vorzeitig zu brennen begannen, der im Oktober erfolgten Steinigung des 13-jährigen Mädchens aus Somalia zu gedenken. Die Empörung Einzelner war ein Strohfeuer, ihr Ruf nach diplomatischen Sanktionen rührend in seiner Einfalt.

Im semitischen und islamischen Kulturkreis ist die lapidatio vereinzelt noch immer das Höchstmaß einer Strafe für schlimmste Vergehen geblieben. Archaische Vorstellungen und ein fundamental gestörtes Verhältnis zur Sexualität definieren, welches Vergehen nur mit der Steinigung gesühnt werden kann. Im Hintergrund wirken religiöse Machtvorstellungen, die erst von der Erde ins Universum und weiter an die Adresse eines in der kollektiven Vorstellung existierenden Propheten projiziert werden. Von dort als Vollmacht abgelesen, wird die gewünschte Handlung schließlich als göttlicher Auftrag ausgeführt.

Die Hexenverbrennungen und kirchlich gesegneten „Instrumente“ liegen, geschichtlich betrachtet, nicht allzu weit zurück, Teufelsaustreibungen mit Todesfolge finden im Verborgenen noch immer statt. Unsere westliche Gegenwartsgesellschaft hat sich von den religiösen Zwangsvorstellungen, die solchem Denken und Handeln zugrunde liegen, nicht wirklich befreit. In den USA, deren Bürger nach eigenem Dafürhalten in „God’s own country“ leben und in gemeinschaftlicher „In God we trust“-Versicherung ruhen, sind schmerzvolle Exekutionen auch für Unschuldige, wie sich hinterher nicht selten herausgestellt hat, nicht ausgeschlossen. Ebensowenig sind die derzeit offen und versteckt geführten Kriege oder auch das unrühmliche Lager Guantanamo Gegenwarts-Beispiele, mit denen wir uns den somalischen Richtern moralisch nicht allzu überlegen fühlen sollten.

Die Menschheit – mindestens im Großen und Ganzen – ist angesichts schlechter Vorbilder nicht reifer, nicht erwachsener und nicht unabhängiger von emotionalisierenden Abstrakta geworden, die so rasch in vernichtenden Sadismus umschlagen.

Dezember 2008 -  © by Kurt-Rolf Ronner



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