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Ronners Nachdenklichkeiten Archiv 2008
246 - Nobelpreis – Die Nobelstiftung vergibt seit 1901 jährlich Preise für
die bedeutendsten Leistungen auf den fünf Gebieten Physik, Chemie, Medizin (oder
Physiologie), sowie des Schrifttums und des Völkerfriedens. Fehlt da ein Fach?
Richtig: Während die Schriftsteller – also die Buchautoren – preisfähig sind,
gehen die Musiker leer aus. Müssen wir diese Lücke bedauern?
Einem Bach, Mozart, Beethoven oder Richard Wagner kann die Auszeichnung nicht
mehr verliehen werden; die alten Meister sind alle längst gestorben. Gibt es an
ihrer Stelle zeitgenössische Tonschöpfer, die vom Nobel-Komitee auszuzeichnen
eine würdige und längst fällige Aufgabe wäre? Welche lebenden Tonsetzer mit
Anspruch auf weltweite Ehrung und existenzsichernde Zuwendung würden uns und den
Scouts des Stockholmer Gremiums aus dem außereuropäischen Raum wohl einfallen?
James Last? Einer der experimentell bewegten Preisträger in Donaueschingen?
Einer vom Schlage Pink Floyds oder der Rock-Pop-Musiker mit den jeweils meisten
„Albums“? Also schlicht das Zugpferd der finanzorientierten Musikindustrie,
deren dröhnende Produktionen die Arenen füllt? Oder am Ende ein gänzlich
unbekannter, von der Zivilisation bisher unbeachteter Mensch aus Afrika, China
oder Polynesien?
Man denke einmal in unaufgeregter Verfassung darüber nach. Eine lautstarke und
damit chancenreiche Jubelriege für umwerfend Neues, Queres und Abseitiges
formiert sich immer. Ob, ausgezeichnet mit dem Nobelpreis, der Musik und nicht
nur mit irgendwie Ertönenden, der Menschheit ein Dienst erwiesen würde?
Januar
2008 - ©
by Kurt-Rolf Ronner
247 - „Positiv! Positiv, mein Lieber! Denken Sie an Goethe...!“
Mit diesen hohlen Phrasen speist der Kabarettdirektor in Wolfgang Borcherts
vor 60 Jahren entstandenem Hörspiel und Bühnenstück „Draußen vor der Tür“ die
Figur des Rußland-Heimkehrers Beckmann ab – das ist „einer von denen, die nach
Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen“, erläuterte Borchert und
starb einen Tag vor der Uraufführung seines Stücks.
„Nach vorne blicken“, „Positiv denken“, „Dem Wandel folgen“, „Freiheit
schützen...!“
Das sind die vergleichbar hohlen Phrasen, mit denen die späten Nachfahren der
einstigen Achtundsechziger jugendliche Intensivtäter und Kriminelle mit
schlechter Besserungsprognose nicht als Täter, sondern als tragische Opfer einer
postfaschistischen Gedankenwelt beschreiben.
Whitewash für die Rechtsbrecher und ein Mundschloß für die Mahner aus dem
konservativen Lager? Nur weiter so, und der ausufernde Begriff „Freiheit“ nimmt
der abendländischen Restkultur ihr Zuhause, setzt sie nach draußen vor der Tür.
Februar
2008 - ©
by Kurt-Rolf Ronner
248 - „Das Neue“ und seine sich verkürzende Halbwertszeit“
Ist auf unserem
Planeten schon alles Erfindbare erfunden? Bleibt nach allem, was der Mensch mit
seinem Geist und seinen Sinnen in Jahrtausenden entdeckt und durch kluge
Erfindungen in den Dienst des menschlichen Fortschritts genommen hat, nichts
mehr übrig, was die bekannten Perspektiven verschieben und ein neues Verständnis
wecken könnte? Ist kein Geheimnis mehr zu erschließen – von der Raumfahrt zum
Mars und klinischen Reparaturen mit Stammzellen einmal abgesehen?
Ein junger Dozent an der Musikhochschule Basel mit modischem Dreitagebart und
jenem fest in sich ruhenden Auferstehungsblick, der an jenen der
Familienministerin Ursula von der Leyen erinnert, gibt einem Journalisten zu
Protokoll, er könne nicht etwas unterrichten, das in drei Jahren bereits
veraltet sei. Folgerichtig lehrt er nicht Musik – atonale nicht und schon gar
nicht klassische –, sondern beschäftigt sich und seine Schüler mit neuen
Möglichkeiten des professionellen Umgangs mit dem technischen Inventar eines
Tonstudios. Neugierige Besucher sind – klar, sonst weckte diese zur Kunst
erhobene Beschäftigung keine Neugier in der Breite – internationale Pop-Größen.
Öffnet dieses Lehrfach für kurze Zeit ein Fenster, durch das wir auf den
düsteren Hintergrund des verbrauchten Alten schauen, vor dem das herbeigeredete
Neue sich umso leuchtender abhebt? Ist unser Dozent, der mehr Künstler als
Techniker sein will, ein Scout auf der Suche nach der letzten möglichen
Neuerung, ehe sich jener Teufelskreis schließt, bei dem der Endpunkt des Neuen
den Ausgangspunkt des Alten berührt? Oder stellt er nach dem Muster
werbewirksamer Rhetorik als eine neue, verbessernde Entdeckung vor, was
letztlich auf dem Urgrund verschmähter Vergangenheiten wurzelt?
Noch 36 Monate Zeit gibt unser Dozent seiner technisch realisierten Kunst,
aktuelle Fast-Food-Weltmusik klanglich zu veredeln. In solcher Zeitverkürzung
schwingt die Ahnung mit, wie dünn die Luft dafür geworden ist, fruchtbares
Neuland für die musikalischer Kultur zu finden. Aber selbst diese Erkenntnis ist
nicht mehr neu.
März
2008
- ©
by Kurt-Rolf Ronner
251 – Olympia in Beijing
Vor sieben Jahren hat das Internationale Olympische
Komitee die jetzt bevorstehenden Olympischen Spiele an Beijing vergeben.
Schon damals muß den betagten Berufsolympioniken die eigenwillige Auslegung
universaler Menschenrechte durch die chinesischen Regenten bekannt gewesen sein.
Die gegenwärtigen Ereignisse in Tibet und Drohungen gegenüber Taiwan werfen in
aller Schärfe die Frage auf, ob die seinerzeitige Wahl zu gutgläubig getroffen
worden war, oder ob es nicht eher – sagen wir mal – wirtschaftliche Interessen
gewesen sind, die mithalfen, über ein menschenrechtlich vermintes Feld im Osten
gütig hinwegzusehen.
Müssen aufgrund aktueller Ereignisse die olympischen Spiele abgesagt werden,
passend zum allegorischen Bild vom Kind, das aus Ungeschicklichkeit in den
Brunnen gefallen ist?
Für Ungeschicklichkeiten dieses Formats sind die Herren vom IOK denn doch zu
clever. Augen zu und durch, ist außerdem ihre Devise. Im Übrigen sind die
Brunnen der mit Sport und wirtschaftlichen Interessen verquirlten Politik für
den ernstlichen Fall des Kindes Olympia (und seiner Geschwister überall in der
Welt) bei weitem nicht tief genug.
April 2008
- ©
by Kurt-Rolf Ronner
252 – Die
Egalité-Elite –
Klassischer Musik
hängt das Odium des Elitären an; das scheint ihr nicht gut bekommen zu sein.
Die ihr zugeschriebenen Schwächen sind die Vornehmheit ihrer Präsentation; die
Jugendferne; poetische, subjektive Andichtung semantischer Bezüge; ihr Verharren
auf unverrückbaren Formen. Und nicht zuletzt ihr betagtes Publikum, das nach dem
Dafürhalten der Jüngeren auf einer nur noch eingebildeten sozialen Höhenstufe
steht und sich nicht mehr weiterentwickelt, aber gerade vom Konservieren einer
aristokratischen Ordnung ihre Wertmaßstäbe ableitet. Das bedroht einen der
tragenden Pfeiler der Französischen Revolution: die Egalité, die Gleichheit
aller Bürger.
Erst der Jazz und später der Pop spielen als Sammelbegriff gegenüber klassischer
Musik den schlagenden Vorteil aus, in Amerika Fuß gefaßt und die dortige Jugend
schon vor Woodstock begeistert zu haben. Die zeitgenössische Kulturindustrie hat
die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Chancen rasch erkannt und den Pop
zur Weltmusik schlechthin gemacht. Überall aus Radios, iPods und Kopfhörern
dröhnt sie der Jugend bei Tag und Nacht in die Ohren. Bereits Theodor W. Adorno
hatte hellsichtig von „auftrumpfender Trivialität“ und von „Befangensein in der
Oberfläche als zweifelsfreie Gewißheit“ gesprochen, mit der eine „feige Abwehr
jeglicher Selbstbesinnung verklärt“ werde. Daraus entstand um den ganzen
Erdkreis herum die leidenschaftliche Gier nach einer inzwischen Generationen
übergreifende Sucht, sich in allgegenwärtiger Gewöhnlichkeit geborgen zu fühlen.
Der Staat steht hinter dieser Entwicklung. Unter dem Begriff „Kulturleistung“
fördert er sie mit warmer Hand. Das läßt auf den politischen Willen schließen,
ein leicht zu führendes Substrat fügsamer Bürger mit bescheidenen Ansprüchen
heranzubilden, die bald beim läppischen Säuseln unausgebildeter Stimmchen, bald
bei dröhnenden Kakaphonien ihr großes Glück zu erfahren meinen. Ihr Nachwuchs
pflegt den Ehrgeiz, im Stadium vorzeitig einsetzender und verspätet endender
Pubertät Popstar zu werden.
Nun ist eine neue Entwicklung im Gange: Der Pop verdrängt die Klassik, indem er
deren lange innegehabten Status in veränderter Begrifflichkeit übernimmt. Das
fällt leicht, denn auch in der E-Musik gibt es bekiffte Musiker und neurotische
Dirigenten, die von ihren Agenten rund um den Globus gehetzt werden und feste
Plätze in der Klatschpresse besetzen. In einem Interview mit der Frankfurter
Allgemeinen verglich der Bayreuth-Sänger Endrik Wottrich das Operngeschäft
mit dem Radsport. Das gilt übrigens auch für das Sprechtheater mit seinen
Regisseuren, die eine real dargestellte Unterwelt auf die Bühne holen. Solchem
Paradigmawechsel widmete die Oboistin Blair Tindall 2005 ihr Buch, das den Titel
„Mozart in the Jungle: Sex and Drugs and Classical Music“ trägt.
Damit fällt die Aura geistiger Größe von der Klassik ab. Sie ist zur leichten
Beute derer geworden, die nach äußerlichen und deshalb auch einfacher zu
erreichenden Werten streben. Es entfällt das taktische Bemühen, die Klassik an
die Wand zu drücken und als elitären Gegenpol zu schmähen. Die Masse im Sinne
einer verhaltenskonformen Gesellschaft hat die Elite weitgehend dadurch besiegt,
daß jene sich ihrer einst innegehabten Autorität selbst entledigte.
Mai 2008
- ©
by Kurt-Rolf Ronner
253 - Sorgen –
Einst war Wilhelm Buschs der frommen Helene untergeschobene Sinnspruch »Wer
Sorgen hat, hat auch Likör« buchstäblich in aller Munde.
Der süß-sämige Kräuterbranntwein hat härter zupackende Nachfolger gefunden. Das
muß mit einer neuen Qualität der Sorgen zu tun haben. Sie sind größer und
drängender geworden, kommen früher, fallen später oder gar nicht mehr ab.
Nachtfüllendem Fun folgt die innere Leere bei Tage. Dort nistet sich allmählich
die dunkle Ahnung ein, daß Versäumnisse Verluste nach sich ziehen, die man nicht
wie E-Mails erinnerungslos löschen und in den elektronischen Orkus entsorgen
kann.
Vergangenheit ist out, Gegenwart in, Zukunft uncool. Diesem Leitsatz entsprechen
beispielsweise jene Jungmänner, wenn sie nur mit der temporären Partnerin, einem
Rucksack und ein paar Pappkartons als Umzugsgut von einer Wohnung zur nächsten
ziehen und die Bierdose, die sie eben leergetrunken haben, gleichgültig auf die
Straße werfen. Die kleinen Sorgen lassen sie hinter sich. Die noch kommenden
werden größer sein. Dann helfen auch die härter zupackenden Nachfolger des
Likörs nicht mehr.
Juni 2008
- ©
by Kurt-Rolf Ronner
254 - Schuldsuche
– Wer ein langes Leben lebt und dabei die Augen offen hält, begegnet vielen
Menschen und betrachtet viele Formen weltlichen Geschehens. Auffallend groß ist
die Zahl von Begegnungen mit glücklosen natürlichen und juristischen Personen,
gegen deren Ehrgeiz die Erfüllung keine Chance haben kann.
Um hohe Ziele trotz mangelnder Voraussetzungen zu erreichen, steigen sie –
Menschen wie du und ich oder auch Geschäftsleute, Sportfunktionäre und zur
Verdeutlichung bildlich beschrieben – unablässig auf die Zehenspitzen, um größer
zu scheinen und mehr von sich herzumachen. In ihrer Phantasie sind sie stets
schon dort, wo sie nie hinkommen werden.
Die Überanstrengung läßt schließlich nicht nur die Kraft der Zehen erlahmen,
sondern auch den Geist trüben, wenn die Zehenspitzensteiger – nunmehr mit einem
Bild aus der Welt des Sports verdeutlicht – beim Hochsprung die zu hoch gesetzte
Latte immer wieder reißen.
Dann schlägt die Stunde der Erklärungen. Die Zehen schmerzten wegen eines krumm
gewachsenen Nagels und behinderten den Absprung – oder war es das zuvor
getragene Schuhwerk? Genossen die Konkurrenten Startvorteile, war Ungleichheit
der Chancen als Folge ungünstiger Witterung im Spiel? Lenkte der neuliche Unfall
eines nahen Freundes oder das unverständliche Zögern eines Geschäftspartners von
der Konzentration auf den Gipfelsturm ab?
Ach, die Großen stellen sich nicht klüger an als ihre Sprößlinge, wenn sie
Klausur um Klausur vergeigen und stets Erklärungen dafür finden, daß der
Fehlschlag nicht im Ungenügen, sondern beim Schicksal lag.
Juli 2008
- ©
by Kurt-Rolf Ronner
255 - Nachahmen
– Der Kunstspekulant Emile Schuffenecker kopierte in den späten Jahren des 19.
Jahrhunderts Van-Gogh-Bilder. Er beherrschte dessen Maltechnik so hervorragend,
daß nur die absichtlich seinen Nachahmungen nicht hinzugesetzte Signatur das
Unterscheidungsmerkmal zum Original war. Hätte er die Nachahmungen als Originale
ausgegeben und verkauft, wäre er früher oder später entlarvt und als Fälscher,
ja als Betrüger gefänglich eingezogen worden.
Nun besitzt das Wiederholen eines Vorbilds oder fremden Tuns eine tief negative
Bedeutung. Es ahmt jemand etwas nach, wenn ihm selbst eigenschöpferische Kräfte
abgehen. Mag die Kunsttechnik noch so herausragend sein – das entstandene Werk
gilt sodann als unecht und wertlos.
Es gibt aber auch das Adjektiv „nachahmenswürdig“. Einem großen, überzeugenden
Vorbild zu folgen, ist kein sträfliches, sondern ein löbliches, heute eher in
Vergessenheit geratenes Tun.
In Berlin versuchten Architekten der Moderne lange, den Wiederaufbau des
Stadtschlosses mit historischer Fassade um jeden Preis zu verhindern. Es
entstehe ein Replikat, originalgetreu, aber eben nicht original. Unter
ihresgleichen bauten sie mächtigen Druck auf, um abtrünnig gesonnene Mitglieder
ihrer Bruderschaft auf Linie zu halten.
Der Streit um Kaisers Bart ist eine typisch deutsche, in Verbissenheit geführte
Beschäftigung, hinter der viele Fragezeichen stehen bleiben. Merkwürdig, daß
sich kein entsprechender Protest erhob, als die Dresdner Bürger Geld sammelten,
um ihre Frauenkirche so wiederherzustellen, wie sie vor der Kriegszerstörung
gewesen war. Beispiele gibt es außerhalb Deutschlands erst recht: das Kloster
Montecassino, ebenso wie das Warschauer Schloß, der Campanile in Venedig – alles
„Nachahmungen“ eines durch Kriege oder den Zahn der Zeit zerstörter
Baudenkmäler.
Es wäre interessant, zu ergründen, wann die sogenannten Star-Architekten sich
schämen, bedeutende Bauwerke nach originalen Plänen wiederherzustellen, deren
Bedeutung wichtig für eine Stadt, eine Region, ein Land und seine Bürger ist,
und wann sie sich mit Stolz an eine Rettungstat, eine Erneuerung eines
geschichtlich gewachsenen, großartigen Bauwerks machen, das sodann zu einer
Kopie seiner selbst wird.
August 2008
- ©
by Kurt-Rolf Ronner
256 - Transfiguration – Daß Nietzsches einst als verwegen beurteiltes Räsonnement
„Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ nicht in Vergessenheit
geriet, dürfte Thomas Mann zuzuschreiben sein. Er nutzte das
philologisch-philosophische Werk als Leitfaden für seinen Faustus-Roman. Aber
wer denkt schon noch daran!
Die Versuchung liegt nahe, allein mit dem veränderten Titel „Die Geburt von Rock
und Pop aus dem Geiste des Dionysos“ eine Diskussion anstoßen, die Betagtes in
moderne Bezüge kleidet.
Während die klassische Musik Apollon, dem zu Ordnung und Schönheit gebändigten
Gott des Lichts zuzuordnen ist, wären Rock und Pop seinem Gegenpart, dem
Dionysos zugehörig zu betrachten. Der Sohn des Zeus und der thebanischen
Königstochter Semele ist die hellenistische Leitfigur des Kults rauschhafter
Ausgelassenheit und Zügellosigkeit.
Dabei ist denn wohl doch ein Unterschied nicht zu verkennen. Dionysos verehrte
den Weinbau und das daraus gewonnene Gärgetränk. Die Rock- und Popjugend unserer
Tage kommt dem Rausch mit hämmernden Beats und namentlich mit Gebranntem weit
schneller, geistloser und gefährdender zur Volltrunkenheit.
September
2008 - ©
by Kurt-Rolf Ronner
257 – Verformung
unseres Zuhauses. – Der 1870 in Brünn geborene und 1933 in Berlin gestorbene
Architekt Adolf Loos litt schwer unter dem verspielten Jugendstil, der zuvor die
Ehrfurcht einflößende Wucht des Neobarocks abgelöst hatte. Er kämpfte für einen
sachlichen, auf Ornamente und Verzierungszeichen verzichtenden Stil. Einer
seiner Kampfschriften verlieh er den Titel „Ornament und Verbrechen“.
Architektur „muß brennen, stechen, schmerzen“, schrieben die Wiener noch vor
Adolf Nazi, und heute verkünden sie es erneut mit den potenten Verstärkern
vernetzter Interessengruppen.
Die Gegenwarts-Moderne hat die Bauhaus-Ideen der Architekten Walter Gropius und
Mies van der Rohe weit hinter sich gelassen. Inzwischen werden Wohnhäuser den
Geschäftshäusern in Industriearealen nachgebildet. Wenn in Berlins zu
sanierendem Neuen Museum die ausgebrannte und verwitterte Treppenhalle – dem
geistigen Zentrum des Baus – wiederhergestellt werden soll, wird dem Original
kein Respekt gezollt. Betonwände, die an einen Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg
erinnern, sollen der Nachwelt die Präsenz des 21. Jahrhundert vor Augen führen.
Bürgerliche Ästhetik und vertraute Urbanität gelten als spießig, aus der Zeit
herausgefallen. Architekten, deren Name zu Statussymbolen stilisiert worden sind
und von staatlichen Behörden zu eigener Imagepflege gerne in den Dienst genommen
werden, sind auch mit den Richtlinien der UNESCO kaum zu beeindrucken. Selbst
die Provinz will sich mit Nachahmereien der Städte die Aufmerksamkeit von
Investoren sichern. Damit – als Beispiel – das restaurierte Schloß im Basler
Vorort Binningen nicht zu hübsch und historisch aussehe, ließ die
Gemeindeverwaltung gegen den Protest der Einwohner die Sichtblende einer
Betonmauer zu, die an eine Lärmschutzwand an einer Autobahn erinnert und den
Treppenaufgang zum Eingang unkenntlich macht. Wer ist für diese monströse
Verformung unseres „Zuhauses“ verantwortlich?
Dieter Bartetzko ist der Antwort nahe, wenn er in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung (F.A.Z. vom 16. September 2008) schreibt: „Die Entscheidungen [...]
fallen jenseits der Architektur, in jenen ökonomischen Schlachten, an denen
Architekten mittun, wenn sie nicht gerade einen Beitrag für die Biennale
vorbereiten.“
Oktober
2008 - ©
by Kurt-Rolf Ronner
258 –
Vordemokratisch – In den kontrovers geführten Diskurs um den Wiederaufbau
des Berliner Stadtschlosses mit historischer Fassade hatte sich auch das
Sonntagsmagazin der schweizerischen Bild-Zeitung (12. Oktober 2008)
eingeschaltet. In einem doppelseitigen Beitrag über die temporäre Kunsthalle von
Dieter Rosenkranz wird zu dessen Person vermerkt: „Wie andere Berliner auch,
sympathisiert Dieter Rosenkranz nicht mit dem Wiederaufbau der historischen
Schloßfassade aus vordemokratischer Zeit.
Die Rosenkranz stellvertretend zugeschobene Botschaft an den Leser ist klar
erkennbar: die DDR habe die Zwingburg der Hohenzollern mit besten
menschenfreundlichen Absichten weggesprengt. Jetzt drohe mit der zu erstellenden
Barockfassade des Humboldt-Forums ein reaktionärer Rückfall in die
undemokratische Vorgeschichte.
Wer sich diese Folgerung zu eigen macht, dürfte Goethes Dichtungen nicht mehr
lesen, denn das deutsche Nationalidol verfaßte seine Schriften in
vordemokratischen Zeiten. Unter diesem Aspekt verhielte sich bekennend
konsequent, wer auch Kunstmuseen nicht mehr betritt, weil die Gemälde und
Statuen der Maler und Bildhauer einen vordemokratisch ansteckenden Bazillus
freisetzen könnten.
November
2008 - ©
by Kurt-Rolf Ronner
Göttlicher Auftrag?
258 - Machtvorstellungen – Der christliche Glaube ist bei der westlichen
Menschheit nicht mehr verankert genug, um auch noch unter den Kerzen der
Weihnachtsbäume, die schon vorzeitig zu brennen begannen, der im Oktober
erfolgten Steinigung des 13-jährigen Mädchens aus Somalia zu gedenken. Die
Empörung Einzelner war ein Strohfeuer, ihr Ruf nach diplomatischen Sanktionen
rührend in seiner Einfalt.
Im semitischen und islamischen Kulturkreis ist die lapidatio vereinzelt noch
immer das Höchstmaß einer Strafe für schlimmste Vergehen geblieben. Archaische
Vorstellungen und ein fundamental gestörtes Verhältnis zur Sexualität
definieren, welches Vergehen nur mit der Steinigung gesühnt werden kann. Im
Hintergrund wirken religiöse Machtvorstellungen, die erst von der Erde ins
Universum und weiter an die Adresse eines in der kollektiven Vorstellung
existierenden Propheten projiziert werden. Von dort als Vollmacht abgelesen,
wird die gewünschte Handlung schließlich als göttlicher Auftrag ausgeführt.
Die Hexenverbrennungen und kirchlich gesegneten „Instrumente“ liegen,
geschichtlich betrachtet, nicht allzu weit zurück, Teufelsaustreibungen mit
Todesfolge finden im Verborgenen noch immer statt. Unsere westliche
Gegenwartsgesellschaft hat sich von den religiösen Zwangsvorstellungen, die
solchem Denken und Handeln zugrunde liegen, nicht wirklich befreit. In den USA,
deren Bürger nach eigenem Dafürhalten in „God’s own country“ leben und in
gemeinschaftlicher „In God we trust“-Versicherung ruhen, sind schmerzvolle
Exekutionen auch für Unschuldige, wie sich hinterher nicht selten herausgestellt
hat, nicht ausgeschlossen. Ebensowenig sind die derzeit offen und versteckt
geführten Kriege oder auch das unrühmliche Lager Guantanamo
Gegenwarts-Beispiele, mit denen wir uns den somalischen Richtern moralisch nicht
allzu überlegen fühlen sollten.
Die Menschheit – mindestens im Großen und Ganzen – ist angesichts schlechter
Vorbilder nicht reifer, nicht erwachsener und nicht unabhängiger von
emotionalisierenden Abstrakta geworden, die so rasch in vernichtenden Sadismus
umschlagen.
Dezember
2008 - ©
by Kurt-Rolf Ronner
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