3 Methode, Daten und Korpus3.1 Ziel und DatenerhebungstechnikTarone (1994: 325) bemerkt treffend, dass im Bereich des Fremdspracherwerbs mehrere Forschungsmethoden möglich und gültig sind, wobei jede Methode jeweils für ein bestimmtes Forschungsziel geeignet ist. Auch Kasper / Dahl (1991: 245) schliessen ihren Überblick zu Studien im Bereich interlanguage pragmatics mit der Bemerkung, "a good method is one that is able to shed light on the question(s) under study". Da ich der Meinung bin, dass sich auch in der Verstehensforschung die Datenerhebungstechnik (und ev. auch die detaillierte theoretische Ausrichtung) dem Untersuchungsinteresse unterordnen soll, wiederhole ich zuerst kurz noch einmal die wichtigsten Ziele dieser Untersuchung. Die Studie soll:
Es ist verhältnismässig leicht, in Gesprächen zwischen Nicht-MuttersprachlerInnen Unterbrüche und Verstehensprobleme festzustellen (s.a. Varonis / Gass 1985: 73). Es war deshalb nicht nötig, den Untersuchungspersonen eine spezielle Aufgabe oder ein spezielles Thema vorzugeben, die Verstehensprobleme hervorrufen würden. Insbesondere liegt es nicht im Interesse der Studie, die ProbandInnen aus einer vorgefertigten Liste auswählen zu lassen (z.B. durch Multiple-Choice oder durch Rating mit Skalen) und auf diese Weise die möglichen Daten einzuschränken. Die Methode wird sein, die verschriftlichten Aufnahmen von Gesprächen unter AsylbewerberInnen auf Deutsch oder Englisch systematisch zu durchsuchen, wo Verstehensschwierigkeiten manifest werden. Dieses Korpus wird dann im Hinblick auf die Frage nach Mustern untersucht, wie HörerInnen mit ihren Verstehensproblemen umgehen und wie die Antwort der SprecherInnen aussieht. Gespräche unter Nicht-MuttersprachlerInnen sind in der Schweiz relativ häufig. Gerade unter weitgehend marginalisierten Ausländergruppen wie AsylbewerberInnenn oder ArbeitsmigrantInnen bilden z.B. Gespräche mit Asylsuchenden aus anderen Ländern oft die einzige Gelegenheit oder auch Notwendigkeit, Deutsch zu sprechen. 3.2 Setting und Ablauf der AufnahmenDie neunzehn Personen, auf denen diese Untersuchung beruht, sind alle Asylsuchende, die entweder zur Zeit der Aufnahme im Winter 1999 im Durchgangszentrum Weissensteinstrasse in Bern wohnten oder im Frühling 2000 den TAST-Kurs im Schulrestaurant ‚La Cultina‘ besuchten. Das Kürzel ‚TAST‘ bedeutet ‚Tagesstruktur für Asylsuchende‘. Der Verein TAST Bern bietet verschiedene Kurse für junge AsylbewerberInnen an. Im Durchgangszentrum Weissensteinstrasse fragte ich zu jener Zeit anwesende Asylbewerber, ob sie bereit seien, mit einer Person ihrer Wahl im leerstehenden Schulzimmer ein Gespräch zu führen, das aufgenommen werden sollte. In der ‚La Cultina‘ durfte ich freundlicherweise in der etwas ruhigeren Zeit nach dem Mittagsbetrieb während der Arbeitszeit der Befragten Aufnahmen machen. Die Teilnahme war auch hier freiwillig und die Gespräche fanden in einer ruhigen Ecke des nach der Mittagspause leeren Restaurants statt. Am Ende der Aufnahme erhielten die Teilnehmenden zur Entschädigung einen Kugelschreiber und durften zwei Tribolo-Lose auswählen. Nach einer kurzen Beschreibung von möglichen Themen (Fremdsprachenkenntnisse, Kino, Lieblingsessen) und der Anmerkung, dass ich wenn möglich nicht an der Konversation teilnehmen würde, wurde die Aufnahme gestartet. Die Gespräche wurden mit einem Stereomikrofon auf Minidisc aufgezeichnet. Ich war während der ganzen Aufnahme zugegen, versuchte mich jedoch so weit wie möglich aus der Konversation herauszuhalten. Direkte Fragen an mich versuchte ich kurz zu beantworten und eventuell das Gespräch wieder zu beleben, wenn es nach kaum einer Minute Dauer abzubrechen drohte. Hinsichtlich Verkehrssprache wurden keine Auflagen gemacht. Zehn der Paare wählten aber Deutsch und nur zwei eine andere Sprache (Englisch). Ein ‚natürlicher‘ Ablauf eines Gesprächs lässt sich nicht planen oder befehlen. So muss man berücksichtigen, dass bei jeder Aufnahme eine ‚Interviewsituation‘ entstehen kann, die einem sehr starren Frage-Antwort-Schema entspricht und die nicht als natürliche Diskussion betrachtet werden kann. 3.3 KorpusDie Auswahl der Teilnehmenden erfolgte in einer ersten Stufe in einer einfachen Zufallswahl und in einer zweiten Stufe nach dem sogenannten ‚Schneeballverfahren‘ (nach der Einteilung von Schnell et al. 1993: 285). Das Schneeballverfahren bezeichnet die oben beschriebene Methode, die Teilnehmenden selbst die Auswahl ihrer GesprächspartnerInnen vornehmen zu lassen. Obwohl es nicht um die sozialen Netzwerke der Asylsuchenden ging, wo das Schneeballverfahren üblicherweise angewandt wird, wollte ich so weit wie möglich sicherstellen, dass die Personen sich gegenseitig mögen, so dass sich ein Gespräch entwickeln kann. Anschliessend an die Aufnahmen ermittelte ich mit Hilfe eines standardisierten Fragerasters einige Daten der Befragten, so z.B. sonstige Fremdsprachenkenntnisse, Herkunft, Dauer des Aufenthalts in der Schweiz, etc. (zu den Profilen vgl. Kap. 3.5,) Ein zusätzliches Interview mit dem Ko-Leiter des Durchgangszentrums Weissensteinstrasse, Herr Manzone, und mit Herrn Ritz, dem Betriebsleiter der ‚La Cultina‘, ergänzen die Gespräche der Asylsuchenden. Die Aufnahmen wurden nach GAT (s. nächster Abschnitt und Anhang A) transkribiert und die soziologischen Variabeln in einer Tabelle zusammengestellt. Alle Namen der Beteiligten wurden anonymisiert, entweder nach der freien Vorgabe der AsylbewerberInnen selbst oder nach einem zufälligen Frauen- oder Männernamen aus ihrem Land. Der Untersuchung liegen insgesamt zwölf Gespräche zwischen zehn und ca. zwanzig Minuten zugrunde (s. Tab. 1). Die erste Aufnahme (DZ1DiAv) war als Pretest gedacht, wird aber trotzdem zur Illustration einiger Phänomene hinzugezogen. Die letzten vier Gespräche im Juni dienen dazu, von z.T. gleichen TeilnehmerInnen wie beim ersten Mal im Februar in einer zweiten Aufnahme Daten zu erhalten. Die Beteiligten wurden gebeten, am Ende des ‚La cultina‘-Kurses Rückschau auf den Kurs und Ausblick auf ihre Zukunft zu halten. Dort war die Aufnahmedauer nur zwischen 5‘ – 10‘, je nachdem ob sich ein Gespräch entwickelte oder nicht. Aufstellung der zugrundeliegenden Aufnahmen
Tabelle 1. Übersicht über die Aufnahmen. 3.4 Transkriptionssystem (GAT)Das gesprächsanalytische Transkriptionssystem (GAT) wurde 1998 von einer Gruppe von gesprächsanalytisch arbeitenden LinguistInnen in Deutschland erarbeitet, um der Vielfalt der in der Literatur verwendeten Systeme und somit der schwierigen Lesbarkeit entgegenzuwirken (Selting et al. 1998). Bei der Aufbereitung von Daten vollzieht sich immer eine Reduktion des Informationsgehalts der ursprünglichen Daten (des realen Gesprächs in seiner ganzen Komplexität) in Richtung eines Gerüsts, das für die Analyse angefertigt wird. Eine erste Stufe, die zwischen ursprünglichen Daten und Analyse steht, ist die Ton- oder Videoaufnahme. Von diesem reduzierten Abbild wird dann eine weitere Reduktion vorgenommen, indem die Gespräche verschriftlicht werden. Die stufenweise Reduktion von Information lässt sich an folgendem Modell von Brinker / Sager (1996: 35) darstellen:
Abbildung 1. Informationsreduktion bei der Datenaufbereitung Durch die Reduktion wird also das für die Analyse relevante Material ausgewählt. Die Transkription besteht in einem Kompromiss zwischen Genauigkeit und Informationsdichte sowie dem vertretbaren Zeitaufwand. Für die vorliegende Arbeit orientierte ich mich an den Konventionen des ‚Basistranskripts‘ nach dem GAT, die abgesehen von Grunddaten eine flexible zeitweise Erweiterung auf das ‚Feintranskript‘ ermöglichen, wo es nötig ist (sog. "Zwiebelprinzip"). Das GAT orientiert sich in der Verschriftlichung an der "literarischen Umschrift". So werden nicht-standardsprachliche Begriffe in Anlehnung an die standarddeutsche Orthographie transkribiert (Selting et al. 1998). Die genauen Konventionen nach dem GAT befinden sich im Anhang A. Die GAT-Konventionen werden in der vorliegenden Arbeit um einem wichtigen Punkt erweitert. Da die GAT-Normen für einsprachige Gespräche unter Deutschen zusammengestellt wurden, ist keine Notation für Einzellexeme aus anderen Sprachen vorgesehen. Da dies aber in meinem Korpus sehr häufig vorkommt, werden v.a. englische Ausdrücke in Sternchen eingerahmt und orthographisch transkribiert (Bspw. *subjects* statt ‚sabtschekts‘). Analoges gilt für das Vorkommen von deutschen Wörtern in den zwei englisch ablaufenden Gesprächen. 3.5 Herkunfts- und Sprachprofile der Teilnehmenden3.5.1 PersonenübersichtIn folgender Tabelle werden alle Teilnehmenden dargestellt und nach Herkunftsland alphabethisch geordnet.
Tabelle 2. Personenübersicht Aus der Tabelle 2 ist ersichtlich, dass Personen aus der Kosova mit Albanisch als Muttersprache die zahlenmässig grösste Gruppe bilden, gefolgt von Äthiopien, Irak und Sri Lanka, sowie von Afghanistan, Algerien, Sierra Leone und Somalia. Das zahlenmässige Übergewicht von Albanischsprechenden entspricht durchaus der aktuellen asylpolitischen Lage im Jahr 2000. Das Ungleichgewicht zwischen Frauen und Männern ergibt sich nicht nur aus den unterschiedlichen Zahlen bei den Asylgesuchen (Frauen ca. 1/3 der Asylsuchenden), sondern ist in der Tatsache begründet, dass das Durchgangszentrum Weissensteinstrasse ein reines Männerzentrum ist. Die Aufenthaltsdauer der Befragten in der Schweiz schwankt zwischen acht Monaten und ca. drei Jahren. Die einzige Ausnahme bildet Chang, der schon fünf Jahre in der Schweiz ist. Normalerweise wird über die Asylanträge innerhalb eines Jahres entschieden, wobei es nicht selten vorkommt, dass Personen verhältnismässig lange mit noch ungewissem Asylstatus in einem Durchgangszentrum oder in einer Gemeinde leben. 3.5.2 SprachenübersichtDie Tabelle 3 verdeutlicht noch einmal die Vielfalt von Sprachen, die im Durchgangszentrum Weissensteinstrasse und in der ‚La Cultina‘ zusammenkommen.
Tabelle 3. Mutter- und Zweitsprachen. Lüdi / Py (1986: 26) verwehren sich gegen den Begriff der ‚Muttersprache‘, weil er missverständlicherweise auf die Sprache der Mutter verweise, statt auf die Sprache, die man zuerst erwerbe und welche die ‚starke‘ Sprache bilde. Stattdessen schlagen sie den Terminus ‚Erstsprache‘ vor. Tatsächlich besteht bei ‚Muttersprache‘ eine gewisse Unsicherheit. Wenn der Begriff hier trotzdem für ‚Erstsprache‘ verwendet wird, so aus zwei Gründen: In Anlehnung an die Unterscheidung im angelsächsischen Raum zwischen ‚native speaker‘ (NS) und ‚non-native speaker‘ (NNS) wurde parallel dazu im deutschsprachigen Raum die Dichotomie der ‚MuttersprachlerInnen‘ (MS) und der ‚Nicht-MuttersprachlerInnen‘ (NMS) eingeführt. Der zweite Grund ist die Tatsache, dass im Gespräch mit den Asylsuchenden auch nach der ‚Muttersprache‘ gefragt wurde, da es sich bei ‚Muttersprache‘ um einen geläufigen, bei ‚Erstsprche‘ aber um einen weniger geläufigen Begriff handelt. 3.6 Das Durchgangszentrum Weissensteinstrasse und die ‚La Cultina‘Das Durchgangszentrum an der Weissensteinstrasse in Bern bietet auf zwei Etagen Schlaf- und Aufenthaltsräume für 84 Männer. Mit kleineren Putzarbeiten im Rahmen des Zentrums haben die Bewohner die Gelegenheit, das Taggeld von Fr. 9.50 um Fr. 2.50 auf Fr. 12.- aufzubessern. Für die Wäsche und das Kochen sind die Asylbewerber selbst verantwortlich. In den Aufenthaltsräumen im Zentrum stehen pro Stockwerk ein Fernseher mit Satellitenanschluss und ein Tischfussballkasten zur Verfügung. Die Sprachenvielfalt innerhalb des Durchgangszentrums Weissensteinstrasse ist beträchtlich: Ein Fragebogen in einer früheren Studie zu Mutter- und Zweitsprachenkenntnisse unter 25 Befragten ergab elf verschiedene Muttersprachen von Albanisch und Arabisch bis Plar und Soso. Die Zahl der verschiedenen Zweitsprachen reichte mit 20 beinahe an die Anzahl der befragten Personen heran. Tagsüber erledigt ein kleines Team die Büroarbeiten und steht für die Bewohner zur Verfügung, während am Abend und in der Nacht eine Einzelperson als Nachtwache für einen geordneten Betrieb sorgen soll. Zum Angebot im Durchgangszentrum Weissensteinstrasse gehört auch ein Deutschunterricht, der von der zentrumseigenen Deutschlehrerin zweimal pro Woche durchgeführt wird. Die ‚La Cultina‘ ist eine Schulküche, in der jeweils 12 Asylsuchende eine 6-monatige Anlehre machen können. Zusammen mit einem Team von professionellen KöchInnen halten sie den Mittagsbetrieb des öffentlichen Restaurants am Eigerplatz in Bern aufrecht. Kurze Lektionen in Berufskunde und Deutsch gehören zum Wochenprogramm der Asylsuchenden. Das seit Januar 1999 bestehende Schulrestaurant ‚La Cultina‘ ist ein Fachkurs im Angebot des Vereins TAST Bern, der neben Fachkursen in verschiedenen Berufssparten auch Basiskurse anbietet, die vor allem dem Aufbau von Deutschkenntnissen und der Standortbestimmung dienen. |