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Northward Bound
2. Februar 2001

Die Zeit in Goa war herrlich. Agonda ist ein kleines, an einem zwei Kilometer langen, fast menschenleeren Strand gelegenes Dorf, das bisher noch nicht vom Tourismus überrannt wurde. Dieses Jahr war es der grosse Renner unter den „Overlandern“. Zu Spitzenzeiten zählten wir nicht weniger als zwanzig Fahrzeuge, die sich am Strand entlang verteilten. Erstaunlicherweise wurde uns das Strandleben gar nicht langweilig. Wir frassen uns durch die Bücher, mit denen wir uns in Ahmedabad eingedeckt hatten, gingen auf den Fisch- und Gemüsemarkt nach Chaudi, dem nächstgelegenen grösseren Ort, absolvierten unser tägliches Fitnessprogramm (Schwimmen um den ca. ½ km draussen im Meer gelegenen Felsen und/oder Joggen am Strand), feierten Wiedersehen und neue Bekanntschaften, genossen die grosse Auswahl an Fisch in den kleinen Restaurants oder aus der eigenen Bratpfanne - kurz, wir genossen für einmal das immobile Dasein. Trotzdem, nach einem Monat hatten wir genug Sonnenuntergänge über dem Meer gesehen und fanden es an der Zeit, uns zusammen mit Riëlle und Jeroen auf den Heimweg zu machen. Das mag komisch klingen, doch als wir Goa verliessen und langsam wieder Richtung Norden fuhren, fühlten wir uns wirklich „homeward bound“.

Unser nächstes kurzfristiges Ziel jedoch war die Fünfzehnmillionenstadt Bombay, seit 1996 offiziell Mumbai genannt, um der kolonialistischen Vergangenheit zu entfliehen. Für uns gehört Bombay zu denjenigen Orten auf diesem Planeten, die einen mystischen Namen tragen, deshalb wollen wir es auch weiterhin Bombay und nicht Mumbai nennen. Das Städtefieber hatte uns gepackt und verdrängte alle unsere Bedenken, die eine solche Grossstadt betreffend Verkehrschaos und anderen Unannehmlichkeiten aufkommen lassen könnte. Mutig stürzten wir uns ins Gewühl und steuerten unaufhaltsam aufs Zentrum zu. Schon 30km davor wurde die Luft dicker, eine eigenartige Nebelglocke senkte sich über uns und der Geruch Bombays drängte sich in unser Auto und in unsere Nasen. Ein volles Tram im Hochsommer, dazu die Dämpfe einer riesigen Müllhalde und eines schon länger nicht mehr ausgemisteten Kuhstalls dürften der Wirklichkeit am nächsten kommen. Für die folgenden zwei Tage würde uns dieser Geruch nicht mehr loslassen. Der Verkehr bewegte sich langsam durch die Aussenviertel Bombays. Je näher wir dem Zentrum kamen, desto lichter wurde die Autoschlange, desto breiter die Strassen und wuchtiger die Gebäude. Die dreirädrigen Rikshaws waren plötzlich verschwunden und ersetzt worden durch kleine, allgegenwärtige schwarz-gelbe Taxis. Andere Reisende hatten uns davor gewarnt, wie schwierig es wäre, in Bombay einen Stehplatz zu finden. Wir landeten schliesslich in einem merkwürdigen Hotel in der Nähe des Gateway of India, dem kolonialistischen Wahrzeichen Bombays. Das Hotelgebäude hatte bestimmt schon bessere Zeiten gesehen und wie durch ein Wunder das gewaltige Erdbeben in Gujarat, in dessen Epizentrum wir uns anfangs Dezember noch befunden hatten, überlebt. Wir hörten von dieser Naturkatastrophe aus der Zeitung, gespürt hatten wir an unserem Campingspot ca. hundert Kilometer südlich von Bombay nichts. Die Bilanz des Bebens ist mit mindestens 30‘000 Toten verheerend. Jeden Tag werden es mehr und überall wird gesammelt für die Überlebenden (Nachtrag: gerade haben wir in der Zeitung gelesen, dass diese fleissigen Sammler alles andere als die Erdbebenopfer im Kopf haben. Einmal mehr sind die Geier los, um sich am Elend anderer zu bereichern. Wir sind froh, nur zehn Rupees - 35 Rappen - gespendet zu haben.) Doch wie gesagt, unser Hotel blieb vom Beben unversehrt und wir hatten eine Bleibe für die Nacht. Parkplatz war keiner vorhanden, doch von mehreren Seiten wurde uns beteuert, dass es sicher wäre, das Auto in der kleinen Nebenstrasse abzustellen. Ein uniformierter Wächter überzeugte uns schliesslich davon. Erstaunlich war, wieviele Leute plötzlich Geld von uns wollten. Vom offensichtlich drogenabhängigen Jungen, der uns aus seiner Sicht zum Hotel gebracht hatte, über das bettelnde kleine Mädchen und den Sadhu, der uns unbedingt segnen wollte, bis zum Hotelmanager (!), der uns plötzlich auch noch die hohle Hand hinstreckte. Sind wir gopfriedstutz ein Kiosk, fragten wir uns ernsthaft und drehten den Schalter für unsere Nächstenliebe um einige Stufen zurück. Den Rest des Tages verbrachten wir damit, durch die belebten Strassen und Gassen zu spazieren und uns von der Vielfalt der Ware, die hier überall zum Verkauf angeboten wird, zumindest optisch verführen zu lassen. Der eine hatte auf einer kleinen Decke am Boden liebevoll seine batteriebetriebenen Mini-Ventilatoren angeordnet, der andere faltete unaufhörlich Zeitungstüten für seine Erdnüsse und noch einer versuchte seine hoffnungslos verstaubten Sonnenbrillen wieder sehtauglich zu machen. Je ein halber Quadratmeter Boden, auf dem diese Leute ihre Ware ausgebreitet hatten, die ihnen ihren Lebensunterhalt garantieren sollte. Wie bloss, fragen wir uns. Fährt man mit dem Auto durch Bombay, stehen an jeder Kreuzung ein halbes Dutzend Strassenverkäufer, die komischerweise immer alle dasselbe anbieten und sich so gegenseitig massiv konkurrenzieren. So verkaufen an der einen Kreuzung plötzlich alle dieselben kleinen Decken, an der nächsten könnte man sich kiloweise mit Trauben eindecken und an der übernächsten wimmelt es nur so von bunten Ballonen. Ob sich diese Verkaufstaktik wohl bewährt?

Ein Höhepunkt unseres Aufenthalts in Bombay war der Kinobesuch. Bombay, oder besser gesagt Bollywood, ist das Zentrum der indischen Filmindustrie. Der wichtigste Bestandteil eines Hindi-Films ist die Melodramatik, an der nicht gespart wird. Wir hatten Glück und konnten Karten ergattern für „Kuch Khatti, Kuch Meethi“, ein Zwillingsdrama, das gerade erst angelaufen und bereits ein Riesenrenner war. Obwohl wir kein Wort verstanden, konnten wir der Handlung erstaunlich gut folgen und waren so begeistert von dem Film, dass wir gleich auch noch den Soundtrack kauften (ein Hindi-Film ohne plärrende Musik und Tanz wäre wie die Streetparade ohne Techno) und seither wie die indischen Traktoren, die ihre Musikanlage immer auf Hochtouren laufen lassen, durch die Gegend kurven.

Am Nachmittag des nächsten Tages beschlossen wir, aus dem Zentrum hinauszufahren und ca. 20km ausserhalb an einem See zu übernachten. Doch während das Zentrum Bombays wirklich übersichtlich ist, sind die Aussenviertel ein endloses Labyrinth, in dem wir uns hoffnungslos verloren. So wurde es bereits dunkel und von dem in einem Park gelegenen See sahen wir weit und breit nichts. Wir beschlossen, unser Glück in einem einigermassen wohlhabend aussehenden Wohnviertel zu versuchen und stellten uns einfach auf einen freien Platz. Zuerst schien sich überhaupt niemand für uns zu interessieren, doch nach einer Weile tauchte ein uniformierter Wächter auf und gab uns zu verstehen, dass wir hier nicht bleiben konnten. Gut, damit hatten wir gerechnet. Glücklicherweise kam in diesem Augenblick ein aufgeweckter Junge auf seinem Kamikaze-Fahrrad vorbei, der ziemlich gut Englisch sprach und uns zu einem anderen Parkplatz ganz in der Nähe führte. Auch da war ein Wächter, doch unser Helfer wechselte ein paar Worte mit ihm und wir hatten unseren Schlafplatz. Wild campieren in Bombay ist also auch möglich. Am anderen Morgen brachen wir früh auf, verloren uns auf der Suche nach den Bollywood Filmstudios einmal mehr im Vororts-Dschungel und verliessen schliesslich Bombay fluchtartig Richtung Norden.

Der kurze Abstecher hatte sich mehr als gelohnt. Natürlich ist es unmöglich, in zwei Tagen einen tiefgehenden Eindruck eines solchen Molochs zu gewinnen. Wir wurden nonstop überwältigt von kurzen Schnapschüssen, die wir im nachhinein zu einem Bild zusammenzufügen versuchen. Ein schwieriges Unterfangen, denn die einzelnen Schnapschüsse sind oft so gegensätzlich, dass sie partout nicht unter einen Hut zu passen scheinen. Da sind die riesigen Slums, an denen wir vorbeifuhren, der Vater, der sein kleines Mädchen zum Betteln zu uns hinüberschickte, als wir neben der Brückenunterführung stoppten, in der er mit ein paar anderen Familien wohnte. Und da ist der Pizza Hut an einer der Strandpromenaden Bombays, wo fast so viele Handys zur Schau gestellt wie Pizzas gegessen werden. Wir lassen es bei diesen Schnapschüssen bleiben.

Nach Bombay war wieder Fahren angesagt, denn irgendwie müssen die ca. 1500km nach Delhi, wo wir unsere Visa für Pakistan und den Iran besorgen müssen, schliesslich zurückgelegt werden. Doch das Fahren auf indischen Strassen ist nie langweilig, denn nach jeder zweiten Kurve wartet eine Überraschung, sei es in Form eines auf unserer Strassenseite entgegenkommenden Lastwagens oder in Form eines gemütlich dahertrottenden Elefanten. Zu erwähnen sind auch die kleinen Grüppchen von Jain-Pilgern in ihren weissen Tüchern, mit Mundschutz, eingewickelten Füssen und einem Besen versehen, um ja nicht aus Versehen eine Mücke zu verschlucken oder auf eine Ameise zu treten. Die Jain-Anhänger haben panische Angst davor, ein Lebewesen umzubringen. Nicht so die indischen Autofahrer, die mit ihrem Fahrstil eine echte Gefahr darstellen. Auf der Strecke Bombay-Indore zählten wir pro hundert Kilometer mindestens fünf Wracks. Die meisten davon waren hoffnungslos überladene Lastwagen, die in den Kurven oder beim Überholen wohl einfach umkippten. Ein Unfall ereignete sich direkt vor unseren Augen, als wir in einem Restaurant zu Mittag assen. Ein mit Gasflaschen beladener Lastwagen kollidierte frontal mit einem Jeep; die Flaschen flogen durch die Gegend und eine landete nur gerade einen Meter von unserem am Strassenrand geparkten Landcruiser entfernt... Auch die Strassenschranken sind noch da und das Verhandeln um den tatsächlich zu bezahlenden Zoll nimmt kein Ende. Im Staat Madhya Pradesh, wo es überhaupt eine Frechheit ist, für die katastrophalen Strassen noch Geld zu verlangen, galten wir plötzlich nicht mehr als Jeep, sondern als Taxi („you have a taxi number plate!“) und hatten daher einen höheren Zoll zu entrichten. Um uns solche Diskussionen zu ersparen, versuchen wir möglichst gar nicht mehr anzuhalten, was wiederum bei den Indern grösste Entrüstung auslöst. Am Abend eines aufregenden Fahrtages schlagen wir uns wenn immer möglich irgendwo in die Büsche und tanken neue Energie bei einem Glas Whisky und einem feinen Abendessen.

 

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