Delhi
15. Februar 2001
Nach einer Woche in Delhi hatten wir das pakistanische
und iranische Visum bereits in der Tasche. Wir kamen in den Genuss der
neuen Visumsrichtlinien für Pakistan, wonach ausländische Touristen
bevorzugt behandelt werden sollen. Ein Visum ist zwar entgegen
verschiedener Gerüchte immer noch erforderlich, doch kann es neu auch
direkt an der Grenze bzw. am Flughafen beschafft werden. Da wir nicht überzeugt
waren, dass diese Weisung und die erforderlichen Papiere und Stempel
bereits bis zu den pakistanischen Grenzbeamten vorgedrungen waren,
beschlossen wir, das Visum trotzdem in Delhi ausstellen zu lassen. Tatsächlich
wurden wir sehr freundlich behandelt und hatten noch am selben Tag ein
neues Touristenvisum für Pakistan im Pass. Kosten für Schweizer: 120
Rupees oder knapp 5 Franken. Kosten für Holländer (nur so nebenbei, da
diese Tatsache bei unseren holländischen Freunden grosse Empörung auslöste):
2150 Rupees oder ca. 80 Franken. Seit kurzem ist auch kein
Empfehlungsschreiben der eigenen Botschaft mehr erforderlich, was auch
einiges an Umtrieben und Kosten erspart. Allerdings brauchten wir ein
solches Schreiben für das iranische Visum und suchten zu diesem Zweck
die Schweizer Botschaft auf. Das Botschaftsviertel in Delhi ist ziemlich
eindrücklich. Die meisten Botschaften oder Konsulate befinden sich
entlang einer grosszügig angelegten Allee in Neu Delhi, und die
einzelnen Länder versuchen sich mit möglichst pompösen Bauten und
schnittigen Wagen gegenseitig zu übertrumpfen. Die Schweizer Botschaft
liegt etwas abseits und erinnert eher an ein typisch schweizerisches
Amtsgebäude. Wir hatten uns darauf gefreut, Schweizerdeutsch zu reden
und Schweizer Zeitungen zu lesen, doch wir bekamen keine Schweizer zu
Gesicht und die Zeitungen waren alle mindestens zwei Wochen alt. Wir
wurden aber sehr freundlich behandelt und mussten nicht lange auf unser
Empfehlungsschreiben warten. Die Preise waren sehr schweizerisch, wir
bezahlten für dieses Stück Papier 30 Franken. Auf das iranische Visum
leider nur ein Transitvisum für sieben Tage - mussten wir eine
Woche warten, aber sonst lief auch hier alles reibungslos. Soviel zu
unserem Botschaftsrundgang in Neu Delhi.
Unsere Bleibe in Delhi ist das Tourist Camp im Norden
der Stadt. Abgesehen davon, dass es billig ist, lässt sich nicht viel
Gutes darüber berichten. Am unglaublichsten ist der Lärm. Der Camping
befindet sich an einer Haupttransitroute gleich gegenüber des
Interstate Bus Terminals, wo rund um die Uhr (!) Busse ankommen und
abfahren. Dazwischen wird gehupt, an die Aussenseite der Busse geklopft
und geschrien. Früher gab es ein beliebtes Tourist Camp im Zentrum von
Delhi, doch dieses ist leider momentan geschlossen. Der Transport in
Delhi ist mühelos, man schnappt sich einfach eine der unzähligen
Rikshaws, verhandelt kurz über den Preis, muss sich im ersten
Augenblick an die waghalsige Fahrweise gewöhnen, stellt mit Schrecken
fest, dass in Delhi kaum ein Auto unterwegs ist, das nicht verbeult ist,
steckt unter Umständen eine Weile im Verkehrsstau inmitten gewaltiger
Abgase, wird sehr wahrscheinlich an den Kreuzungen mit Bettlern jeder
Altersklasse konfrontiert, die in einem merkwürdigen Kauderwelsch auf
einen einreden mama papa roma bambino no chappati baby buca
doch irgendwie gelangt man immer ans Ziel.
Riëlle und Jeroen hatten vor ihrer Reise unter
Freunden und Verwandten Geld gesammelt, das sie unterwegs in soziale
Projekte investieren wollten. Da wir nun schon eine Weile mit ihnen
unterwegs sind, bekamen wir einen Einblick in ihre Projektarbeit und
beteiligten uns zum Teil auch daran. Ihre Devise lautet, nie einfach nur
Geld überreichen, sondern das Geld gezielt in benötigte Gegenstände
und Hilfsmittel investieren. In Delhi hatten sie sich vorgenommen, ein
Projekt für Leprakranke zu suchen. Über eine Sammelbüchse in einem
Hotel kamen wir auf die Indian Leprosy Association in Delhi und
damit unweigerlich zu Dr. Agrawal, dem Generalsekretär der
Organisation. Dr. Agrawal empfing uns in seinem einfach ausgestatteten Büro.
Ein älterer, kleiner Mann, der vor der lebensgrossen Fotografie von
Gandhi, die hinter seinem Schreibtisch hing, noch kleiner gewirkt hätte,
wenn seine Erscheinung insgesamt nicht so würdevoll gewesen wäre. Es
sei ihm zwar nicht anzusehen, doch er sei siebenundsechzig, sagt er. Er
spricht leise, in einwandfreiem indischem Englisch. Sein Rezept: nur
eine Mahlzeit pro Tag, jeweils am Abend, und in der hinduistischen
Tradition natürlich streng vegetarisch. Und dann erzählt er uns von
seiner Organisation und der täglichen Arbeit mit den Leprakranken
Delhis.
Die Indian Leprosy Association ist eine national tätige
Organisation, die hauptsächlich von Freiwilligenarbeit und Spenden
lebt. Dr. Agrawal erklärt uns, dass Lepra in Delhi selbst sehr selten
sei. Die Leprakranken, die hier leben, seien fast alle aus anderen
Gebieten Indiens zugewandert, in der Hoffnung auf ein besseres Leben in
der Stadt. Geschätzt wir ihre Zahl auf 6000. Die Leprosy Association
betreut zum heutigen Zeitpunkt ca. 1300 Leute, die an Lepra leiden.
Diese Betreuung umfasst vieles: Für die obdachlosen Leprakranken ist
zweimal pro Woche in einer bestimmten Strasse Delhis ein Team von
Helfern unterwegs, das elementare medizinische Hilfe leistet, wie das
Versorgen der Wunden. Es werden Decken verteilt und - falls die
Geldmittel zur Verfügung gestellt werden - spezielle Dreiräder oder
Gehhilfen ausgegeben, um die Mobilität der zum Teil stark verstümmelten
Leprakranken zu erhöhen. Dr. Agrawal spricht auch von den
Schwierigkeiten und Rückschlägen, die er im Zusammenhang mit solchen
Hilfeleistungen erlebt hat. So hat er mehr als einmal feststellen müssen,
dass ein Dreirad oder ganze Berge von verteilten Decken von den
Betroffenen gar nie benutzt, sondern augenblicklich weiterverkauft
wurden. Für ein Dreirad muss ein Patient heute eine Erklärung
unterschreiben und sich verpflichten, das Fahrzeug nicht zu veräussern.
Ein weiteres Projekt der Indian Leprosy Association umfasst den Aufbau
von Kinderheimen für gesunde Kinder leprakranker Eltern. Lepra ist
nicht vererbbar, doch besteht für die Kinder ein beträchtliches
Ansteckungsrisiko. Die Erfahrungen mit diesen Institutionen sei positiv,
meint Dr. Agrawal, und die Eltern seien in den meisten Fällen damit
einverstanden, die Kinder wegzugeben. Natürlich könnten sie sie regelmässig
besuchen. Die Leprosy Association leistet ausserdem viel Aufklärungsarbeit
zum Thema Lepra. Helfer gehen in die Armenviertel, um den Leuten zu erklären,
was Lepra ist und wie sie die ersten Anzeichen erkennen können. Sie
versuchen den Leuten klarzumachen, dass Lepra in den Anfangsstadien
heilbar ist. Es wird eine kostenlose medizinische Untersuchung
angeboten, doch Dr. Agrawal meint betrübt, davon würde leider nur sehr
spärlich Gebrauch gemacht. Den Grund dafür sieht er in der Tatsache,
dass sich diese Leute oft nicht erlauben können, einen ganzen Tag für
eine medizinische Untersuchung aufzubringen, da sie Tag für Tag
ausschliesslich damit beschäftigt sind, ihren Lebensunterhalt zu
bestreiten. Der Erfolg von Rehabilitierungsprojekten für geheilte
Leprakranke liesse leider auch zu wünschen übrig, erzählt Dr. Agrawal.
Die Angst vor der Krankheit Lepra, wie sie jahrhundertelang geschürt
wurde, sei in der Gesellschaft noch zu stark verankert. Niemand wolle
einen Leprakranken selbst einen geheilten - aufnehmen. Die andere Möglichkeit
für einen ehemaligen Leprapatienten wäre die Aufnahme einer selbstständigen
Tätigkeit. Doch dies scheitere nur allzu oft an einem
Minderwertigkeitskomplex, den die meisten Leprakranken während ihrer
Krankheit - vor allem aufgrund der Reaktionen ihrer Mitmenschen -
entwickelten. Dr. Agrawal spricht von all diesen Schwierigkeiten und
wirkt zwischendurch ziemlich ernüchtert. Trotzdem will er weitermachen
und hofft, dass das Bewusstsein der Gesellschaft in kleinen Schritten
verändert werden kann.
Riëlle und Jeroen entscheiden sich dafür, zehn Dreiräder
zu spenden. Ein je nach Verstümmelung des Patienten individuell
angefertigtes Dreirad kostet 2100 Rupees, ca. 80 Franken. Mit einer in
Indien wohl seltenen Effizienz und Entschlossenheit greift Dr. Agrawal
augenblicklich zum Telefon, um einem Arzt den Auftrag zu erteilen, zehn
Leprakranke zu identifizieren, die ein solches Fahrzeug auch wirklich
benötigen und die zudem vertrauenswürdig genug sind, um es nicht
weiterzuverkaufen. Nur zwei Tage später, an einem Samstag, erscheint er
auf dem Tourist Camp, mit einer vollständigen Liste dieser Personen,
bestehend aus je einem Steckbrief mit Passfoto und unterschriebener Erklärung.
Die Unterschrift ist in den meisten Fällen nur ein Fingerabdruck.
Gleichzeitig will er uns in die Fabrik mitnehmen, wo die Dreiräder
hergestellt werden, und in unserer Anwesenheit den Auftrag erteilen. Am
Montag sitzen wir wieder bei ihm im Büro. Die Zeremonie für die Übergabe
der Dreiräder ist für Mittwoch angesagt. Gerade hat er von der
Sozialministerin von Delhi, die auch anwesend sein wird, die Bestätigung
erhalten. Wieder sind wir sprachlos angesichts dieser Effizienz. In
einer ruhigeren Minute finden wir Zeit für persönlichere Themen. Wir
fragen ihn, ob er verheiratet sei und ob er Kinder habe. Ja, sagt er,
seine Frau und er hätten eine Tochter. Sie habe wie er den Doktortitel
in Psychologie und sei Dozentin an der psychologischen Fakultät der
Universität von Delhi. Auf unsere Frage, ob sie verheiratet sei, huscht
ein Schatten über sein Gesicht. Nein, noch nicht, aber er müsse
unbedingt einen Ehemann finden für sie. Sie ist dreissig. Wir fragen
nicht weiter, das Thema scheint ihm Sorgen zu bereiten. Dr. Agrawal ist
ein sehr religiöser Mensch. Er erzählt uns von seiner Berufung, sein
Leben den Armen und Kranken zu widmen. Der Allmächtige habe ihm dieses
Geschenk gegeben und er wolle es so gut wie nur möglich nutzen. Er
spricht vom Allmächtigen und zuerst ist uns nicht klar, ob er damit
unseren christlichen Gott oder seinen hinduistischen Gott meint. Später
sagt er, dass dies für ihn keine Rolle spiele, dass der Glaube an sich
das wichtigste wäre.
Am Mittwoch um zwei Uhr holt uns Dr. Agrawal in der
Ambulanz seiner Organisation ab und wir fahren zum Innenministerium von
Delhi, wo die Übergabe stattfinden soll. Christoph ist leider schon
seit zwei Tagen mit über 39 Grad Fieber im Bett, dafür kommen die Holländer
Hilda und Nico mit, die wir schon aus Goa kennen und die inzwischen auch
auf dem Tourist Camp in Delhi gelandet sind. Wir werden in einen Raum
geführt, bekommen Wasser und eine Cola serviert und warten auf die
Ankunft der Dreiräder und der Sozialministerin von Delhi, die auch
Vorsitzende der Leprosy Association ist. Mit uns im Raum sind noch mehr
Leute, doch wie so oft in Indien haben wir keine Ahnung, welche Rolle
sie in dieser Sache spielen. Zwischendurch ergattern wir einen Blick
durch den Türspalt nach draussen auf den Hof und stellen fest, dass die
Dreiräder inzwischen angekommen und mitsamt den Leprapatienten in einer
Reihe aufgestellt worden sind. Nach knapp einer Stunde geht plötzlich
ein Raunen durch den Raum, jemand sagt Come come, SHE has arrived,
und alle rennen nach draussen und wir hintendrein. Und dann geht alles
sehr schnell. Die Ministerin steigt aus ihrem Regierungsfahrzeug und
rennt hinüber zu den Leprapatienten, die erst seit wenigen Minuten auf
ihren neuen Fahrzeuge sitzen und den Eindruck erwecken, als wüssten sie
noch nicht so recht, was sie von den Dingern halten sollen. Während es
ringsum für Presse und Fernsehen klickt und surrt, wechselt die
Ministerin ein paar Worte mit jedem einzelnen von den Leprakranken. Wir
wollen eigentlich auch Fotos machen, doch werden wir immer wieder zur
Ministerin hinüber gescheucht, da wir doch auch auf den Aufnahmen sein
müssen. Das ist aber nicht so einfach, da sich inzwischen eine grosse
Menge gebildet hat wer weiss, wie sich all diese Leute plötzlich
Eintritt ins schwerbewachte Ministerium verschafft haben; wahrscheinlich
sind es die Minister selber und wir unsere Ellbogen einsetzen müssen,
um wie geheissen unsere Köpfe neben dem der Ministerin in die Kameras
zu strecken. Nur Nico gelingt es, längerfristig auf die Seite der
Reporter zu gelangen und mit seiner Videokamera das ganze Theater
festzuhalten. Als die Ministerin am Ende der Reihe angelangt ist,
marschiert sie strammen Schrittes in ihr Büro und wir wieder alle
hinterher. Dort setzt sie sich hinter ihren Schreibtisch und
unterschreibt in wenigen Sekunden ein paar wichtig aussehende Briefe,
die ihr von verschiedenen Seiten hingehalten werden. Dann findet sie
kurz Zeit, sich uns zuzuwenden, erzählt etwas davon, wie wichtig es
sei, dass Menschen sich gegenseitig helfen in Delhi, Indien und auch
weltweit, dann springt sie unverhofft auf, läuft nach draussen und als
wir die Tür erreicht haben, sehen wir gerade noch, wie ihr
Regierungsfahrzeug mit Blaulicht um die Ecke biegt.
Wir stehen eine Weile verwirrt da und fragen uns, worum
es denn jetzt eigentlich gegangen war: um die Ministerin, um uns, um die
Leprosy Association oder um die Leprakranken. Wir besinnen uns darauf,
dass es uns in der ganzen Sache doch eigentlich um letztere geht,
weshalb wir die erstbeste Gelegenheit ergreifen, um nach draussen zu
gehen und uns diesen Leuten zuzuwenden. Ihnen ist von der
Lepraorganisation je ein Helfer zugeteilt worden, um ihnen die
Handhabung des Dreirads zu erklären und bei den ersten
Fortbewegungsversuchen beizustehen. Insgesamt sind es sieben Männer und
drei Frauen, die jüngste dreiundvierzig, der älteste siebzig. Die
Verständigung ist einmal mehr schwierig, doch der eine Mann, der recht
gut Englisch spricht, erzählt uns, dass er früher einen guten Job
hatte, doch dass es damals normal war - und daran hat sich offenbar bis
heute nicht viel geändert -, jemanden bei den ersten Anzeichen von
Lepra ohne Entschädigung einfach zu entlassen. Die meisten der
Patienten haben im Laufe der Krankheit einen oder beide Füsse verloren,
zum Teil mussten sie das ganze Bein amputieren, und auch die Hände sind
in den meisten Fällen stark deformiert. Das Dreirad wird ihnen in
erster Linie zu einer grösseren Mobilität verhelfen und es ihnen
vielleicht sogar ermöglichen, einer selbständigen Tätigkeit, zum
Beispiel einer Verkaufstätigkeit, nachzugehen.
Mit den Visa in den Händen, einem erfolgreich
abgeschlossenen Projekt und einem wiederauferstandenen Christoph steht
unserer Weiterreise nichts mehr im Weg. Unser nächstes Ziel ist
Amritsar, wo wir uns noch einmal den Goldenen Tempel anschauen wollen,
bevor wir Indien nach einem halben Jahr endgültig den Rücken kehren.
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