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Ein ganz normaler Tag in Indien...
8. Dezember 2000

Morgens um 3 Uhr wachen Christoph und ich auf und hören Stimmen. Kommt jemand? Die Stimmen sind ziemlich weit weg, doch der Wind trägt sie zu uns herüber. Es sind Männerstimmen, doch sie scheinen nicht näher zu kommen. Trotzdem können wir nicht mehr richtig schlafen und stehen mit der Sonne auf. Rielle und Jeroen, die mit ihrem Landrover neben uns stehen, kriechen bald darauf auch aus dem Bett. Sie haben nichts gehört. Vielleicht waren es Moslems bei ihrem nächtlichen Ess- und Trinkgelage. Es ist Ramadan. Wir kochen Wasser für Tee und Kaffee, zum Frühstück gibt es Omeletten und „Toasties“ à la Hollandaise. Lecker! Danach ein kurzer Blick auf die Karte; heute wollen wir Gujarats Salzwüste erreichen, die „Little Rann of Kutch“. Aber zuerst müssen wir noch einmal richtig einkaufen gehen. Wir schauen auf der Karte nach und peilen die Kleinstadt Chanasma an. Tatsächlich scheint es hier alles zu geben: Gemüse, Brot, Eier, Cola (für Whisky-Cola) - und sogar Erdnüsse. Doch wenn das nur alles so einfach wäre... Wir fahren in den Ort ein, und natürlich sind sofort alle Augen auf uns gerichtet. Wir sind noch nicht einmal ausgestiegen, als bereits eine ganze Traube von Männern (es sind immer nur die Männer, denn die Frauen arbeiten!) unsere Fahrzeuge belagern. „Excuse me, excuse me“, so bahnen wir uns unseren Weg durch die Menge. Jeroen beschliesst, im Auto zu warten, um zu verhindern, dass ihre beiden Hunde während unserer Abwesenheit geneckt werden. Ein mutiges Unterfangen, denn die Erfahrung hat uns gezeigt, dass es viel anstrengender ist, im Auto zu bleiben, als auszusteigen. Bleibt man – und vor allem frau – im Auto, besteht die Gefahr, einfach nur angestarrt zu werden. Draussen kann man sich wenigstens einigermassen frei bewegen. Als erstes steuern Christoph, Rielle und ich den Gemüsestand an. Der Stand ist leer, dahinter sitzt eine Frau, das ist schon vielversprechend, denn meistens sind die Verkäuferinnen ehrlicher als Verkäufer, d.h. sie verlangen von uns keine „Touristenpreise“. Meistens... „Namaste, ek kilo patates – how much?“ 5 Rupees? OK, do kilo. Inzwischen ist der Gemüsestand nicht mehr leer, hinter uns drängeln sich bestimmt 20 Inder (Männer!), um auch noch einen Blick zu erhaschen. Im ersten Moment sind wir wieder einmal entnervt, obwohl wir solche Situationen eigentlich schon kennen. Ich frage einen Mann, der ein bisschen Englisch spricht und ganz sympathisch wirkt, ob die denn plötzlich auch alle Gemüse kaufen wollen. „No no, you know, you new model here, they never seen.“ Natürlich müssen wir lachen und finden das ganze plötzlich wahnsinnig komisch. So ergeht es uns dauernd in Indien, im einen Augenblick sind wir völlig genervt und „ready to kill“, im nächsten erscheint uns alles so komisch und irgendwie auch absolut faszinierend, dass wir einfach lachen müssen. Dieses ständige Wechselbad der Gefühle, von einem Extrem ins andere, kann unglaublich anstrengend sein. So, den Gemüsekauf haben wir erfolgreich hinter uns gebracht und gehen nun, begleitet von unseren Fans, zum Brotladen, danach zum Eierladen und schliesslich zum Erdnussstand. Ein Kilo Erdnüsse wollen wir, doch der Pascha hinter dem Stand rührt keinen Finger. Also nehmen wir die Sache selbst in die Hand, legen einen Kilostein auf die Waage und füllen die andere Seite mit Erdnüssen. Das scheint ganz ok zu sein, am Ende wirft der zum Leben erweckte Verkäufer noch ein paar Erdnüsse obendrauf, wir bezahlen und gehen zurück zu den Autos, wo uns Jeroen schon sehnsüchtig erwartet. Während Rielle das Gemüse hinten in ihrem Landrover verstaut, drängt sich die ganze Schar ums Auto, um ja nichts zu verpassen. Als wir schliesslich wegfahren, winken uns alle fröhlich zu, wir winken zurück und kommen uns vor wie Filmstars.

Wir fahren weiter. Auf der Suche nach der richtigen Strasse in die Salzwüste fragen wir ein paar Männer. Mit wichtiger Miene weisen sie uns in irgendeine Richtung, schicken uns sozusagen tatsächlich in die Wüste. Wenig später werden wir von einer Strassenschranke aufgehalten. Rielle und Jeroen können gerade noch durchschlüpfen, doch für uns ist es zu spät. Strassenzoll, wir kennen es langsam. 59 Rupees? Nein, viel zu viel! No, no, I meant 16, you know, only little English. So so... trotzdem, immer noch zuviel (auf dem Schild, auf dem die Tarife auf Hindi vermerkt sind, haben wir nämlich die Zahl 16 nirgends entdeckt). Der Schrankenwärter grinst und meint: Ah, only one way, no return, then it is 11 Rupees. Wir können seiner Logik nicht ganz folgen, aber es wird uns zu blöd und so legen wir die 11 Rupees hin. Aber nur gegen ein offizielles Ticket, sonst wandert das Geld gleich in seine eigene Tasche. Schon ist es Zeit, etwas Kleines zu essen. Wir halten etwas abseits von der Strasse. Während wir Tomatensalat essen und Erdnüsse knabbern, wird die Umgebung langsam auf uns aufmerksam. Doch die meisten wagen sich nicht gleich zu uns heran, sondern fahren ganz gemächlich vorbei und schauen von weitem. Nur ein feister Herr auf einem Motorrad braust direkt auf uns zu und bleibt ca. einen Meter vor uns stehen. Er brabbelt etwas, das wir leider nicht verstehen. Als er merkt, dass wir ihn nicht verstehen, dreht er um, beziehungsweise versucht umzudrehen, wobei er mit dem Motorrad mehrmals gegen den Landcruiser stösst. Schliesslich ist er weg und wir sitzen verdutzt da. Nach einer Weile packen wir zusammen und fahren weiter. Beim Fahren mit zwei Fahrzeugen muss der hintere Wagen immer auf der Hut sein, da die Fussgänger, die wir passieren, häufig auf die Strasse rennen, um dem ersten Fahrzeug nachzuschauen. Als wir im nächsten Dorf einfahren, merken Rielle und Jeroen, dass sie einen Platten haben, ausgerechnet hier, mitten auf dem bevölkerten Marktplatz. Die Magnetwirkung funktioniert auch hier und im Nu stehen wieder ca. 50 Männer ums Auto herum und lassen uns gerade genug Platz, um den Wagen zu heben und den kaputten Reifen zu wechseln. Trotz allem müssen wir über diese absurde Situation lachen und Rielle und ich können es uns nicht verkneifen, Fotos von dieser Szene zu machen. Das erregt natürlich neues Aufsehen und plötzlich wollen alle auf dem Bild sein. Die indischen Männer sind unglaubliche Kindsköpfe! Den kaputten Reifen nehmen wir mit, denn nachdem keiner unserer in Indien geflickten Reifen länger als einen Tag gehalten hat, haben wir das Vertrauen in die indische Reifenflickkunst verloren. Wir fahren weiter Richtung Salzwüste, als uns plötzlich ein äusserst beunruhigendes, schepperndes Geräusch im Radkasten des Landrovers zum Anhalten zwingt. Wir halten an, gehen ein paar Schritte zurück und finden das Übel: die Schraube, die die Bremse am Rad festhält, liegt vor uns im Staub. Das Problem ist rasch beseitigt – wenn es nur immer so offensichtlich wäre...

Wir sind schon mitten auf dem ausgetrockneten Salzsee, als die Piste plötzlich bei der kleinen Behausung einer Familie aufhört, die hier im kleinen Stil Salz gewinnen. Wir fahren ein Stück weiter, müssen aber bald feststellen, dass der Grund bei weitem nicht so trocken ist, wie es den Anschein macht. Gerade noch rechtzeitig können wir uns in grossem Bogen aus dem Lehm retten. Wir folgen ein paar vereinzelten Spuren und kommen bald zu einer kleinen Oase, die uns als Campingplatz geradezu optimal erscheint. Hier wird bestimmt niemand vorbeikommen, ausser vielleicht ein paar Kamelen oder wilden Eseln. Einfach herrlich ist es hier! Bei einem Lagerfeuer lassen wir die heutigen Erlebnisse Revue passieren. Später holt Christoph seine echte Rajasthani Gitarre hervor und wir singen bis spät in die Nacht hinein.

Was wird uns morgen wohl alles erwarten? Ein weiterer ganz normaler Tag in Indien...

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