Religionen in Geschichte und Gegenwart
Ein Informationssystem zu den heutigen Religionen
und ihren Ursprung
Die Qumran-Rollen
200 v. Chr. - 68 n. Chr.
Sammlung hebräischer und aramäischer Handschriften, die seit 1947 in mehreren Höhlen Jordaniens, im Gebiet um Khirbet Qumran am Nordwestufer des Toten Meeres, gefunden wurden. Dabei handelt es sich um über 600 Leder- oder Papyrusschriftrollen, die in unterschiedlichem Zustand erhalten sind. Die Handschriften werden Mitgliedern einer davor unbekannten jüdischen Ordensgemeinschaft zugeschrieben und umfassen Gesetzestexte, Gesangbücher, Bibelauslegungen und apokalyptische Schriften. Darüber hinaus fand man zwei der ältesten bekannten und fast völlig unbeschädigten Abschriften des Buches Jesaja, Teile des Buches Daniel, Reste mehrerer Psalmenhandschriften, althebräische Fragmente des Buches Levitikus, hebräische und aramäische Fragmente der deuterokanonischen Bücher sowie Texte aus einigen Büchern der Apokryphen und der Pseudepigraphen in Orginalsprache. Diese Texte, die im hebräischen Kanon der Bibel nicht enthalten, sondern bloss aus frühen griechischen, syrischen, lateinischen und äthiopischen Fassungen bekannt waren, sind das Buch Tobias, Jesus Sirach, Teile von Henoch sowie Levis Testament.
Die sieben Hauptschriften wurden von Beduinen entdeckt und später von der hebräischen Universität in Jerusalem sowie von der israelischen Regierung erworben.
Nach dem ersten Fund folgte die wissenschaftliche Erforschung der benachbarten Höhlen unter der Schirmherrschaft der jordanischen Behörde für Altertümer, der vom Dominikanerorden betriebenen École Biblique et Archéologique von Jerusalem und des palästinensischen Archäologischen Museums (des heutigen Rockefeller Museums).
Es stellte sich heraus, dass die Manuskripte dem Bibliotheksbestand der jüdischen Ordensgemeinschaft entstammten, die in dem in der Nähe der Fundstelle gelegenen Ort Khirbet Qumran angesiedelt war. Paläographischen Nachweisen zufolge sind die meisten der Urkunden in der Zeit zwischen etwa 200 v. Chr. und 68 n. Chr. entstanden. Letztere Datierung wird zusätzlich durch archäologische Forschungsergebnisse bestätigt, da Ausgrabungen an den Fundorten ergaben, dass diese 68 n. Chr. geplündert wurden. Es wird angenommen, dass die jüdische Gemeinschaft durch ein römisches Heer unter dem späteren Kaiser Vespasian ausgeraubt wurde, das eigentlich unterwegs war, um einen im Jahr 66 n. Chr. eingeleiteten jüdischen Aufstand zu unterdrücken. Die Urkunden wurden vermutlich zwischen 66 und 68 versteckt.
Den schriftlichen Aufzeichnungen zufolge verstand sich die Ordensgemeinschaft von Qumran als eine Art Vorbild für ein Haus Israel, das sich auf das bevorstehende Gottesreich und den Tag des letzten Gerichts vorbereitete und auf Gütergemeinschaft gegründet war. Ihre Mitglieder wurden einer zwei- bis dreijährigen Probezeit unterzogen und gemäss des Grades ihrer Reinheit eingestuft. Die geistlichen Führungssämter wurden von drei Priestern, unterstützt von zwölf Laien-Hilfsgeistlichen (Kirchenältesten) bekleidet, wobei die Verwaltung der einzelnen „Ortsgruppen“ einem bischofsähnlichen Aufseher zukam. Dieser unterstand wiederum einem dem gesamten Orden vorstehenden „Erzbischof“ oder „Prinzen“. Das Studium des Gesetzes sowie des ersten Abschnitts der hebräischen Bibel war für alle Ordensmitglieder verpflichtend, wobei die korrekte Auslegung der Bibel durch eine Reihe von geistlichen Monitoren, die „richtige Erklärer“ bzw. „Lehrer des Rechten“ genannt wurden, jeweils von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Das Ende ihrer Ära sollte entsprechend dem Glauben der Ordensgemeinschaft mit dem Erscheinen eines neuen Erklärers und Propheten (Deuteronomium 18, 18) zusammenfallen. In einer der Schriftrollen sind Einzelheiten über einen letzten Krieg zwischen den „Söhnen des Lichtes“ und den „Söhnen der Finsternis“ enthalten.
Ähnlichkeiten zwischen den in den Schriftrollen beschriebenen Glaubensformen und Praktiken und denjenigen, die den Essenern von dem jüdisch-hellenistischen Religionsphilosophen Philon von Alexandria und dem jüdischen Historiker Flavius Josephus zugeschrieben wurden, legten nahe, dass die Qumran-Gemeinschaft mit diesen in Verbindung stand oder identisch war. Weitere Beweise für eine derartige Gleichstellung finden sich in den Werken des römischen Schriftstellers Plinius des Älteren, der berichtet, dass die Essener zu seiner Zeit in der Gegend um Khirbet Qumran lebten.
In den Schriftrollen finden sich Andeutungen über Personen und Ereignisse aus der hellenistischen und frühen römischen Periode der jüdischen Geschichte. So wird z. B. in einem Kommentar zum Buch Nahum, der sich offenbar auf ein von Josephus überliefertes Ereignis aus dem Jahr 88 v. Chr. bezieht, ein bestimmter Demetrios erwähnt, der syrische König Demetrios III., und Alexander Jannäus, der König der Hasmonäer (Makkabäer). Ähnliche, wiederholt auftauchende Anspielungen über einen verfolgten „Lehrer des Rechten“ wurden mit unterschiedlichen religiösen Persönlichkeiten in Verbindung gebracht, wie z. B. mit dem letzten rechtmässigen jüdischen Hohepriester Onias III., der 175 v. Chr. abgesetzt wurde, ferner mit den Führern der Makkabäer, dem Hohepriester Mattathias und dessen Sohn, dem Heerführer Judas Makkabäus, sowie mit Menahem, dem Anführer der Zeloten aus dem Jahr 66 n. Chr. Siehe auch Makkabäer.
Die biblischen Texte, die sich unter den Schriftrollen befanden, sind um Jahrhunderte älter als die in der traditionellen Masora enthaltenen und bestätigen teilweise die in der griechischen Septuaginta und anderen antiken Fassungen überlieferten Schriften. Folglich sind sie für die Rekonstruktion der ursprünglichen Texte der hebräischen heiligen Schriften von unschätzbarem Wert.
Inhaltlich stimmen die Qumran-Rollen zum grossen Teil mit den Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments sowie mit älteren Teilen des Talmud überein. Ferner bestehen Parallelen zu iranischen Anschauungen, die beweisen, dass das Judentum zwischen den beiden Testamenten stark aus dieser Richtung beeinflusst war.
Von besonderer Bedeutung sind die vielen gedanklichen und sprachlichen Verbindungen, die zwischen den Schriftrollen und dem Neuen Testament bestehen. In beiden wird das nahe Bevorstehen des Gottesreiches hervorgehoben, die Notwendigkeit unmittelbarer Busse sowie die Vernichtung des Bösen. Auch bezüglich der Taufe durch den Heiligen Geist und der Beschreibungen der Gläubigen als „Auserwählte“ und „Kinder des Lichtes“ weisen beide Schriften Übereinstimmungen auf (zu Entsprechungen in der Bibel siehe etwa Titus 1, 1; 1 Petrus 1, 2; Epheser 5, 8). Derartige Parallelen sind vor allem deshalb interessant, da sowohl die Mitglieder der Qumran-Gemeinschaft wie auch Johannes der Täufer zur selben Zeit und in diesem Gebiet lebten. Obwohl die Schriftrollen Parallelen zur Botschaft Jesu aufweisen, finden sich hier keine Entsprechungen zu den ausgeprägt christlichen Lehren wie z. B. der Inkarnation Gottes, dem Sühneopfer Christi und der Erlösung durch den Tod am Kreuz.
Einige der Texte aus den Qumran-Rollen wurden von der American School of
Oriental Research, der hebräischen Universität und der jordanischen Behörde
für Altertümer veröffentlicht. Gegenwärtig befindet sich der Grossteil der
Schriftrollen in Jerusalem, im „Shrine of the Book“, im Rockefeller Museum
und im Museum der Behörde für Altertümer in Amman. Seit ihrer Entdeckung
entstanden eine Vielzahl von Übersetzungen der Schriftrollen sowie zahlreiche
Kommentare.